Der Volksaufstand in Ecuador

Der Volksaufstand in Ecuador
(Bild von Fluxus Foto)
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Das Land ist seit fünf Tagen gelähmt und vorgestern, Mittwoch der 9. Oktober, wurde ein Generalstreik gegen die vom Regime in der vergangenen Woche beschlossenen wirtschaftlichen Maßnahmen verhängt, die die unter rascher Verarmung leidende Mehrheit der ecuadorianischen Bevölkerung noch stärker treffen wird. Bisher wurden 766 Personen in den verschiedenen Städten festgenommen.

Derart massive soziale Proteste verschiedener Teile der Gesellschaft und auf nationaler Ebene sind in den letzten dreißig Jahren nicht mehr vorgekommen. Fast 85 % der Straßen des Landes sind blockiert, seit Tagen nimmt die Mobilisierung der einheimischen Bauern nach Quito zu. Heute wird geschätzt, dass mehr als zwanzigtausend Menschen aus mehreren Provinzen des Andengebirges in die Hauptstadt geströmt sind.

 

Die große Mehrheit der Städte in den drei Regionen des Landes sind gelähmt oder zeigen geringe Aktivität, weil der städtische Verkehr gelähmt und die Straßen blockiert sind. Zusätzlich musste eine der beiden Pipelines, in diesem Fall der privaten OCP, den Transport von Rohöl wegen Flüssigkeitsmangels aussetzen, da mehrere Ölfelder von der Bevölkerung im Amazonas besetzt sind und die Förderung deutlich zurückging. Derzeit deuten die Schätzungen der Produktions- und Handelskammern darauf hin, dass sich die Verluste aufgrund der Mobilisierung und der Straßenblockade auf 700 Millionen USD pro Tag belaufen würden. Es stellt sich die Frage, ob es sich gelohnt hat, die Subventionen abzuschaffen, mit denen man hofft, jährlich etwa 1,2 Milliarden Dollar aufzutreiben. Auf der anderen Seite können 150.000 Gasflaschen nicht mehr wie bisher verteilt werden, was die Verluste sicherlich weiter erhöht. Der wichtigste Brennstoff für den Haushalt ist flüssiges Petroleumgas. Die Kurzsichtigkeit der Regierung ist offensichtlich.

 

Die Konfrontationen sowohl der städtischen wie der ländlichen Bevölkerung mit der Polizei und der Armee lösten einen akuten repressiven Prozess aus, der bisher mehrere Menschenleben und allein in Quito mehr als 400 Verletzte gefordert hat. Aus dem Rest des Landes sind keine Opferzahlen bekannt. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, wie schnell und effizient die indigenen Organisationen ihre allgemeine Mobilisierung nach Quito, aber auch nach Guayaquil, der Haupthafen des Landes gebracht haben, da sie zuvor mehrere Tage oder Wochen gebraucht hatten, um sich zu organisieren, was fast sofort mit der Ankündigung der wirtschaftlichen Maßnahmen begonnen hat.

 

Die beschriebene Situation, die von der Regierung genutzt wurde, um einen Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre mit der daraus folgenden Einschränkung der verfassungsmäßigen Garantien zu verhängen, ermöglichte eine Zunahme der Repression und die Verfolgung von politischen Führern und Journalisten. Auch ermöglichte es die totale Zensur eines öffentlichen Senders der Provinzregierung von Pichincha, der einzige, der eine kritische Stimme hatte und der die direkte Interaktion der Bürger ermöglichte, nachdem alle Medien gleichgeschaltet wurden und sie zu einem Teil seines Propagandaapparats machte.

 

Die harte Reaktion der Bürger wurde ausgelöst, nachdem das Regime eine Reihe wirtschaftlicher Maßnahmen angekündigt und umgesetzt hat, die Teil des typischen Rezeptbuches des IWF sind, das bisher an allen Orten gescheitert ist, an denen es angewendet wurde. Trotzdem hat das ecuadorianische Regime jedoch um die Unterstützung des Internationalen Währungsfonds ersucht, nachdem es hart daran gearbeitet hatte, den Boden für die Maßnahmen vorzubereiten. Dabei wurde auf das begrenzte Wissen der Bevölkerung, der Reichen und der Mittelschicht gesetzt und in einigen Fällen auch auf Teile der ärmeren Schichten, um mit den angeblichen Vorteile der wirtschaftlichen Maßnahmen zu überzeugen.

 

Die Propaganda wurde geschickt mit der Fiktion einer akuten Wirtschaftskrise vorangetrieben, die von der vorherigen Regierung geerbt worden sei. Diese Propaganda wurde von einem regelrechten ‚Tanz von Zahlen‘ einer angeblichen Verschuldung unterstützt, die im Begriff gewesen sei, das Bruttoinlandsprodukt einzuholen. Natürlich fielen diese Daten bei einer Überprüfung wie ein Kartenhaus zusammen, was die wahre Absicht des Präsidenten enthüllte, die er heute noch immer zu wiederholen bereit ist. Die Manipulation von Daten wurde festgestellt, als die Regierung dem IWF offiziell seine Wirtschaftszahlen im Rahmen der Verhandlungen über einen Kredit von rund 4,2 Mrd. US-Dollar präsentierte. Aber dass spielt keine Rolle mehr, da die naiven, ignoranten und interessierten Sektoren, alle mit großer wirtschaftlicher Macht versehen, sehr enthusiastisch waren, diese Maßnahmen zu unterstützen. In diesem Fall ist der kommerzielle Sektor, der Finanzsektor und ein Teil des produktiven Sektors gemeint. Zusammen bilden sie die Elite der realen Macht im Lande. Zahlreiche mittelmäßige, aber für Privilegien und Vergünstigungen begeisterte Politiker haben als politische Rampe in der Nationalversammlung gedient, um die Durchführbarkeit aller wirtschaftlichen Maßnahmen, die dieses Land in den Abgrund führen wird, zu ermöglichen.

 

Die jüngsten wirtschaftlichen Maßnahmen, die als Auslöser für die Frustration und Verzweiflung in der Bevölkerung dienten, bestanden in einem drastischen Anstieg der Kraftstoffpreise um 125 %, die seit dem Beginn des Ölbooms in den 70er Jahren subventioniert worden waren. Diese Subventionen, die nie in angemessener Weise auf die ärmste Minderheitengruppe ausgerichtet waren und in einem Land mit enormer wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ohne energieeffiziente Mobilitätsinfrastruktur, die ausschließlich von fossilen Brennstoffen abhängig ist, führt es zu einer weiteren Verarmung der Bevölkerung. Ein derart massiver Anstieg der Dieselpreise hat eine sofortige Preiserhöhung aller Grunderzeugnisse, insbesondere der Lebensmittel, die vom Transport mit diesem Kraftstoff abhängig sind, mit sich gebracht.

 

Trotz der numerischen Manöver, die das Regime anstrebt, um mit den angeblichen Vorteilen der Subventionsstreichung zu überzeugen, hat der Anstieg der Lebensmittelpreise bereits begonnen. Der inflationäre Prozess wird natürlich auf der Preisseite der Nachfrage angesiedelt sein. Dies ist erwähnenswert, weil mit den im Frühjahr 2019 ersten eingeführten wirtschaftlichen Maßnahmen, ein Prozess der Deflation ausgelöst wurde. Es ist nun zu erwarten, dass das Land in eine Stagflation fällt, die vielleicht eine der perversesten Situationen im makroökonomischen Prozess eines Landes ist, die Kombination aus Stagnation und Inflation. Produktive Stagnation gekoppelt mit der Inflation aufgrund hoher Preise zur Deckung einer Nachfrage.

 

Es muss festgestellt werden, dass es mehrere andere wirtschaftliche Alternativen gibt, die die Annahme der wirtschaftlichen Maßnahmen des IWF-Rezeptbuchs hätten verhindern können. Nach Angaben des ISIP der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Zentralen Universität Ecuadors würden beispielsweise bei einer Einschränkung der Steuerhinterziehung 2,3 Mrd. USD zur Verfügung stehen. Durch eine gezielte Kontrolle der Mehrwertsteuer würden zu den Einnahmen weitere 2,8 Mrd. USD hinzukommen. Wenn die Ausstände der 500 größten Schuldner an das Finanzamt eingezogen würde, stünden zusätzliche Mittel in Höhe von 2,6 Mrd. USD (1,5 Mrd. Firmenschulden und 1,1 Mrd. USD angefochtene Schulden) zur Verfügung. Dann würde die Gesamtfinanzierung 7,7 Milliarden US-Dollar betragen. Auf diese Weise hätte die Umsetzung dieser Maßnahmen weit mehr als die 4,2 Mrd. USD des IWF-Darlehens erreicht und die schädlichen Arbeits- und Steuerreformen wären nicht notwendig gewesen. Offensichtlich ist die „Regierung der Unternehmer“ wie sie   Präsident Moreno so gerne in der Öffentlichkeit bezeichnet, reine Prahlerei und überhaupt nicht daran interessiert, die reichen Sektoren des Landes zu zwingen, einen echten Beitrag zu leisten.

 

Ein weiterer Faktor, ist der Versuch, die Beschäftigungssituation zu ändern, die demnächst von der Nationalversammlung genehmigt werden muss, wenn die Exekutive den entsprechenden Gesetzesentwurf vorlegt. Weitere Änderungen beinhalten eine Kürzung der Urlaubszeit für Beamte um 50 % und die Verpflichtung, auf das monatliche Arbeitsentgelt eines Tages zu verzichten. Die Verringerung der Arbeitnehmerrechte für Neueinstellungen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor werden ebenfalls angestrebt. Die offizielle Ankündigung die bis Ende des Jahres zusätzliche 12.000 Beschäftigte im staatlichen Sektor zu entlassen, ist eine der Hauptsorgen der Bevölkerung. In Quito ist die Arbeitslosenquote in den letzten Monaten schon um 6 % gestiegen.

 

 

Die aktuelle Regierung hat in ungeordneter Weise  vorgeschlagen, die staatliche Infrastruktur und ihre öffentlichen Unternehmen zu privatisieren, von der Telefonie, über das Staatsmonopol der Treibstoffeinfuhr, sowie die Wasserkraftwerke und die staatliche Raffinerie. Der Euphemismus wiederholte sich unendlich, dass das Land am Rande des Konkurs stehen würde und es daher angemessen ist mit dem Abbau des Staates anzufangen, was eine Welle der Arbeitslosigkeit zur Folge hätte, mit der daraus resultierenden Erhöhung des Gini-Koeffizienten, die in der vorherigen Jahren verringert werden konnte. Folglich wird das Land und wir, seine Bewohner, nicht nur geschlagen und verarmt, sondern auch ohne das Erbe der historisch besten Infrastruktur dastehen, die unter der vorherigen Regierung aufgebaut worden war.

 


Jorge Jurado war von 2011 – 2016 Botschafter der Republik Ecuador in Berlin. Zuvor war er Wasserwirtschaftsminister, Staatssekretär für Bergbau sowie Direktor für Umweltfragen bei der Stadtverwaltung von Quito. Bis 2004 war Jorge Jurado als Dozent an der Universität San Francisco in Quito und an der Lateinamerikanische Fakultät für Sozialwissenschaften zu verschiedenen Umweltthemen tätig. Er hatte an der Technischen Universität Berlin Energietechnik und Verfahrenstechnik studiert.

 

Artikel übernommen mit freundlicher Genehmigung von Pressenza

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