Eine Wende in Libyen?

Eine Wende in Libyen?
Bild Fayez al-Sarraj: Brigitte N. Brantley, Fayez al-Sarraj in Washington - 2017 (38751877521) (cropped), CC BY 2.0 Bild General Haftar: Magharebia, General Haftar, CC BY 2.0 Bild Flagge Libyen: pixabay
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Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein präsentierte Anfang des Jahres in Kiel eine Ausstellung mit Fotos, die auf dem Freitagsmarkt El Aljuma in Tripolis aufgenommen wurden. Sie zeigten sowohl Flüchtlinge als auch Einheimische beim Tausch jämmerlichster Altwaren. Und sie offenbaren einen erschütternden Zustand der Verelendung auch der autochthonen Bevölkerung, wie man ihn eigentlich nur noch von Fotos aus arabischen Ländern vor dem 2. Weltkrieg oder allenfalls aus dem Jemen kennt. Bei diesen Menschen kam schon lange nichts mehr an aus den Öleinnahmen, die die Tripolis beherrschende, von der UNO „anerkannte“ Regierung von Fayez es Sarradsch erzielt. Die Petrodollars werden jedoch von Milizen abgegriffen und vor allem für Waffenkäufe gebraucht, um der von Khalifa Haftar befehligten Libyschen Nationalarmee standzuhalten. Diese beherrscht den Osten und den Süden des Landes, hatte auch Städte im Westen erobert und belagert seit Monaten die Hauptstadt. Ob Haftar sie wirklich gewaltsam einnehmen wollte, ist nicht ausgemacht. Bekannt ist, dass er einem Großteil der dort in Milizen organisierten Libyern anbot, die Waffen niederzulegen und sich ihm anzuschließen – wie es in anderen Landesteilen bereits geschehen war. Darin hat er sich wahrscheinlich auch deshalb getäuscht, weil sich diese Milizen zu erheblichen Teilen aus islamistischen Kämpfern aus anderen Ländern zusammensetzen.

Im April schon ist die militärische Initiative auf die Milizen Sarradschs übergegangen, die nun bereits auch als Armee bezeichnet werden. Der offenbar stark in Bedrängnis geratene Haftar bietet jetzt einen Waffenstillstand und Verhandlungen an. Sekundiert wird er dabei von seinem Hauptverbündeten, dem ägyptischen Präsidenten Al Sisi, der nach wie vor verlangt, dass eine Vereinbarung auch die Entwaffnung nichtlibyscher Kämpfer beinhalten muss. Darauf will Sarradsch jedoch nicht eingehen.   

 

Die militärische Wende war nur möglich, weil das von der UNO schon lange verhängte und auf den beiden internationalen Libyen-Konferenzen in Moskau und Berlin Anfang des Jahres von vielen Staaten bekräftigte Waffenembargo trotz aller gegenteiliger Behauptungen und etlicher Scheinaktivitäten nicht umgesetzt wurde. Ungehindert konnte die Türkei, die sich das diplomatische Chaos um das nordafrikanische Land auch für eigene Zwecke zunutze machen will, ein ganzes Raketenabwehrsystem an die Regierung Sarradsch liefern, das das Vordringen von Haftars Truppen in die Hauptstadt künftig unmöglich machen soll. Die Türkei hat aber nicht nur Defensivwaffen über das Mittelmeer geschippert, sondern vor allem militärische Angriffswaffen und – nach eigenen Angaben – auch Soldaten und Berater. Unbewiesen sind jedoch Berichte, wonach Haftar wiederum seit längerem von etwa tausend, durch Russland instruierte Berater unterstützt wird, sondern im Mai auch mindestens sechs Jagdflugzeuge des Typs MIG 29 und zwei Kampfflugzeuge vom Typ Suchoi 24 erhalten hat. Sie sollen aus Syrien gekommen sein und auch syrische Hoheitszeichen getragen haben.

 

Zu effektivem Einsatz auf Seiten der LNA sind dieses Geräte jedenfalls noch nicht gelangt, wohl aber die zur Unterstützung von Sarradsch nach Libyen geschickten und von türkischen Spezialisten logistisch geführten Offensivwaffen. Damit konnte die Armee Sarradschs in Windeseile Städte im Westen Libyens zurückerobern. Gegenwärtig befindet sie sich im Vormarsch auf die strategisch bedeutende Stadt Sirte, dem wichtigsten Umschlaghafen für den Export von Öl. Dass die Ausfuhr  libyschen Öls wegen der Corona-Krise um 97 % zurückgegangen ist, könnte nur längerfristig die Manövrierfähigkeit der beiden Parteien beeinflussen. Ihre Kriegskassen sind bestens gefüllt. Es ist ein Paradox des Konflikts, dass man sich die Einnahmen bislang noch teilt.

 

Schlaglichter auf die Lebenssituation der am meisten benachteiligten Menschen in Libyen wie die Ausstellung in Kiel sie bot, gelangen seltener an die hiesige Öffentlichkeit als Berichte aus anderen Krisengebieten. Obwohl den Libyern 2011 großmundig versprochen wurde, dass sie nach dem Sturz Gaddafis selbstbestimmt leben könnten, waren sie nie fremdbestimmter als jetzt. Und sie sind einer Verelendung ausgesetzt, wie sie sie nie gekannt haben. Das lässt bezweifeln, ob es überhaupt noch um die Erringung politischer Freiheiten geht. Jedenfalls wurde das Land zum Spielball fremder Staaten, die auch noch untereinander konkurrieren. Das ist vor allem der Fall von Italien und Frankreich, die sich Zugriffsrechte auf libysches Öl streitig machen. Den anderen europäischen Ländern, auch Deutschland, geht es eher um die Gewinnung von geostrategischem Einfluss in dem großen Land, dass unter Gaddafi bestrebt war, einen eigenständigen Block afrikanischer Länder zu schmieden. Libyen eher regional einzubinden anstatt es der Europäischen Union anzunähern, scheint auch Khalifa Haftars Ziel zu sein. Medial wird freilich nur vermittelt, dass der Einfluss Russlands in Libyen zurückgedrängt werden muss. 

 

Es gibt ein weiteres, öffentlich kaum verhandeltes Motiv, weshalb die Sarradsch-Regierung unterstützt wird. Die in dessen Milizen kämpfenden nichtlibyschen islamistischen Kräfte, die bereits in anderen Teilen der Welt gekämpft haben, möchte Europa ebenso wenig als Asylanten aufnehmen wie die islamistischen Kämpfer, die die syrische Armee in die Provinz Idlib abgedrängt hat. So erklärt sich jedoch, wieso Erdogan, der wegen fortlaufender Verletzung von demokratischen Standards und Menschenrechten im eigenen Land kritisiert wird, dennoch als militärische Speerspitze der EU und der NATO nicht nur in Syrien, sondern nun auch in Libyen aktiv werden darf. 

 

Die geschäftlichen Praktiken, die Sarradschs Milizen gegenüber den zahlreichen, in Libyen gestrandeten Flüchtlingen anwenden, hat Bündnis 90/ Die Grünen übrigens dazu gebracht, einem bereits vage erwogenen militärischen Beitrag der Bundeswehr im Rahmen eines internationalen Einsatzes in Libyen, eine Absage zu erteilen.          

 

Noch ist nicht entschieden, ob die militärische Wende dauerhaft ist und zu einer Stabilisierung von Staatlichkeit in Libyen führt. Wie diese auch immer aussieht, prioritär wäre, dass die Bevölkerung endlich wieder eine Perspektive normaler Lebensverhältnisse bekommt. Auch die Nachbarländer Tunesien und Algerien wünschen sich vor allem eine legitimierte libysche Regierung, die ein verlässlicher Ansprechpartner ist. Ebenso wünschenswert wie das Zustandekommen einer dauerhaften Vereinbarung zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban in Afghanistan ist, sollte das auch  im Falle Libyens das Anliegen der Europäer sein – ungeachtet der Bewertung der Konfliktparteien.

 

* Dieser Artikel erschien unter dem Titel Chalifa Haftar in Bedrängnis in: Der Freitag no.25 v. 18. 6. 2020, S. 9.         

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Bild General Haftar: Magharebia, General Haftar, CC BY 2.0

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