Langzeitarbeitslose als gesellschaftliche Paria

Langzeitarbeitslose als gesellschaftliche Paria
(Bild von geralt | CC0 pixabay)

Ich kann das Werk (=abstrakte Arbeit) so hoch unmöglich schätzen…

Hartz IV lässt sich prinzipiell und wirksam nur kritisieren, indem abstrakte Arbeit und das Kapitalistische Wirtschaftssystem insgesamt in Frage gestellt werden.

Das Gros der Bevölkerung ist zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft gezwungen, um den eigenen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Aufgrund des Produktivitätsfortschritts allerdings werden immer mehr Menschen, selbst hoch qualifizierte (wie z. B. Chirurgen), überflüssig. Gleichzeitig sind in vielen Bereichen die Märkte gesättigt.

Wie kam’s zur Agenda 2010 und Hartz IV?

Seit den 70er Jahren geriet das System von Massenproduktion und steigendem Massenkonsum zunehmend in die Krise mit fallenden Profitraten und steigenden Arbeitslosenzahlen.

Für den Selbsterhalt auf das Weiterfunktionieren des Systems angewiesen, verbesserte der Staat die Verwertungsmöglichkeiten für das Kapital durch: Steuererleichterungen, die Deregulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte, die Senkung der Lohn- und Lohnnebenkosten, neue Märkte weltweit, die Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen.1 Geschleift wurde auch der von ArbeitnehmerInnen einmal hart erkämpfte Sozialstaat.

Das Prinzip "Arbeit um jeden Preis" aber wird aufrechterhalten – trotz der ständigen wirtschaftlich verursachten Abschaffung von Arbeit. Mit der Einführung der Agenda 2010 kam es richtig in Fahrt: Agenda 2010, das bedeutete:

  • Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem Niveau der letzteren
  • Schaffung eines breiten Sektors von Elendsarbeit (Mini-, Midi- und 1-Euro-Jobs)
  • Massive Ausweitung der Leiharbeit
  • Deregulierung des Arbeitsrechts
  • Verschärfte Mitwirkungspflichten, Sanktionen, umfassender Arbeitszwang für sog. Hartz-IV-lerInnen.

Zusammenfassend wurde damit Armut per Gesetz installiert. Über die unmittelbar Betroffenen hinaus droht seit 2003 allen abhängig Beschäftigten stets "Hartz IV".

Gelungen ist der Coup, weil: die Gewerkschaften ebenso wie Institutionen wie Caritas und Diakonie irgendwann zustimmten, letztere durch Verwaltungsgebühren für 1-Euro-Jobs sogar davon profitierten, und das Manöver nicht zuletzt flankiert wurde durch eine breit angelegte und dauerhafte Diffamierungskampagne von Politik und Medien. Von Faulenzern, Sozialschmarotzern, sozialer Hängematte war die Rede. Franz Müntefering erklärte gar: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen".

Bald erfreute sich das Gesamtpaket breiter gesellschaftliche Akzeptanz, ist das Leistungsprinzip doch seit der Reformationszeit in unserer Gesellschaft fest verankert. Bis dahin war Betteln weder verpönt noch übel beleumundet gewesen. Von da an aber wurde der Armut die Arbeit als Allheilmittel entgegen gesetzt.2

Beim Geschimpfe der hart Arbeitenden mag Neid auf die, die vermeintlich "alles umsonst bekommen", eine Rolle spielen, während sie die Kehrseite von "Hartz IV" sicher nicht in Kauf nehmen wollten.

Gelungen ist der Coup auch insofern, als viele Betroffenen das Fremdbild, wertlos zu sein, verinnerlicht und resigniert haben. Zur mangelnden Repräsentation im Parlament, zum sozialen Ausschluss hinzu kommt die Scham. Auseinandersetzungen mit den Jobcentern, Sanktionen beim geringsten Regelverstoß, sinnlose Maßnahmen3 zermürben. Scham und Isolation sorgen dafür, dass diese per Gesetz fabrizierte Kaste, sich eher weniger organisiert und sich massiv gegen die Zumutungen zur Wehr setzt.

Abnehmende Arbeitslosenzahlen sprechen scheinbar für den Erfolg der Agenda 2010. Verschwiegen werden dabei die Bedingungen: verschlechterte Arbeitsbedingungen; hohe Anzahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse, größter Niedriglohnsektor innerhalb Westeuropas, Löhne, von denen man nicht leben kann u. a.4 Nicht zuletzt verdankt der Erfolg sich auch massiver Manipulation der Statistiken. Nicht mitgezählt wird z. B., wer sich in einer Maßnahme befindet, älter als 58 Jahre ist, aus Scham die "Hartz-IV-Leistungen" nicht einmal in Anspruch nimmt, darunter bis zu einer halben Million Rentner.5

Einen echten Erfolg brachte die Agenda 2010 der Wirtschaft: kräftige Wettbewerbsvorteile aufgrund des großen Niedriglohnsektors, Exportüberschüsse – zu Lasten anderer Länder, die nun nachziehen. Das heißt "Race to the bottom" ist auch an der Stelle in Gang.

 

Die Agenda 2010 ist nicht ohne Vorbild6

Waren lange Zeit die Zucht- und Arbeitshäuser als Vorläufer der Fabrik die "Allzweckwaffen der Armutsbekämpfung im Frühkapitalismus"7, scheinen den Menschen die Regeln des Systems Anfang des 20. Jahrhunderts in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. In der Weimarer Reichsverfassung 1919 wird das "Recht auf Arbeit" geregelt, in der Reichsfürsorgepflichtverordnung 1924 die "Pflicht zur Arbeit" festgelegt. Das heißt die Unterstützung Arbeitsfähiger konnte von der Übernahme von "angemessener Arbeit gemeinnütziger Art" abhängig gemacht werden. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise griffen die Kommunen besonders auf die "Fürsorgepflichtarbeit" zurück. Die Verweigerung führte umgehend zum Leistungsentzug. Ein Pflichtarbeiterstreik am 31. Mai 1932 wurde durch Leistungsentzug und ein starkes Polizeiaufgebot abgewürgt.

An diese Regelungen konnten die Nazis ab 1933 anknüpfen. Die Ideologie des Arbeitszwangs und der Gegenleistung wurde durchgesetzt und findet sich im "Fördern und Fordern"-Grundsatz der Agenda 2010 wieder. Am 18. Sept. 1933 wurde die erste reichsweite Bettler-Razzia durchgeführt. Die Bettler fanden sich in den Häusern der Arbeits- und Wohnungslosenfürsorge wieder, aber auch in den ersten wilden KZs, und zwar ohne dass die zuvor unterrichteten Wohlfahrtsverbände dagegen Einspruch erhoben hätten.8 Propagandistisch war die Aktion gründlich vorbereitet, die Presse mit entsprechenden "Richtlinien" versorgt worden. Unterstützt wurde derartiges Vorgehen noch durch entsprechendes Bildmaterial.9 Öffentliche und private Fürsorge wandelten sich grundlegend. Anstelle von Schutz ging von ihnen immer mehr Bedrohung für Hilfesuchende von ihnen aus.

Sogenannte Asoziale, "Arbeitsscheue", BettlerInnen, Arbeitslose; AlkoholikerInnen, Prostituierte; "Geistesschwache", behinderte Menschen, psychisch Kranke (oft genügte eine Denunziation) wurden vielfach entmündigt, zwangssterilisiert. Sie landeten als für den "produktiven Volkskörper" Nutzlose bzw. als Kostenfaktoren in KZs oder Euthanasie-Anstalten. – Kommunale Fürsorgestellen, Kriminalpolizei, Wohlfahrtsämter und Stadtverwaltungen wirkten dabei offensichtlich mit, ohne mit der Wimper zu zucken.10

In den Lagern wurden die sog. Asozialen mit dem Schwarzen Winkel gekennzeichnet. Dort teilten sie das Schicksal von politisch Missliebigen, Juden, Homosexuellen u. a. – Allerdings wirkte ihr Stigma selbst an diesem Ort. Sie waren nicht organisiert, galten als unzuverlässig, sodass andere Opfergruppen mit ihnen nichts zu tun haben wollten. Dasselbe gilt für sog. Berufsverbrecher.

Die Scham, die ihnen eingeimpft worden war, wirkte nach dem Krieg auch in den Überlebenden fort, sodass viele über Jahrzehnte schwiegen über das, was ihnen angetan worden war. Auch das dahinter stehende Welt- und Menschenbild existierte weiter.

Im Unterschied zu vielen anderen Opfergruppen fehlt denen "mit dem Schwarzen Winkel" bis heute fast jede Lobby, wird ihrer bei offiziellen Gedenkveranstaltungen nicht gedacht. Nur ganz wenige bekamen eine Entschädigung.11 Bis 2008 sahen "der deutsche Bundestag und die Bundesrepublik Deutschland keinen Handlungsbedarf … in der Rehabilitierung und Entschädigung der Gruppe der so genannten Asozialen."12 – Eine andere Antwort hätte vermutlich auch allzu deutlich gezeigt, dass die gleichen Menschen- und Weltbilder immer noch vorherrschen und die Agenda 2010 und insbesondere Hartz IV (zumindest unter ethischem Aspekt) ein ganz gravierender Fehler war und ist.

 

Neues Teilhabechancengesetz zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit

Das Fortwirken eben dieses Menschen- und Weltbildes spiegelt sich auch in dem Gesetzesentwurf der Regierung zur "Schaffung neuer Telhabechancen für Langzeitarbeitslose auf dem allgemeinen und sozialen Arbeitsmarkt" wieder.13

Trotz Prognosen, dass sich bis zu 80 % aller heute existierenden Arbeitsplätze automatisieren lassen,14 wird am Prinzip "Arbeit um jeden Preis" festgehalten, und am Ziel – in dem Fall Langzeitarbeitslose – in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Nur so, per abstrakter Arbeit, ist nach diesem Verständnis gesellschaftliche Teilhabe zu erreichen. Trotz teilweiser moderaterer Formulierungen bleibt die unterschwellige Stigmatisierung: Diese Personen bedürfen der Unterstützung, "intensiver Betreuung, individueller Beratung, wirksamer Förderung".

Trotz einzelner Nachbesserungen (z.B. Tarif- statt Mindestlohn), bleibt: "Profitieren" wird von dem neuen Gesetz allenfalls ein kleiner Teil der Betroffenen.15 Ansprüche auf Arbeitslosengeld werden nicht erworben.16 Offen bleibt, ob die "Zuweisung" von Stellen auf freiwilliger Basis erfolgt oder ob die Ablehnung von Angeboten weiterhin sanktioniert wird.17

Auch die Forderungen nach einer alternativen Arbeitsmarktpolitik von Judith Aust gehen nicht über das oben genannt Prinzip und Ziel hinaus.18 Zweifellos gewinnen wird durch das neue Gesetz aber mittels Subventionen erneut die Wirtschaft.

 

Echte Alternativen? – Eine Welt jenseits des Kapitalismus und abstrakter Arbeit?

Auch das neue Gesetz erscheint, aufs Ganze gesehen, lediglich als momentane Beruhigungspille, die nur verdeckt, dass sich an der prinzipiellen Problematik – künftig noch rapider zunehmende Zahl von Überflüssigen – nichts ändert. Darüber hinaus machen – der Klimawandel, die Vernichtung unserer Lebensgrundlage, der Erde; Kriege zur Sicherung von Rohstoffen, freien Handelswegen, Einflusssphären, Absatzmärkten, und damit wiederum verbundene Flüchtlingsströme – die Krise unseres gesamten Wirtschaftssystems deutlich.

Allen Mahnungen19 zum Trotz stecken viele Menschen den Kopf weiter in den Sand, wollen z. T. aufgrund ihres 'Alltagsstresses' nur noch in Ruhe gelassen werden; verständlich aber kontraproduktiv angesichts der immer rasanteren Verschlimmerung der Lage.

Dabei spielt gerade die abstrakte Arbeit nach Herbert Böttcher20 eine Kern-Rolle für die Konstitution kapitalistischer Gesellschaft: Entscheidend in diesem Wirtschaftssystem ist eben nicht der Inhalt dessen, was hergestellt wird… "Ob Brot, Krankenhausbetten oder Kanonen hergestellt werden, ist inhaltlich-stofflich belanglos. Entscheidend ist, ob der in den Produkten dargestellte Wert sich wieder in Geld zurück verwandeln lässt. Ob dies möglich ist, hängt an der Kaufkraft, aber nicht an menschlichen Bedürfnissen".21 Wer hungrig ist, aber kein Geld hat, hat Pech gehabt. "Im Kapitalismus werden Gebrauchswerte nur produziert, weil sie Träger von etwas Abstraktem, von Tauschwert sind. Dem Doppelcharakter der Ware als Gebrauchs- und als Tauschwert entspricht der Doppelcharakter der Arbeit als konkrete und abstrakte Arbeit… Es ist gleichgültig, welche Arbeit getan wird."22

Genau diese Abstraktion, ob bei Waren, Arbeit oder Reichtum, bestimmt aber ganz real die gesellschaftlichen Verhältnisse. Konstituiert werden sie im Kapitalismus durch den Verwandlungs- und Verwertungsprozess. Begründet wird dadurch eine abstrakte Herrschaft, die unser aller Handeln (egal ob als AbeiterIn oder als KapitalistIn) vorgegeben ist. In diesem Mechanismus sind wir ausnahmslos alle gefangen.23

Ständige Produktivitätsfortschritte erzwingen die Entsorgung von Arbeitssubstanz wie auch den zunehmenden Verbrauch natürlicher Ressourcen und die Zerstörung der Lebensgrundlagen. Angesichts der Übermacht dieses automatisch ablaufenden Prozesses gehen viele Forderungen ins Leere, wie die nach menschenwürdigen Arbeitsverhältnissen, dem Recht auf Arbeit – gegen Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit u. a. m.

Nicht nur sind abstrakte Arbeit und Menschenwürde unvereinbar. Mit der mikroelektronischen Revolution sieht Böttcher den Kapitalismus auch an der Grenze seiner Entwicklungsmöglichkeiten angelangt. Mit dem Einbruch abstrakter Arbeit wird auch der Bereich der Reproduktion einbrechen, weil ihre Finanzierung von der zusammenbrechenden Wertschöpfung abhängig ist.

Ohne sich klarzumachen, dass die Krise des Kapitalismus etwas zu tun hat mit der Krise der abstrakten Arbeit, ist die Versuchung groß, ganz schnell nach "Schuldigen" zu suchen: diejenigen, die nicht arbeiten; diejenigen, die über Macht und Geld verfügen; die "faulen" Hartz-IV-EmpfängerInnen; die Flüchtlinge, die "bei uns" versorgt werden wollen; usw.24

Staatlicherseits nehmen mit Voranschreiten der Krise die Repressionen zu, wie sich zeigt in: der repressiven Hartz-IV-Gesetzgebung und –verwaltung, den Kriegen, um die bröckelnde Funktionsfähigkeit des Kapitalismus abzusichern, den immer schärfer werdenden Maßnahmen gegen Flüchtlinge. Zunehmend bröckelt die Fassade.25 Mit dem Verfall des Wertschöpfungsprozesses allerdings werden auch dem Staat die Grundlagen entzogen, Repression und Kriege immer weniger finanzierbar. Die "Überflüssigen" werden ins Nichts entlassen.26 Oder: dort, wo staatliche Souveränität sich noch halten kann, werden sie auf Dauer interniert und weg gesperrt. So wie die "Illegalen" und Flüchtlinge.

Nur durch Nachdenken und Analysen, durch Kritik an den Kategorien, in denen der Kapitalismus sich darstellt, haben wir die Chance, Alternativen zu finden. Wer immer Kinder und Enkelkinder hat, für die/den ist es meines Erachtens ein unbedingtes Muss, sich an der Suche danach zu beteiligen. Sie liegen allemal jenseits von Markt und Staat, von abstrakter Arbeit und Geld, von Wert etc. Menschliche Bedürfnisse, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen wären Zweck von Produktion und Reproduktion.

 Konstitutiv bleibt: Es gibt menschliche Bedürfnisse, die nicht verhandelbar sind!27 Darauf ist auch dann zu bestehen, wenn dies innerhalb unseres Wirtschaftssystems als nicht erfüllbar, nicht politikfähig erscheint.28

Was mich trotz der bedrückenden Gesamtsituation und obwohl ich kein Patentrezept habe, nicht verzweifeln lässt, ist: Es gibt kritische Geister. Es gibt Menschen und Gruppen, die für etwas anderes einstehen, aktuell sichtbar z. B. im Hambacher Forst. Es gibt Menschen und Gruppen, die gegen Kriege, Rüstung, Privatisierungen von Gemeingütern und Freihandelsverträge protestieren und auf die Straße gehen. Es gibt Gruppen, die nach anderen Lösungen suchen, wie die Degrowth-Bewegung unter anderem.

 

Das lässt hoffen!

 

Eine Übernahme von Pressenza

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