Syrien: Krieg auf dem Rücken des Volkes

Weltnetz.tv sprach mit der Journalistin Karin Leukefeld, die sich seit Anfang Juli in Damaskus aufhält
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weltnetz.tv
Länge: 
00:15:10
Personen: 

Das Interview wurde via Skype aufgenommen am 28.07.2012

 

TRANSKRIPT:

Weltnetz.tv: Frau Leukefeld, man hört immer wieder Medien-Berichte darüber, dass die Rebellen inzwischen ganze Viertel der syrischen Hauptstadt eingenommen, also befreit hätten. Wie wirkt sich diese Befreiung auf die syrische Bevölkerung aus? Wie steht die syrische Bevölkerung zu den bewaffneten Aufständischen?

Karin Leukefeld: Vorab muß ich sagen, dass diese Darstellung nicht ganz richtig ist. Damaskus ist ja eine Millionenstadt, im Zentrum leben ungefähr zwei Millionen, im Umland nochmal ungefähr vier Millionen Menschen. Die Aufständischen haben sich vor allen Dingen in den Ortschaften um Damaskus herum niedergelassen. Dort haben sie sich Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften und dem Militär geliefert. In der vergangenen Woche gab es mit diesem sogenannten „Damaskus Vulkan“ eine Art Sturm auf Damaskus. Da sind die Rebellen durchaus in den inneren Kreis von Damaskus vorgedrungen, haben Polizeistationen und Sicherheitskräfte angegriffen.

Auch in der Gegend, in der ich wohne, hat man diese Kämpfe ganz deutlich gehört. An einem Tag waren die Schusswechsel so nah, dass ich nicht aus dem Haus gehen konnte. Aber durch eine massive militärische Operation sind diese Gruppen zurückgedrängt worden. Dabei hat das syrische Militär heftig - mit Panzern und Artillerie - zugeschlagen. Es heißt, auch aus Hubschraubern sei geschossen worden. Dies kann ich aus eigener Anschauung nicht bestätigen. Aber es hat praktisch in den letzten 10 Tagen massive Militäroperationen um Damaskus herum gegeben. Seit letzten Samstag ist die Stadt nun aber relativ ruhig geworden ist. Die Menschen versuchen, zum Alltag zurückzukehren. Die Märkte haben wieder geöffnet, der Verkehr fließt wieder – sehr viel weniger als sonst. Aber dazu muß man auch sagen, dass zum derzeitigen Zeitpunkt Ramadan ist.

Welchen Rückhalt haben die Aufständischen in der Bevölkerung, genauer: in der sunnitischen Bevölkerung?

Ich frage die Leute ja nicht, welchem Glauben sie angehören, wenn ich mit ihnen spreche... Ich wohne zur Zeit in einem Familienhotel und dieses Hotel war zunächst fast leer, aber als diese Angriffe begannen, wurde es voll. Viele Menschen haben sich mit ihren Kindern und mit ein bisschen Hausrat in Sicherheit gebracht, weil sie nicht wussten, wie es weitergeht. Diese Menschen haben keine Sympathie für die bewaffneten Aufständischen. Auch wenn sie durchaus der Meinung sind, dass sich politisch etwas ändern muss in Syrien, lehnen sie doch das gewaltsame Vorgehen ab. Im Umland von Damaskus, z.B. in Ortschaften wie Jdeideh Artuz, Qutseiya oder Tadmoun, gibt es vermutlich Unterstützung für diese bewaffneten Kräfte, denn sonst könnten sie sich in diesen Gebieten gar nicht so niederlassen, wie sie es getan haben. Wobei man sich auch fragen muss, ob die Bevölkerung sie freiwillig unterstützt. Man hört immer wieder von massiver Einschüchterung. Zum Beispiel, dass die Menschen ihre Geschäfte schließen sollen. Es gibt Aufrufe an die Bevölkerung, sie sollen zu den Waffen greifen und sich den Aufständischen anschließen. Dazu hat ein Familienvater zu mir gesagt: „Ich habe ein Küchenmesser, was soll ich zu irgendwelchen Waffen greifen! Das lehne ich ab. Die Sicherheit meiner Familie ist das Allerwichtigste.“

Ich wollte noch einmal genauer nachfragen, wie es um die ethnischen und religiösen Minderheiten in Syrien momentan steht. In Damaskus leben etwa 15 Prozent Christen wie hat sich ihr Leben seit Beginn der offenen Konflikte verändert?

Ich kenne sehr viele Christen in Syrien und habe auch christliche Freunde hier – viele von ihnen leben in der Altstadt von Damaskus, um Bāb Tūmā herum, und dort ist es eigentlich ruhig. Die Menschen versuchen, ihrem Alltag nachzugehen. Vor zwei Tagen war ich dort und habe mit einem jungen Mann gesprochen, der mich frage: „Was halten Sie von der Berichterstattung aus dem Ausland?“ Ich habe geantwortet: „Ich habe den Eindruck, viele wissen nicht genau, was hier geschieht.“ Er war praktisch den Tränen nah und hat gesagt: „Wir wissen gar nicht, was wir machen sollen, um dem Ausland mitzuteilen, wie es uns hier eigentlich geht.“ Also man fühlt sich isoliert, missverstanden, den Konflikt im Land falsch dargestellt. Ich glaube, eine große Sorge vieler Menschen besteht darin, dass sie den Eindruck haben, dass außerhalb von Syrien ein Bild gezeichnet wird, das nicht dem entspricht, was sie selber erleben, was sie selber denken und auch nicht dem, was sie wollen.

Man gewinnt den Eindruck, dass das Volk zwischen den verschiedenen Konfliktparteien und Interessen zerrieben wird. Da ist auf der einen Seite die Assad-Regierung mit dem Militär und den verschiedenen Geheimdiensten, auf der anderen Seite sind die Aufständischen, die vom Westen unterstützt werden... Welchen Einfluß hat eigentlich das Volk auf die Geschehnisse in Syrien?

Meiner Ansicht nach keinen. Die Proteste, die es im März, April und Mai vergangenen Jahres gab, wo politische Reformen gefordert wurden, sind völlig beiseite gedrängt. Die politische Opposition hier im Land ist völlig beiseite gedrängt und die Bevölkerung selber steht unter starkem Druck, auch wirtschaftlich. Um es ganz deutlich zu sagen: Verursacher des wirtschaftlichen Drucks sind auch die Sanktionen, die von der Europäischen Union ständig verschärft werden. Zum Beispiel gibt es im Moment kein Kochgas zu kaufen. Davon ist jede einzelne Familie betroffen. Die Menschen müssen bis zu sechs Wochen oder länger warten, um einen Zylinder Kochgas zum normalen Preis zu bekommen. Benzin und Heizöl sind knapp geworden, denn die Sanktionen betreffen den Ölsektor. Das heißt, der Alltag der Menschen ist durch die Sanktionen, durch wirtschaftliche Probleme und durch die ausgeübte Gewalt so belastet, dass sie sich politisch gar nicht mehr äußern.

Was Sie gerade beschrieben haben trifft in höherem Maße seit einer Woche auch für Aleppo zu. In Aleppo eskaliert die Gewalt momentan. Wir hören davon, dass sich aktuell ca. 4000 Rebellen in der Stadt aufhalten. Welche Rolle spielt Aleppo für den Konflikt in Syrien?

Aleppo ist die wirtschaftliche Hauptstadt des Landes und ist durch die Nähe zur Türkei und somit zu Europa sehr wichtig. Es ist eine Stadt, die auf der Verbindungslinie zwischen dem Mittelmeer und Asien liegt. Es gibt dort eine Autobahnverbindung, es gibt eine Eisenbahnlinie, Flughäfen, eine Universität. Es ist eine ganz wichtige Metropole. Wie viele Rebellen sich tatsächlich in der Stadt befinden, kann ich nicht verifizieren. Ich habe gestern mit jemandem in Aleppo telefoniert, der mir sagte, es gibt große Viertel der Stadt, die völlig ruhig sind. Die Kämpfe finden in der Peripherie statt, wo vor allem die armen Menschen leben – im Süden und auch im Nordosten. Und er hat gesagt, es gibt Probleme mit der Versorgung. Die Elektrizität ist eingeschränkt, Brot, Benzin sind knapp. Es ist das gleiche Muster, das wir auch hier in Damaskus hatten. Ich glaube, dass Aleppo auch deswegen so wichtig ist, weil es sich in diesem ganzen Konflikt in den letzten 16 Monaten völlig neutral verhalten hat. Ähnlich wie in Damaskus auch gab es kleinere Proteste auf dem Campus der Universität, gegen die die Sicherheitskräfte massiv vorgegangen sind... Aber der Protest hat nicht auf die drei Millionen Menschen, die dort leben, übergegriffen. Aleppo weist eine sehr gemischte Bevölkerung auf. Es gibt dort Araber und Kurden, es gibt Armenier, Turkmenen, es gibt eine sehr große Gruppe Christen - mehr als 20 Prozent - und alles deutet darauf hin, dass die Bevölkerung diesen Konflikt überhaupt nicht will. Ihr wird praktisch dieser Kampf, dieser Krieg aufgezwungen. Sie will politische Reformen, das ist durch viele Gespräche, die ich mit Menschen dort geführt habe, ganz deutlich geworden. Aber sie will eben nicht diese militärische Auseinandersetzung. Dass nun der Krieg dort hingetragen wird, hat sicherlich damit zu tun, dass die Stadt so nah an der Türkei liegt, von wo die Kämpfer massiv mit Waffen unterstützt werden, auch personell und logistisch und dass man sich vielleicht denkt, wenn man diese Stadt einnimmt, kann man einen Teil von Syrien abtrennen und diese Pufferzone einrichten, die man ja schon so lange gefordert hat.

Es ist offiziell bekannt und unter anderem im Nachrichtenmagazin Der Spiegel vom 26. Juli nachzulesen, dass die USA seit Mai Katar und Saudi Arabien militärisch unterstützen. Warum ist es eigentlich so, dass der Westen die fundamentalistischen Systeme wie Saudi Arabien unterstützt und auf der anderen Seite säkulare Staaten wie Syrien oder ehemals Libyen zu stürzen versucht?

Das hat geostrategische Gründe. Katar und Saudi Arabien sind im Besitz der größten Rohstoff-Ressourcen der Welt. Öl, Gas. Katar und Saudi Arabien sind potente Investoren in die doch etwas marode Wirtschaft Europas und vor allen Dingen der USA. Sie sind also in vielerlei Hinsicht, vor allem wirtschaftlich und zur Sicherung der Rohstoffquellen, bedeutende Partner, die der Westen sich sichern will. Es ist offensichtlich geplant, von Katar, von Saudi Arabien aus Pipelines zu bauen über die arabische Halbinsel, durch die Türkei nach Europa hin. Und da wäre in gewisser Weise auch Syrien im Wege. Man möchte die Verbindung, die zwischen Syrien und dem Iran vorhanden ist, durchbrechen. Es ist eine sehr komplexe geostrategische und politische Situation hier in der Region. Das Engagement des Westens hat meines Erachtens nach nichts mit der Verbesserung der Menschenrechtslage oder mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage zu tun, sondern es sind ganz allein geostrategische Gründe, weswegen man mit diesen Systemen kooperiert und andere zerbrechen will.

Man muß dazu sagen, dass jetzt bekanntgeworden ist, dass die Türkei ganz offiziell ein Lager bei Adana eingerichtet hat, wo die Waffenlieferungen aus Katar und Saudi Arabien ankommen, an die Kämpfer verteilt werden und dann ganz offiziell nach Syrien geliefert werden, um dort die Kämpfer im Norden des Landes zu unterstützen. Ich denke, deutlicher kann man gar nicht zeigen, dass man an einer politischen Lösung in Syrien offensichtlich gar nicht interessiert ist, sondern wirklich hier einen Krieg führen möchte. Gesprächspartner haben mir gesagt, hier wird so eine Art kleiner Dritter Weltkrieg zwischen den USA und Russland auf dem Rücken der Syrer, im Land der Syrer durchgeführt. Die Syrer zahlen den Preis dafür und werden an Lösungen überhaupt nicht beteiligt.

Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch.

 

Karin Leukefeld ist als freie Journalistin in Syrien akkreditiert und berichtet regelmäßig aus der Region.

Karin Leukefeld

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