Offener Brief an die SPD

Offener Brief an SPD-Mitglieder und Kandidaten einer neuen SPD–Parteispitze
Personen: 

Liebe Genossen,

es ist dringend an der Zeit, angesichts der Wahl einer neue SPD - Spitze, sich mit kreativen Ideen für die Erneuerung der Partei einzusetzen. Das ist nicht nur Eure interne Angelegenheit!

Davon hängt auch die Stärkung des gesamten linken Spektrums und damit seine politische Gestaltungskraft in der Innen- und Außenpolitik, als Interessenvertreter eines Wählerpotentials von den Geringverdienern bis zu den qualifizierten Mittelschichten ab. Ihr wisst, die Lage ist extrem ernst: Ihr habt fast zwei Drittel Eurer Wähler verloren. Nach Oskar Lafontaines Austritt haben nach und nach immer mehr Mitglieder die Partei verlassen. Und viele Eurer Vorsitzenden und Abgeordnete haben das Handtuch geworfen. Die SPD, als einstmals stolze Volkspartei mit einer über 100 jährigen, prägenden Vergangenheit, steht vor einem politischen Scherbenhaufen, ja vor einem politischen Abgrund. Das alles hat Züge einer Selbstzerstörung angenommen. Der Krisenzustand der Partei erinnert durchaus an 1914 und 1933. Wann, wenn nicht jetzt, ist ein überzeugender personeller und strategischer Neustart zwingend erforderlich, der einer Wiedergeburt der Partei, entsprechend ihrer eigenen Programmatik, gleichkommt? Wann, wenn nicht jetzt, ist eine Initialzündung für eine politische Metamorphose der Partei zwingend erforderlich, wenn sie nicht weiter in die politische Bedeutungslosigkeit absinken will, wie andere sozialdemokratische Parteien auch? Es geht um eine Loslösung, ja Selbstbefreiung der SPD aus der Abhängigkeit, als kleinerer Juniorpartner der CDU/CSU, die gleichfalls nach der Ära Merkel, an einer akuten Führungsschwäche leidet. Das könnte auch als neue Chance für die SPD begriffen werden, wenn sie endlich ihre Verantwortung als unverzichtbare Kraft für die Gewinnung und Gestaltung eines neuen Linksbündnisses wahrnimmt. Es geht bei Euer Wahl einer neuen Parteispitze um glaubwürdige und vertrauenswürdige, möglichst namhafte Frauen und Männer, die mit Leidenschaft und konzeptioneller Weitsicht um einen dringenden Neustart für eine höhere Stufe sozial-ökologischer und friedensstiftenden Innen- und Außenpolitik nicht nur für dieses Land, sondern in Europa ringen, entsprechend den gewaltigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Nur wer dieses Ringen konzeptionell und als Persönlichkeit glaubhaft in den Mittelpunkt seiner Bewerbung stellt, verdient Euer Vertrauen.

 

Deshalb werden hier folgende Argumente zur Ursachenforschung für den Absturz der SPD und strategische Lösungsmöglichkeiten für eine grundlegende Erneuerung der SPD vorgeschlagen, hier zunächst unabhängig von taktischer Tagespolitik:

 

1. Neue Mehrheiten, links vom bürgerlich-konservativen Lager und der AfD gewinnen

Die SPD kann mit ihrer zukünftigen Parteispitze und damit auch mit einem eigenen Kanzler-kandidaten nur wieder eine Bundestagswahl gewinnen, wenn sie sich öffentlich, im V o r f e l d einer solchen Wahl, mutig und unmissverständlich für die Wunschkoalition eines Rot–Rot–Grünen - Parteienbündnis ausspricht, dieses zielführend vorbereitet und damit im linken Spektrum und bei den Wählern offensiv um neues Vertrauen für eine neue Wählermehrheit kämpft. Um so glaubwürdiger sie für ein solches Regierungsbündnis, mit entsprechend zuvor ausgehandelten, politischen Grundforderungen, solidarisch mit den beiden anderen Parteien an „Runden Tischen“ verhandelt, sich einigt und dafür nachhaltig öffentlich einsteht und leidenschaftlich kämpft, um so größer ist die Chance, dafür auch eine Bundestagswahl wieder zu gewinnen und den Bundeskanzler zu stellen. Alle anderen Optionen sind nicht mehr realistisch und glaubwürdig.

 

2. Vorbereitung Rot-Rot-Grüner Koalitionen vor Wahlen auf Landes und Bundesebene

Deshalb ist es notwendig, sich unmittelbar nach der Wahl einer neuen SPD - Parteispitze, auf getrennten und gemeinsamen Verhandlungen mit der Linkspartei und den Bündnis-Grünen festzulegen, um auszuloten, wie ein gemeinsames innen- und außenpolitisches Regierungsprogramm aussehen könnte, auf dass sich die drei Parteien, entsprechend ihren eigenen Programmatiken, einigen können. Es muss allerdings als wirkliche Alternative zu den Politiken des bürgerlichen Lagers und natürlich zur AfD deutlich erkennbar sein und die erarbeiteten Grundpositionen den Mitgliedern und der Öffentlichkeit rechtzeitig zur Diskussion vorgelegt werden. Mögliche Regierungsprogramme können nur dann zwischen den drei Parteien solidarisch ausgehandelt werden, wenn sich die Zielvorstellungen der jeweiligen Parteien und damit der unterschiedlichen Stammwählerschaft darin widerspiegeln und dadurch gegenseitige Synergieeffekte erzeugt werden. Die größten Hürden dürften dabei die Einigung auf einen neue progressive Steuerolitik – und eines prioritären Ausgabeplanes sein, sowie die Strategie einer friedensstiftenden Europa- und Außenpolitik, die diesen Namen wirklich verdient.

 

3. Gegenwarts- und Zukunftsinteressen glaubhaft verbinden

Die Glaubwürdigkeit der drei Parteien hängt entscheidend davon ab, wie es gelingt, die politischen Forderungen für eine Legislaturperiode mit einer langfristigen gesellschaftlichen Zukunftsstrategie der drei Parteien deutlich zu verbinden. Dieses Bündnis macht politisch nur Sinn, wenn es tatsächlich über die bisherigen Grundprinzipien kapitalistischen Wirtschaftswachstum und der westlichen Außenpolitik substantiell hinausweist. Die ökologischen, sozialen und kriegerischen Schattenseiten der entfesselten kapitalistischen Globalisierung, von der wohlhabende Minderheiten durch erzielten Mehrwert, also nicht bezahlte Arbeit, bisher noch immer am aller meisten profitieren, ist seit weit über einem Jahrhundert durch Marx und Engels längst nachgewiesen. Die Profitmaximierung, als immer noch vorherrschendes gesellschaftliches Grundregulativ, zerstört und gefährdet sozial und ökologisch, durch Protektionismus, Wirtschaftssanktionen, Interventionen und Stellvertreterkriege immer noch millionenfach Menschenleben und Lebenschancen und ist zu einer Lebensgefahr für die gesamten Schöpfung geworden. Diese Zusammenhänge dürfen nicht länger verdrängt werden und sind durch ein Primat demokratischer Politik zurückzudrängen. Das aber kann nur gelingen, wenn der produzierte gesellschaftliche Reichtum, viel stärker als bisher durch Steuereinnahmen von hohen Privatvermögen abschöpft und zur Einebnung sozialer Spaltung und zum Klimaschutz umgesteuert wird. Erst durch die Einleitung einer solchen, dauerhaften Politikwende kann ein Linksbündnis Wählervertrauen und damit politische Gestaltungskraft gewinnen. Wenn die SPD in ihrem Programm von der Vision eines „demokratischen Sozialismus“, einer „freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft“ spricht, die am Ziel eines „Primats der Politik“ gegenüber dem „Ökonomischen“ festhält; wenn die Bündnis/Grünen nicht „beim Status quo stehen bleiben, sondern die Demokratie weiterentwickeln“ wollen, um zu „einer vielfältigen Demokratie mit direkten Beteiligungsmöglichkeiten“ zu kommen; Wenn schließlich die Linke, gleichfalls wie die SPD, von einem anzustrebenden „transformatorischen Prozess der gesellschaftlichen Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus“ spricht, der „von vielen kleinen und großen Reformschritten mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet“ sei, dann müssen diese Zielvorstellungen auch in jedem Regierungsprogramm des linken Parteienspektrums, mit seinen einzelnen, kleineren Reformschritten, als Glieder einer Kette innerhalb dieser Visionen, deutlich erkennbar und öffentlich auch konfliktfähig kommuniziert werden. Ansonsten stehen diese hehren programmatischen Ziele nur wie moralische Appelle auf dem Papier und führen deshalb zu weiterer Politikverdrossenheit bei den Wählern, weil sie die Verwirklichung dieser Ziele nicht in den kleinteiligen Reförmchen in ihrem Alltag überzeugend erleben.

 

4. Historisch verfestigte Spaltungstendenzen im linken Parteienspektrum überwinden

Um die vielfachen Entfremdungs - und Entsolidarisierungstendenzen zwischen Rot-Rot-Grün, bzw. auch im linken Spektrum der Zivilgesellschaft abzubauen, bedarf es eines „ökumenischen Prozesses“, um das historisch entstandene „Schisma“ der Spaltung, wie Antje Vollmer, es in Anlehnung an die Geschichte des Christentums unlängst nannte, endlich abzubauen. Die tiefen Animositäten und teils unnötigen Konkurrenzkämpfe zwischen SPD, Linkspartei und Grünen, basieren auf verfestigten Spaltungstraditionen, die einerseits bis 1914, anderseits in die kontroverse Aufarbeitung der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte vor und nach 1989 zurückreichen. Es sollte sich endlich die historische Grunderkenntnis durchsetzen, dass diese Spaltungen weder mit eindimensionalem Antikommunismus, noch eindiemnsionalem Antikapitalismus beizukommen ist, die diese Zerwürfnisse nur immer weiter zementieren. Auch hier gilt die Losung von Brandt und Bahr weiter: „Wandel durch Annäherung“. Es hat sich längst als historischer Irrglaube erwiesen, dass der globale soziale Wandel, auch zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert, nur einen einzig gangbaren Weg hervorgebracht hat, den westlichen Weg durch Sozialreformen des Kapitalismus. Da wird der primär evolutionäre Wandel apologetisch als ultimativer Maßstab aufgewertet und Revolutionen der antikolonialen, antiimperialen und antifaschistischen Befreiungsbewegungen, die sich aus, spätfeudaler, ökonomischer Rückständigkeit, sowie Kriegszerstörung zu befreien suchten, immer noch als „kommunistisch“ pauschalisiert und kriminalisiert. Das nannte bereits Thomas Mann, in Auseinandersetzung mit NS-Ideologie und auch westlichen Vorurteilen, die „Grundtorheit unsrer Epoche“. Dieser Antikommunismus ist bis heute Staatsdoktrin der Bundesrepublik und reicht bis in die Zeit vor 1945 zurück. Da werden immer noch das NS-System und kommunistische Regime als „Diktaturen“ begrifflich ahistorisch eingeebnet. Das trifft auch die Beurteilung der Linken, die aus dem „Reich des Bösen“ letztlich hervorgegangen seien. Es sollte hier endlich ein gerechter historischer Perspektivwechsel auch von der SPD ausgehen, der den globalen sozialen Wandel in Ost und West, Nord und Süd, als notwendig vernetzte, aber auch notwendig unterschiedliche Wege im 20. Jahrhundert begreift, um, teils revolutionär, teils evolutionär, nach einer Alternative zum imperialen Turbokapitalismus zu suchen. Beide Wege haben große soziale Emanzipationsschübe hervorgebracht, aber hatten auch bis heute bekanntlich erschreckende Repressionen und blutige Begrenzungen im historischen Gepäck. Es kommt im 21. Jahrhundert darauf an, die progressiven Innovationen beider Wege zu einer kritisch reflektierten Synthese zusammenzuführen, um sie, im Sinne einer Negation der Negation, aufzuheben. Gleichzeitig gilt es, die repressiven Momente beider Wege weiter zurückzudrängen. Diese neue linke Geschichtsauffassung, die die weitere Zurückdrängung der Profitmaximierung für Minderheiten, zugunsten von mehr sozialer, ökologischer und demokratischer Teilhabe von Bevölkerungsmehrheiten zum Ziel hat, kann heute das historisch Verbindende im linken Parteienspektrum sowie in der Zivilgesellschaft sein. Es ist ihr gemeinsames historisches Erbe. Der immer noch vorherrschende Antikommunismus in bürgerlicher Parteien, bei Historikern und Medien, blockiert dieses Erbe, spaltet und schwächt das linke Spektrum, spielt den rechten Nationalisten in die Hände und stabilisiert damit den Status quo.

 

5. Der AfD durch glaubwürdige Erneuerung sozial-ökologischer Innen- und Außenpolitik kontern

Schließlich kann die AfD und der rechte Nationalismus nur dann erfolgreicher bekämpft werden, wenn Rot-Rot-Grün sich stärker solidarisiert und die bündnispolitischen Fehler von vor 1933 keinesfalls wiederholt! Dabei ist außenpolitisch der Ausstieg aus der Rüstungsspirale, aus der fatalen Regime-Change-Kriegspolitik der NATO, insbesondere der USA, sowie eine nachhaltige Fluchtursachenbekämpfung vor Ort zwingend notwendig. Diese Politik kann nur auf einer Innen- und Außenpolitik basieren, die die soziale Spaltung hierzulande und international, Schritt für Schritt zurück drängt und das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Leben auch durch eine rasant beschleunigte Klimaschutzpolitik und fairen Handel mit exportfähiger Technologie vorantreibt. Die Initialzündung für eine solche Rot-Rot-Grüne Politik kann durch die Wahl einer neuen SPD-Parteispitze ausgehen, wenn sie sich öffentlich dazu bekennt. Erst das kämpferische Ringen um Rot-Rot-Grüne Regierungsbündnisse kann mittelfristig Meinungsführerschaft im öffentlichen Diskurs hervorbringen, die neue Wählermehrheiten dafür mobilisiert.

 

* Wolfgang Herzberg ist u.a. Autor vom Manifest der Teilhabe. Programmatische Grundbausteine für eine sozial-ökologische Zeitenwende, Verlag am Park, Berlin 2017.

Dieser Text erschien unter dem Titel Glaubhafte Linksbündnisse statt Spaltung! am 8.8.1990 in Der Freitag-digital: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/glaubhafte-linksbuendnisse-st...

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