Florida-Rolf ist jetzt Muslim

Charlotte Wiedemann
Foto: Anette Daugardt
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Charlotte Wiedemann hat mit ihren Reportagebüchern eindrückliche Innensichten insbesondere von islamischen und afrikanischen Ländern vermittelt. In ihrem letzten Buch über den Langen Abschied von der weißen Dominanz geht es um die kulturelle Spannung zwischen den Menschen, für die sie den Begriff langheimisch deutsch erfand und den „Anderen“ samt ihrem heimischen Hintergrund.  

Nicht nur das Jammern der Industrie über abnehmende deutsche Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt, auch die zugenommene Migration haben die Sorge ausgelöst, dass die bislang als selbstverständlich angenommene Hegemonie des weißen Westens bröckelt. Aber sollten wir das negativ sehen?“ Oder nicht vielmehr die Tatsache anerkennen und Wege suchen, damit umzugehen? Wiedemann stellt klar, dass 510 Millionen Europäer und 325 Millionen US-Amerikaner nicht mehr eine Menschheit dominieren werden, die demnächst acht Milliarden zählt. Aber auch wegen des drängenden Klimaproblems entgleitet uns die angemaßte Kontrolle über den Planeten. Viele Probleme können nur noch global gelöst werden, auf Basis der Gleichberechtigung der Völker. Es geht um mehr als die Frage, wie viele Migranten Deutschland verkraften kann, sondern um die Notwendigkeit einer neuen Lebensweise im Westen. Das heißt auch: kulturellen Ballast abzuwerfen, wofür uns die Gegenwart der Migranten die Gelegenheit böte. Aber mit dem Schüren von Rassismus wollen rechte Ideologen für benachteiligte „Weiße“ einen Sündenbock schaffen. Er ersetzt heute das ältere Klischee vom sozialschmarotzenden „deutschen Sozialhilfeempfänger, der sich einen schönen Lenz macht: Florida-Rolf ist jetzt Muslim“.

 

Wiedemann beschreibt, dass sie selbst – infolge des eliminatorischen Rassenwahns der Nazis – in einer ethnisch homogenen Umwelt aufwuchs, wo ein unordentliches Kinderzimmer mit Zuständen bei den „Hottentotten“ verglichen wurde. Niemand erklärte ihr, dass es sich um eine herabsetzende Verballhornung des Stammesnamens der Khoikhoi handelte, denen auch die Herero und Nama angehören. Unbekannt blieb ihr auch, dass das deutsche Kolonialheer zwischen 1904 und 1908 einen Genozid an den Khoikhoi verübte, über den wir bis heute „unfähig sind zu trauern“. Wir haben uns nicht einmal entschuldigt oder gar Reparationen in Erwägung gezogen.

 

Symptomatisch für das Ausblenden deutscher Kolonialverbrechen ist der Streit um das Humboldt-Forum, das in vermeintlicher Unschuld plante, Prunkstücke der ethnographischen Sammlungen im Preußischen Kulturbesitz als Beweis für die Weltoffenheit Deutschlands auszustellen. Nur, weil Frankreich beschloss, seinen ehemaligen Kolonien solche Kulturgüter zurückzugeben, dämmerte es auch hier, dass die Ausstellung im Schloss vieles infrage stellen würde, was wir bislang „als aufgeklärtes wissenschaftliches, gar humanistisches Interesse empfunden haben“. Plötzlich rückt ins Bewusstsein, dass das „Sammeln, auswerten, präsentieren […] eine bevorzugte Kulturtechnik im Umgang mit den Kolonisierten war“, identisch mit der Klassifizierung von Pflanzen, Mineralien und Tieren. „Zugleich galt es nachgerade als Ausweis von Wissenschaftlichkeit, das Gegenüber nicht an der Erforschung seiner selber zu beteiligen – so wie Insekten nicht an Insektenforschung beteiligt sind.“

 

Provinienzforschung, die sich bisher auf enteigneten jüdischen Besitz beschränkte, wird endlich auch bezüglich Geraubtem aus deutschen Kolonien betrieben. Vorerst dürfen nur Gebeine von Afrikanern, die im Dienste der „Rassenkunde“ nach Deutschland verschleppt wurden, die Heimreise antreten. Bei einer Übergabezeremonie bat ein Kirchenrat anwesende Nachkommen der Opfer: „Bitte, erzählt uns eure Geschichte so, dass wir sagen können: Ja, das ist auch unsere Geschichte.“ Wiedemann fand, dass zunächst die Deutschen in einer Weise vom Genozid erzählen müssten, dass sich Herero und Nama darin wiederfinden. Eine „so anmaßende Forderung“ sei schließlich „nie an die Opfer der Shoah gestellt“ worden. Die Anerkennung der Shoah als größtes Verbrechen der Deutschen dürfe nicht bedeuten, ähnliche Verbrechen zu verdrängen. 

 

Unsere Sicht auf Geschichte und Gegenwart muss multiperspektivisch werden und mögliche Wege der Annäherung sind energischer zu beschreiten. Dazu gehört vor allem die Anerkennung, dass die westliche Hegemonie für viele andere Völker Jahrhunderte der Katastrophen waren und heute noch sind. Z. B. wenn der Abbau von Lithium für Batterien, die aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken sind, in Chile die ökologischen Lebensgrundlage von Bauern zerstört. Es ist nicht verwunderlich, dass daraus ein universeller Anspruch auf Freizügigkeit erwächst. 

 

Wiedemann verweist auf den indischen Historiker Dipesh Chakrabarty, der die Janusköpfigkeit der europäischen Tradition der Aufklärung hervorhob. Einerseits habe sie wie keine andere Zivilisation Visionen universeller Gleichheit und Gerechtigkeit sowie die modernen Waffen der Kritik erzeugt,  andererseits auch die Gedankenwelt des Kolonialismus. Immerhin stützten sich die vom Kolonialismus befreienden Völker auch auf das universalistische Gedankengut der Aufklärung. Dieses Erbe in Europa wieder zu kräftigen wäre nötig, um die noch virulente Kluft zwischen der weißen und der nichtweißen Welt zu schließen.

 

Erst nach Fertigstellung von Charlotte Wiedemanns Buch hat Benedicte Savoy, die im Auftrag des französischen Präsidenten die Möglichkeiten erforschte, geraubte Kulturgüter an die Ursprungsländer zurückzugeben, Dokumente gefunden, wonach die DDR bereit war, mit afrikanischen Ländern, z. B. mit Benin, über solche Restitutionen zu verhandeln. Sie kamen wegen der Wende nicht zustande und haben bis heute nicht stattgefunden.          

 

* Diese Rezension zu Charlotte Wiedemann: Der lange Abschied von der weißen Dominanz, DTV, München 2019 erschien in kürzerer Form unter dem Titel Die Lücken schließen in: Junge Welt v. 12. 3. 2020, Literaturbeilage, S. 22. 

Charlotte Wiedemann

Foto: Anette Daugardt