Idlib

Personen: 

Die europäische Haltung der Türkei gegenüber erinnert an das Sprichwort ´Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“ Obwohl NATO-Mitglied und theoretisch auch immer noch Beitrittskandidat für die EU, erfüllt sie nicht nur die hehren Ziele dieser Verbünde nicht, sondern tanzt auch noch ständig aus der Reihe, z. B. mit ihren verschiedenen Invasionen auf syrisches, bzw. syrisch-kurdisches Gebiet. Und manch Europäer fragt sich bereits, was die Türkei eigentlich im Nordwesten Syriens, in der Provinz Idlib, noch zu suchen habe, wird sie doch von syrischem und russischem Militär massiv angegriffen.

Realiter kämpft die Türkei um die Begrenzung des Schadens, den sie selbst durch das Desaster des Syrienkriegs erlitten hat. Und mit der Grenzöffnung nach Europa für Flüchtlinge, die vorerst gar nicht aus Idlib kommen, erinnert sie nur daran, dass eine Verantwortung für ein gemeinsames missglücktes Unternehmen auch gemeinsam getragen werden müsste.     

 

Beinahe vergessen ist, dass seit 2011 durchaus mit lebhafter Unterstützung von EU und NATO über die Grenze zwischen der Türkei und Idlib große Kontingente an Waffen und Kämpfern nach Syrien geschleust wurden, um die Assad-Regierung zu stürzen. Selbstverständlich verfolgte die Türkei dabei auch eigene Ziele, die ihrer Bevölkerung als Erneuerung des osmanischen Reiches dargestellt wurden. Als Unterstützerin der stärksten syrischen Oppositionsgruppe, der Muslimbrüder, die 2011 ihren militärischen Arm ´Freie Syrische Armee´ in der Türkei gegründet hatten, erhoffte sich Recep Erdogan das in Damaskus herrschende laizistische Regime durch eine sunnitisch dominierte Regierung zu ersetzen. Daran war auch Saudi Arabien und dessen Rivale, Ankaras Verbündeter Katar interessiert, das mit Assad u. a. wegen der Verweigerung einer Baugenehmigung für eine Ölpipeline im Clinch lag.

 

Was die USA betrifft, wird heute nur noch über ihren Einsatz bei der Bekämpfung des Islamischen Staates gesprochen. Dabei ist bekannt, dass sie seit langem die Zerschlagung des Irak und Syriens geplant haben und dabei die kurdische Karte spielen. Dass unter Barack Obamas Regierung das US-amerikanische Engagement offiziell auf die Zusammenarbeit mit den Kurden zurückgefahren wurde, ist manchen Europäern, die sich einen Durchmarsch westlicher Verbündeter bis Damaskus erträumt hatten, bis heute ein Dorn im Auge. Allerdings können die Irak und Syrien betreffenden Kriegsziele der USA durchaus als vorerst erreicht gelten.

 

Um sich nicht allzu schäbig gegenüber den verbündeten Kämpfern in Syrien zu zeigen, hatten Donald Trump und Kronprinz Salman von Saudi Arabien bei dessen Antrittsbesuch in Washington im März 2017 einen Plan ausgeheckt, den die allmählich Oberhand gewinnende syrische Seite offenbar akzeptiert hat: Von der Regierungsarmee besiegte bewaffnete Kampfgruppen sollten sich in auszuweisende „Schutzzonen“ zurückziehen dürfen.     

        

Es hat mehrere solcher Deeskalationszonen gegeben, vor allem im Südosten Syriens. Heute ist davon nur noch Idlib übrig, dem Ausgangs- und Endpunkt der Invasion. Die gegen Assad verbündeten Staaten haben sich heute auf die Gewährung von humanitärer Hilfe für Idlib beschränkt. Sie wird von den Medien als „Hilfe für Syrien“ ausgegeben, obwohl die von dessen Armee zurück eroberten Gebiete weder etwas von diesen Hilfsgütern erhalten noch von umfangreichen Boykotten befreit wurden, die nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch medizinische Produkte und vieles mehr betreffen.

 

Abgesehen von noch fortbestehender Ausspähhilfe durch eine deutsche Awac-Maschine ist die Türkei militärisch jetzt allein zuständig für den Schutz der in Idlib konzentrierten bewaffneten Gruppen. In der Hoffnung, sich dauerhaft niederlassen zu können, plante die stärkste Gruppe, die aus der Nusra-Front hervorgegangene Hayat Tahrir asch-Scham (Komitee zur Befreiung der Levante), in Idlib ein kleines salafistisches Kalifat zu errichten. 

 

2018 kam es zu einem Abkommen zwischen den syrischen Schutzmächten Russland und Iran einerseits und der Türkei andererseits, wonach um Idlib ein von diesen drei Staaten überwachter demilitarisierter Schutzgürtel entstehen sollte, in dem sich weder die syrische Armee noch bewaffnete Kräfte aus Idlib aufhalten dürften. Der Türkei kam die Aufgabe zu, die bewaffneten Gruppen, die sich nicht zu Unrecht als ihre Verbündeten betrachteten, ruhig zu stellen. Das war schwierig und voraussehbar nur ein Spiel auf Zeit. Aus Idlib wurden Gebiete bis nach Aleppo hinein regelmäßig mit Raketen beschossen. Und die syrische Regierung hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie die Provinz Idlib zurückerobern würde.

 

Dass dieser Vormarsch von einem Konsultationsverfahren zwischen Ankara und Moskau begleitet wird, kann nur als vernünftig bezeichnet werden, zumal die Türkei bei ihrem Versuch, sich nach wie vor als Verbündete der ´Rebellen` zu erweisen, schmerzhafte Verluste an Soldaten erleidet. Tatsächlich muss sie versuchen, sich gegen künftige terroristische Racheakte enttäuschter Verbündeter zu schützen.  So bleibt vorerst offen, was mit den überlebenden Anti-Assad-Kämpfern geschehen soll. Für sie versuchte die Türkei durch etliche Invasionen, eine etwa 30km breite Schutzzone entlang der gesamten Grenze zu Syrien schaffen. Betroffen sind auch kurdische Siedlungsgebiete – aus der Gegend um Afrin mussten 2018 eine halbe Million Kurden fliehen.

 

Nicht nur die NATO, einschließlich der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, hat sich positiv zum Plan einer solchen Schutzzone geäußert. Auch Russland wandte  sich nicht ausdrücklich dagegen. Es ist daher wahrscheinlich, dass in den gegenwärtig anstehenden türkisch-russischen Konsultationen der vorläufige Verbleib türkischer Stützpunkte in Idlib vereinbart wird, während die syrische Armee an ihnen vorbei weiter vordringt.

 

Nach dem Abklingen der Kämpfe in Südostsyrien konnte die teils nach Jordanien, teils sogar in von  Israel kontrollierte Zonen geflohene Zivilbevölkerung zurückkehren. Das ist auch für die Menschen aus Idlib denkbar, selbst, wenn die ganze Provinz oder ihr größter Teil wieder unter syrischer Verwaltung steht. Letzteres sollte kein Grund sein, ihnen dann humanitäre und Aufbauhilfe zu verweigern.

 

* Dieser Artikel erschien unter dem Titel Letzte Ausfahrt Idlib in Der Freitag no. 10 v. 5. 3. 2020, S. 1.             

Syrien