100 Jahre ungarische Räterepublik

Die ungarische Räterepublik
Foto: U.S. National Archives and Records Administration/Gemeinfrei
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Der vom 21. März bis 1. August 1919 bestehenden ungarischen Räterepublik ging – ähnlich wie der deutschen Novemberrevolution – eine bürgerliche Revolution voraus, die entschiedener in den Sozialismus hinüberzuwachsen schien. Am 25. Oktober 1918 hatte sich unter der Leitung von Michael Graf Károlyi ein ungarischer Nationalrat gebildet, dem Sozialdemokraten und bald auch Kommunisten angehörten. Er wurde vom Soldatenrat, der Polizei und etlichen Garnisonen unterstützt, die königstreuen Truppen den Weg nach Budapest versperrten. Beschlossen wurde die Abspaltung von Österreich, das allgemeine Wahlrecht für Frauen und Männer, Autonomie für Minderheiten, Assoziations- und Pressefreiheit sowie eine Landreform. Am 1. November legten die ungarischen Armeen die Waffen nieder. Am 16. November wurde die 'Ungarische Volksrepublik' ausgerufen. Die nun auch in Betrieben gebildeten Arbeiterräte forderten die Enteignung des Groß- und Finanzkapitals, sowie die Aufteilung des Großgrundbesitzes.

Entscheidend für die weitere Entwicklung war die Rückkehr von 300 000 Kriegsgefangenen aus Russland, von denen 100 000 freiwillig in der Roten Armee gekämpft hatten. Darunter war auch Béla Kun, der sich als kommunistischer Agitator unter seinen Landsleuten betätigt hatte und das Vertrauen der Bolschewiken besaß. Er wurde zur zentralen Figur der am 24. November gegründeten KPU der es gelang, die Rätebewegung im ganzen Land zu stärken. Anfang Januar 1919 kamen große Werke in Budapest unter Kontrolle der Räte. Da außer Graf Károlyi kein Großgrundbesitzer seine Ländereien übergab, übernahmen Bauernräte die Enteignungen und bildeten Genossenschaften. Dass die revolutionäre Bewegung auch viele ländlichen Regionen erfasste, war sicher der bedeutendste Unterschied zur deutschen Revolution.

 

Auf Druck von unten trat Károlyi am 18. Januar zurück und auch die folgende bürgerlich-sozialdemokratischen Regierung hielt nicht stand. Der Budapester Polizeichef Dietz bot sich zwar an, den "ungarischen Noske" abzugeben, aber es kam zu Massendemonstrationen gegen die sich anbahnende Gewalteskalation und die "weiße Konterrevolution". Bei den Sozialdemokraten erfolgte ein Linksruck, der am 21. März die Vereinigung von 600 000 ihrer Mitglieder mit 200 000 Kommunisten zur Ungarländischen Sozialistischen Partei und der Proklamation der Räterepublik führte. Betriebe ab 20 Arbeitern wurden verstaatlicht, ebenso die Banken und der Boden. Kirche und Staat wurden getrennt. Akkordsystem und Kinderarbeit wurden abgeschafft. Ab sofort galt der Achtstundentag und gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Männer und Frauen. Die Lohnspreizung wurde drastisch reduziert, medizinische Versorgung kostenlos. Die Getreideproduktion erhöhte sich im Sommer 1919 um ein ganzes Drittel gegenüber der Vorkriegszeit.

 

Plakat v. János Tábor(1890-1956), Budapest 1919

 

Die Rätemacht erfreute sich der Unterstützung zahlreicher Intellektueller. An der aufblühenden Plakatkunst mit revolutionären Aufrufen und in neuen Künstlerzeitschriften zeigte sich prägender Einfluss der expressionistischen Moderne. Als stellvertretender Volkskommissar für Unterrichtswesen war Georg Lukács mitverantwortlich, dass ein Alphabetisierungsprogramm beschlossen und der Zugang zur Kultur demokratisiert wurde.1 Bücher als wichtigste Bildungsträger sollten an möglichst vielen Orten preiswert zugänglich sein, z. B. auch in den "Mehlämtern", wo rationierte Lebensmittel verteilt wurden. Ein Plakat zeigt an, dass von hier aus die Wohnhäuser "andstandslos" auch mit Büchern versorgt wurden. Geplant war, dass man selbst in den Dörfern am Postschalter Zugang zu einer Bibliothek klassischer Literatur erhalten sollte. In den 133 Tagen der Räterepublik kam es zu zwischen 334 und 400 Bucheditionen in über 25 Millionen Exemplaren, womit eine schon 1918 begonnen Welle sozialdemokratischer und kommunistischer Publikationen verschiedenster Genres ihre Fortsetzung fand.2

 

Plakat v. Pór Bertalan (1880-1964), Budapest 1919

 

Bei der Revolutionierung des Buchwesens war auch der Dichter Aladár Komját (1891-1937) maßgeblich engagiert, seine Frau Irén im Kommissariat für das Bildungswesen. Mit ihr war ich seit Mitte der sechziger Jahre befreundet und übertrug die Gedichte ihres im französischen Exil auf rätselhafte Weise gestorbenen Mannes ins Deutsche. Komjáts Dichtung beeindruckten mich durch ihre Verwurzelung im Expressionismus und im futuristischen Konstruktivismus – zwei bereits historische Etappen der Kulturgeschichte, denen die DDR erst seit kurzem zugestand, für die Entwicklung sozialistischer Literatur von großer Bedeutung gewesen zu sein.

 

Aladár Komját ca. 1935

 

1980. Irén war 85 Jahre alt. An einem kalten Februartag wollte sie mir das am Fuß des Rosenhügels gelegene Haus zeigen, in dem sie und Aladár sich schon als Jugendliche lieben lernten. Als wir in Sichtweite des Gebäudes waren, erstarrte sie plötzlich und – ich konnte es nicht fassen – weinte! Sie wollte mir etwas sagen, was sie noch nie gesagt oder gar geschrieben hatte. Selbst ihren Söhnen hatte sie es nicht zu sagen gewagt: Seit sie die Intrigen um die Schauprozesse gegen Lászlo Rajk und Noel Field in der Frühzeit der zweiten Ungarischen Volksrepublik miterlebt hatte, sei sie überzeugt, dass der plötzliche Tod Aladárs im Pariser Exil im Rahmen der stalinistischen Säuberungen zu verorten sei, obwohl er – und da war er nicht das einzige Opfer – sich selbst als Freund der Sowjetunion und ihr Propagandist verstand.

 

Irén Komát, ca. 1970

 

Weil Komjáts Tod ein ordentlicher Nachruf der Komintern gefolgt war, hatte Irén diesen Gedanken lange von sich geschoben und ihn später wegen seiner schwierigen Beweisbarkeit und wohl auch aus Gründen der Parteidisziplin nie öffentlich gemacht – vielleicht, um das vorsichtige Entstalinisierungvorhaben János Kadars nicht zu belasten, als dessen Pressesprecherin sie in Filmaufnahmen seines Regierungsantritts 1956 zu sehen ist. Sie war noch immer Präsidentin des ungarischen Journalistenverbands. Aber jetzt hatte sie sich entschlossen, dass der sehr wahrscheinliche Hintergrund von Komjáts Tod durch meine biographischen Notizen in der Gedichtpublikation bekannt werden sollte.

 

Schon in der Geschichte der jüdischen Familie Komjáts (Komját war ein von Anfang an genutztes Künstlerpseudonym, der ursprüngliche Familienname war: Korach) zeigte sich die Brüchigkeit der Feudalverhältnisse in Österreich-Ungarn. Der strikt antireligiöse Vater war Steuerbeamter im heute slowakischen Košice und stand politisch ganz auf der Seite der im Elend lebenden Bauern, deren Steuern er einzutreiben hatte. Die Mutter vermittelte Aladár früh ungarische Dichtkunst und organisierte Theateraufführungen mit Tagelöhnerkindern. Eine Bauernrevolte in Letenye, die der Vierjährige miterlebte, blieb ein prägendes Erlebnis, das Komját 1936, in einem seiner letzten Gedichte noch einmal aufrief: "…Wutwolken steigen am Dorfrand empor / Wut ist das Brot des Tagelöhners, wenn er zur Arbeit geht / Mit Wut kriegt der Bursche das Mädchen unter // Das ist der Menschenmarkt: ächzendes Chaos / Jede Faust ein Schlagstock, jeder Blick ein Messer / In geblähten Adern kocht Feuersglut ..."

 

Durch Versetzungen des Vaters kam die Familie 1899 nach Fiume und 1907 auch nach Budapest, wo man wegen einer tuberkulosekranken Schwester die eigentlich zu teure Wohnung am Rosenhügel mietete. Um die gedrückte familiäre Stimmung zu durchbrechen, bat die Mutter das zwölfjährige fröhliche Nachbarskind Irén häufig zu Besuchen. Dem Mädchen gelang es, auch die Psyche des in Depressionen erstarrten Aladár in Bewegung zu setzen und so tauchte sie bereits in dessen ersten, noch von starken Selbstzweifeln geprägten Liebesgedichten auf, die er 1910 in der Zeitschrift Renaissance veröffentlichte, eine radikalere, dem Sozialismus nahestehende Schwester der Nyugat [Westen][Fn]Jószef Waldapfel: Aladár Komjáts Platz in der ungarischen Literaturgeschichte. In: Acta Litteraria, hrsg. v. Der Akademie der Wissenschaften Ungarns, Bd. III, Budapest 1960, S. 208 – beide Zeitschriften verbanden die Traditionen ungarischer Dichtung mit den neuesten expressionistischen Ausdrucksformen aus Westeuropa.

 

Vorbild für Komját war der damals bedeutendste ungarische Dichter Endre Ady, der auch politisch weit links stand. Wie für Ady bedeutete für Komját Volkstümlichkeit nicht Folklorisierung; Tradition konnte in seinen Augen nur fortwirken, wenn sie sich mit neuen, zeitgemäßen Kommunikationsformen verband – und das waren damals auch in der Dichtung expressionistisch-konstruktivistische Formen.

 

Adys Einfluss wird in Komjáts erstem revolutionären Gedicht Dózsablut deutlich, das den kommenden gesellschaftlichen Umbruch als Wiederkehr des 1514 von Bischof György Dósza geführten Bauernaufstands beschwor, der vom ungarischen Adel grausam niedergeschlagen worden war: "...Noch stehen die Dämme fest / Den Rücken gebeugt, auf ausgelaugten Feldern / Sammelt die Untertänigkeit Ähren ein // Aber morgen schon wird sich der Strom / Brüllend über die Ruinen der alten Welt ergießen / Und alles, alles im Blut ertränken / Herrschen wird dann das Dószablut. Herrschen!" Die sozialdemokratische Zeitung Népszava [Volksstimme] hatte das Gedicht im März 1913 abgedruckt, weswegen die betreffende Nummer von der Zensur konfisziert wurde.

 

Nach ungeliebtem und schließlich abgebrochenem Jurastudium wurde Komját Lohnkalkulator in den Budapester Tudor-Werken, die u.a. Akkumulatoren herstellten. Weil er kurzsichtig war, entging er der Einberufung. Wie schon sein Vater, fühlte er sich den Ausgebeuteten verbunden, organisierte Antikriegspropaganda und arbeitete – gemeinsam mit Otto Korvin, Jozsef Lengyel u. a. im Kreis um den Arbeiterdichter Lajós Kossák an der Zeitschrift A Tett [Die Aktion] mit, die die Idee Lenins aufgriff, den Krieg in einen Bürgerkrieg zur Beseitigung der alten Ordnung zu transformieren. Als es allerdings 1917 zum Umsturz in Russland kam, spaltete sich die Gruppe. Kossák blieb einem anarchischen Widerstandskonzept verbunden – die proletarische "Aktion" war für ihn lediglich das "Narkotikum", das der Mensch brauche, um "das Leben ertragen zu können" und folglich war er gegen die konkrete Anbindung der literarischen Produktion an die soziale Revolution. Komját war eher dafür. Er bereitete die Heraushabe der ersten kommunistischen Zeitung Ungarns vor, die nach dem historischen Datum 1917 benannt werden sollte. Ihr Programm formulierte er folgendermaßen: "Wir wollen eine Literatur im Geist von 1917… Die Literatur soll kein soziales Narkotikum für die Menschen, sondern eine Erweckerin der sozialen Revolution sein... Wir wollen alles niederreißen, was in Wissenschaft und Literatur dem Gedanken von 1917 im Wege steht."3 Die Kriegszensur vereitelte das Erscheinen der Zeitschrift.

 

Der Bruch mit Kossák war – laut Irén – "sehr schmerzlich". Wie nah sich die beiden doch waren, zeigt ein Blick auf Komjáts ebenfalls 1917 verfasstes Gedicht Landschaft vor dem Sturm: "...Ein Schrei nach Änderung durcheilt das Land / Hinter trügerischer Ruhe bricht die Ordnung zusammen / Die Berge sind Vulkane geworden. Zum Ausbruch bereit / Billionen von Zellen streben zum Himmel //...Wer schmiedet zu Eisen die weiche Luft? / Dass sie uns Menschen festhält? //...Keine Versöhnung mehr! Gut ist nur noch das Chaos! // Nur dröhnende Bewegung noch! Bis zum Tod! Bis zum Tod. // Ein Tropfen fällt / Und der Globus zerspringt!"

 

In einem im Folgejahr entstandenen Gedicht macht Komját deutlich, dass das Chaos der Revolution nur ein Durchgangsstadium zu einer neuen Ordnung darstellt: "Chaos!...Ist sie Chaos? // Am struppigen Faden der dürren Zeit / Blitzt das Leben auf!? // Aber dies ist die Ordnung! / Und dies ist die Güte! //... Aus dem Mikrokosmos des Lebensbaumes / Bricht ein geballter Impuls sich Bahn / (Gesunde Zügellosigkeit) / Was er auch immer bedeute / Er drängt bis zu den Atmosphärenfarben empor!..."

 

Im Zuge der durch die Károlyi-Regierung installierten Presse- und Assoziationsfreiheit konnte Komjáts für die Zeitschrift 1917 verfasstes Programm ein Jahr später auf der Frontseite der Zeitschrift Internationale gedruckt werden, die er zusammen mit Gyula Hevesi herausgab. Gleichzeitig wurde die Gründung der KPU möglich, zu deren ersten Mitgliedern er gehörte.

 

In der Zeit der Räterepublik wurde die weiterhin von Komját redigierte Internationale theoretisches Parteiorgan der KPU, verfügte aber über so begrenzte Ressourcen, dass sich die Autoren bei Herstellung und Vertrieb der Zeitschrift beteiligten. Auch Irén engagierte sich hier.

 

Wenn sich Komját persönlich als Autor und Redakteur eng an die KPU anschloss, bedeutete das nicht, dass er dies für alle Mitglieder des Schriftstellerdirektoriums verfocht, das eine in die bündnispolitische Breite gerichtete Literaturpolitik verfolgte. Ihm gehörten insgesamt 550 AutorInnen an. Das Direktorium sprach 143 Autorinnen staatliche Gehälter zu und vergab 58 Stipendien an NachwuchsautorInnen. Noch weit mehr AutorInnen organisierten sich in neuen Schriftstellerausschüssen und -gewerkschaften.4

 

So bedeutend die soziale und kulturelle Bilanz der Räterepublik war, sie konnte sich militärisch nicht gegenüber den von der Entente unterstützten, von Miklos Horthy geleiteten konterrevolutionären Armeen durchsetzen. Horty setzte dem "Judeo-Bolschewismus" in Ungarn ein äusserst blutiges Ende, errichtete eine bis 1944 dauernde rechte Diktatur und war dafür verantwortlich, dass nur ein Viertel der ursprünglich 800 000 ungarischen Juden die Shoa überlebte.

 

Aladár und Irén Komját versteckten sich noch monatelang in Ungarn, weil sie an die endgültige Niederlage der Räterepublik zunächst nicht glauben mochten. Ein Trotzbekenntnis betiteltes Gedicht nahm die bekannte Widerstandslosung von Karl Liebknecht auf: "...Illegalität?...Kerker...Tod? / // Wir brechen hervor: / Allgegenwärtig / Aus der Erde, aus dem Blut! // Mit der Kohle, mit dem Salz / Mit dem Gras, das aus dem Boden drängt! / In jedem Hauch / In jeder Bewegung / Noch und noch! / Doch und doch!"

 

Schließlich mussten die beiden Ungarn doch verlassen, gelangten mit falschen Papieren nach Norditalien, wo die sozialistisch-kommunistischen Rätebewegungen noch nicht niedergeschlagen waren. Der rote Gewerkschaftsrat von Bologna bot ihnen Unterkunft und Arbeit – Aladár in einer Lampenfabrik, Irén im Büro einer Genossenschaft von Elektromonteuren. Mit der Machtübernahme der Faschisten kam Komját eine Weile ins Gefängnis, während Irén den ersten Sohn gebar. Dann wurden die beiden nach Österreich ausgewiesen und gelangten von dort nach Berlin, wo sie bis 1933 lebten. Komját arbeitete zunächst für einen Verlag der KPD und wurde ab 1925 Redakteur des Internationalen Informationsorgans der III. Internationale, der Inprekorr (Internationale Pressekorrespondenz), die – so Iréns Buch über die Zeitschrift – zeitweilig „in acht Sprachen“ erschien, in legalen oder illegalen Ausgaben, jährlich auf etlichen tausend Seiten.5 Mit großer Einsatzbereitschaft ging er "als Publizist und Redakteur an die Arbeit, selbst auf Kosten seines dichterischen Schaffens." Seine Leistungsfähigkeit war enorm: "In Zeiten, wo sich sehr viel Arbeit ansammelte, so bei internationalen Kongressen und Kampagnen, war er fähig, mehrere Tage und Nächte hindurch zu arbeiten" und "die Arbeit von den erschöpften Mitarbeitern" zu übernehmen. Chefredakteur Julius Alpári "stellte mit Vorliebe Ehepaare ein, da er meinte, dies sichere eine harmonische Atmosphäre, denn so wartete zu Hause keine unruhige Gattin." So arbeitete auch Irén ab 1927 in der Redaktion, wo sie "zunächst übersetzte, später Beiträge redigierte, Zeitschriften rezensierte und als Reporterin tätig war".6 Da sie ihre eigene Arbeit nie besonders hervorhob, habe ich erst durch die 2008 publizierte Familienchronik erfahren, dass sie 1926 beim VIVA-Verlag ein Buch mit modernen Märchen publizierte: Was Paulchen werden will. 7 Komját spielte auch eine bedeutende Rolle im Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller, wo er Schulungskurse für Arbeiterkorrespondenten leitete. Zusammen mit einem anderen Exilungarn, Karl Biro, verfasste er eine auf den Proletkult ausgerichtete Plattform, 8 die sich jedoch gegenüber der Position des aus Moskau angereisten Georg Lukács nicht durchsetzen konnte. Dieser vertrat bekanntlich eine auf hochkulturelle Vorbilder und das Bündnis mit den Mittelschichten orientierende Position.

 

1933 flohen die Komjáts mit ihren beiden Söhnen und der fortan in Rundschau umbenannten Inprekorr in die Schweiz, und 1935 nach Paris, wo die Zeitschrift nur noch illegal produziert werden konnte. In Deutschland, in der Schweiz und Frankreich organisierte Komját sowohl den großen Kreis ungarischer Emigranten als auch illegale Propagandaaktionen in Ungarn, wobei auch eigene Gedichte auf Flugblättern zum Einsatz kamen.

 

Liebesgedicht aus dem Jahr 1936

 

1931 hatte Irén eine große Reportagereise in die Sowjetunion unternehmen können, 1934 auch Aladár. In seinen Texten, so Irén lagen ihm "Verschleierung von Schwierigkeiten und Unterschätzung von Problemen […] fern. Er zeigte die Schwierigkeiten der Kaderfragen auf, beschrieb die unerhörten Anstrengungen bei der Errichtung der Riesenfabriken. Erfolg und Misserfolg, also das ganze kampfreiche und optimistische sowjetische Leben der dreißiger Jahre."9 Hatte diese nicht ganz eindeutige Haltung, mit der er leicht schon als Trotzkist gelten konnte, den Ausschlag für Komjáts Ermordung gegeben?

 

2013 schrieb mir einer seiner in Frankreich gebliebenen Söhne, dass ihm der Fakt seit 1950 bekannt sei. "Ich arbeitete damals mit einem Arzt, der in den Jahren 1935-1936 meinen Vater behandelte. Dieser Arzt hatte Einblick in den Bericht der Autopsie gehabt. Meine Mutter Irene hat mir nie davon gesprochen und ich selbst habe mich nie getraut, das zu erwähnen. […] Für mich bleibt die Frage: warum wurde er umgebracht? Am Tag vor seinem Tode hatte er ein Abendessen, zusammen mit einem Boten, der von Moskau kam. […] Aladár war ein sehr überzeugter Kommunist. Hatte er in der letzten Zeit einige Zweifel ausgedrückt?"10

 

In der Nacht nach diesem Essen bekam der kerngesunde Komját schwere Nierenkoliken und starb am Morgen des 3. Januar 1937, während Irén in einer Apotheke Schmerzmittel kaufte.

 

Ungarische Kommunisten waren besonders stark von den stalinistischen Säuberungen betroffen. Eineinhalb Jahre später traf es auch Bela Kun, den Führer der ungarischen Räterepublik.


 

*Unter dem Titel Wir brechen hervor erschienen dieser Artikel und das Gedicht am 21. März 2019 in der Jungen Welt. Nachdichtungen: Sabine Kebir. Das Liebesgedicht aus dem Jahr 1936 stammt aus: Aladár Komját: Szerelmes Vers. In: Összegyüjtött Müvei, Verlag: Szepirodalmi Könyvkiado, Debrecen 1957, S.297f.

  • 1. Dieser Überblick verdankt sich verschiedenen Beiträgen in einer aktuellen Publikation: Christian Koller, Matthias Marschik (Hg.): Die ungarische Räterepublik. Innenansichten-Außenperspektiven-Folgewirkungen, Promedia, Wien 2018
  • 2. Katalin Teller: Kulturkonsum und Konsumkultur während der Räterepublik. Am Beispiel des Buchwesens. Ebenda, S. 132
  • 3. Zitate v. Lajos Kossák und Aladár Komját nach: Waldapfel, S. 216.
  • 4. Albert Dikovich: Die Intellektuellen und die Räterepublik. In: Koller, Marschik, a. a. O., S. 112
  • 5. Irén Komját: Die Geschichte der Inprekorr. Zeitung der Kommunistischen Internationale (1932-1939), Korvina/Budapest & Marxistische Blätter, Frankfurt am Main, 1982, S. 5
  • 6. Ebenda, S. 28.
  • 7. Gabriel Korach: Le fleuve sans fin du temps. Notre famille dans les tourments du XX. Siècle, Archives et Culture, Paris 2008, S. 31.
  • 8. Manfred Nössig, Johanna Rosenberg, Bärbel Schrader: Literaturdebatten in der Weimarer Republik, Berlin, Weimar 1980, S. 368ff. Siehe auch: Helga Gallas: Marxistische Literaturtheorie1, Neuwied, Berlin 1971, S.56ff
  • 9. Irén Komját: Die Geschichte der Inprekorr, a. a. O., S. 93
  • 10. Gabriel Korach an Sabine Kebir, 16.5.2013
Die ungarische Räterepublik