Charles Fouriers Plädoyer für die Freie Liebe

Sabine Kebir, Charles Fourier
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Der französische Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier (1772-1837) plädierte für eine Art Kommunen als Herzstücke einer neuen Ordnung. Vieles, was er zur Befreiung und zu den Rechten der Frau sagte, hatte vor ihm bereits die Revolutionärin Olympe de Gouges (1748–1793) formuliert

Die Ablehnung ausbeuterischer Gesellschaftsordnungen war in der Geschichte oft mit der mehr oder weniger klaren Erkenntnis verbunden, dass sie das ganze menschliche Wesen entfremden. So ging politischer Widerstand schon in der Antike, nämlich bei einigen Strömungen der Gnosis mit dem Praktizieren ungehemmter Sexualität einher. Im Mittelalter war das bei einigen Ketzerbewegungen der Fall, die noch heute im Karneval fortleben. Solche ungehemmte Sexualität war meist, aber nicht immer, patriarchal geprägt. Dieses Kennzeichen fehlt der Utopie von der Freien Liebe, die der Frühsozialist Charles Fourier (1772-1837) entwarf, weshalb sie zum Teil auch noch in unsere Zeit passt. Er meinte, dass sich „der soziale Fortschritt ... entsprechend den Fortschritten in der Befreiung der Frau“ vollzieht. In einer ausbeutungsfreien Gesellschaft, die Fourier „Harmonie“ nennt, wird die Frau „Gegenpol“, nicht aber „Sklave des Mannes“ sein. Sie wird „an allen Einrichtungen jeweils zur Hälfte beteiligt“ (122) und zum Mann in „wetteifernde Konkurrenz“ treten. Fourier ist sogar überzeugt: „Freie Frauen werden die Männer an Arbeitseifer, Redlichkeit und Edelmut übertreffen“.(12) Das aber genügt nicht: „Wir müssen endlich damit beginnen, den Frauen die nötige sinnliche Befriedigung zu gewähren“.

Voller Abscheu sieht Fourier die ihn umgebenden Ordnung, die „Zivilisation“. Er gibt dem Begriff eine vollkommen negative Färbung. In der „Zivilisation“ seien „die Liebesbeziehungen, ganz wie die Politik, der Gipfel der Heuchelei; alle unsere Sitten wie Ehebruch und Hahnreitum, bezahlte Prostitution, Prüderie der Greise, Falschheit der Mädchen und Zügellosigkeit der Knaben sowie das geheime Luderleben aller Klassen beweisen, dass ein höherer Grad an Verderbtheit kaum noch möglich ist.“ (S. 47)

Die „Zivilisation“ hat nicht nur den in Armut verbannten Teil der Menschheit von sich selbst entfremdet. Die „Leidenschaften“, mit denen die menschliche Natur ausgestattet ist, brauchen nur die wenigen Reichen nicht voll und ganz zu unterdrücken. Aber auch sie können sie nur ausleben, wenn sie nach außen eine Existenz vortäuschen, die den Moralgesetzen entspricht: „Diejenigen, welche die Leidenschaften verlästern, die Philosophen und Priester, haben Einrichtungen ersonnen einzig zu dem Zweck, die Leidenschaften der anderen einzudämmen und die ihrigen zu befriedigen. Gott hatte anderes im Sinn“(92)

Fourier glaubt fest, dass die destruktiven Seiten der Leidenschaften – seit Freud nennen wir sie Triebe – durch deren konstruktive Seiten nicht nur ausgeglichen, sondern sogar überflügelt werden können. Sobald wir uns das Ausleben der Triebe gegenseitig zugestehen, kommt es aus Fouriers Sicht zu einem „kollektiven Aufflug“ der Menschengemeinschaft, den man sich wie ein Musikkonzert vorstellen darf, „wo das Orchester von den Soli zu den Tutti, von den Tutti wiederum zu den Soli wechselt und das Ganze mit kleineren Konzerten durchwirkt, mit Duos, Trios, Quartetten usw., deren Stimmen und Instrumente in den verschiedensten Kombinationen zu hören sind. Diesen Weg müssen die Leidenschaften in der Harmonie nehmen.“ (93)

Die Beseitigung der Armut ist für Fourier die Voraussetzung für die grundlegende Verbesserung des gesellschaftlichen Lebens. Er propagierte den Zusammenschluss von 1800 bis 2000 Menschen zu „Phalansterien“, die jeweils eine landwirtschaftliche oder industrielle Produktionsgemeinschaft darstellten. Hier wird aber nicht nur gearbeitet, es gibt genug Freiheit und Freizeit, in der jeder seinen Ambitionen folgen kann. Die Ehe will Fourier abschaffen, schließt aber nicht aus, dass es lang anhaltende Partnerschaften geben kann, in denen jeder frei ist, auch andere Beziehungen einzugehen. Vorurteile hegt er weder gegen Homosexualität, Sadomasochismus und Fetischismus. Und wenn Fourier meint, dass „Unbeständigkeit“ in der „Harmonie“ zur „höchsten Tugend“ avanciert, drückt er damit wieder seine Überzeugung aus, dass das Ausleben der Triebe und die Vervielfältigung der sexuellen Beziehungen die sozialen Beziehungen eher festigt als zerstört. Freilich sollen diese Beziehungen nicht nur Sexualität, sondern auch Freundschaft und Ehre – gemeint ist wohl gegenseitige Wertschätzung – beinhalten. Obwohl staatskritisch, meinte Fourier, dass in der „Harmonie“, die er offenbar als eine Art Kleinstaat verstand, „alle Vergnügungen Staatsangelegenheiten sind und ein vorrangiges Ziel der Gesellschaftspolitik bilden, sodass (so) der Liebe notgedrungen eine große Bedeutung zukommt, da sie tatsächlich den ersten Rang unter den Vergnügungen einnimmt.“ Die „Polygamie, bei den Zivilisierten und Barbaren ein Auswurf der Leidenschaft, wird in der Harmonie eine hochherzige Beziehung sein.“ Aus ihr werden „die erhabensten sozialen Tugenden hervorgehen“.

Kinder sollen in den Phalansterien auf freiwilliger Basis gezeugt werden. Fourier empfahl die Anwendung der „üblichen Maßnamen...um eine Schwangerschaft zu verhüten, welche die öffentliche Meinung missbilligt“. Familien im eigentlichen Sinne würde es nicht mehr geben, worin Fourier sowohl für die Eltern als auch für die Kinder nur Vorteile sah. Anstatt dass sie „im Haushalt nur schreien, zerstören, zanken und jede Arbeit verweigern“ würden sie in den „Serien“, d. h. den Untergruppen der Phalansterien gemeinschaftlich erzogen und „ohne, dass man sie dazu anhält, sich aus freien Stücken Kenntnisse in der Landwirtschaft, im Handwerk, in Kunst und Wissenschaft erwerben, Güter produzieren und Gewinne machen, und all dies als Spiel ansehen.“ (74 ) Es wirkt wie viele von Fouriers Utopien übertrieben optimistisch und zugleich befremdlich, wenn er annimmt, dass die Kinder bei gesicherter „freier Unterkunft und unentgeltlicher Erziehung mit fünf oder besser mit sieben Jahren ihren Unterhalt verdienen“ könnten.

Erfreuliches hält Fourier auch für Senioren vor. In der realen „Zivilisation“ gäbe es „unnatürlich viele greise und verblühte Menschen“. Die neue Ordnung würde – freilich erst wenn eine ganze Generation in ihr gelebt habe – den Körper zur vollen Entfaltung „der ihm innewohnenden Kraft“ verhelfen, so, dass Frauen und Männer auch noch mit achtzig Jahren das Begehren ihrer Mitmenschen wecken könnten. (143) „In der Harmonie, wo niemand arm und für jedermann bis ins hohe Alter die Liebe zugänglich ist, widmet ein jeder dieser Leidenschaft einen bestimmten Teil des Tages; die Liebe wird zur Hauptbeschäftigung.“(116)

Weder Fouriers eigene noch von seinen Phalansterien inspirierte Genossenschaften haben Formen dauerhaften Überlebens entwickeln können. Gleichwohl kam es immer wieder zu neuen Versuchen, ähnliche Bestrebungen zu realisieren: in der Geschlechterpolitik der frühen Sowjetunion, bei Wilhelm Reich, Herbert Marcuse und bei den Achtundsechzigern. 1967 konnten Fouriers Texte über die Die Freiheit in der Liebe zum ersten Mal in Frankreich erscheinen, 1977 dann in Deutschland. Und es ist wohl kein Zufall, dass sie jetzt in einer bibliophilen Ausgabe wieder herausgegeben wurden – als Gegengift zur gegenwärtigen Heuchelei, die unter einer dünnen Schicht prüder political correctness in den Geschlechterbeziehungen sowohl sexuelle Frustration als auch sexuelle Ausbeutung von Millionen Menschen verbirgt.

Charles Fourier: Die Freiheit in der Liebe. Ein Essay mit einem Vorwort von Margarete Stokowski, Nautilus, 2017.

(1) Die Rezension erschien unter dem Titel ´Ein Frühfeminist´ am 19.01.2018 in der Jungen Welt

Sabine Kebir, Charles Fourier