(Wirtschafts-)Krieg gegen Russland

Für Angela Merkel ist zweifelsfrei nachgewiesen, dass Alexej Nawalny Opfer eines versuchten Mordes mit einem Nowitschok-Gift ist. Die 30 NATO-Mitglieder, die sich am 4. September zum Fall Nawalny berieten, sprachen daraufhin von einem „eklatanten Völkerrechtsbruch“. Generalsekretär Stoltenberg: "Die NATO sieht jeden Einsatz von chemischen Waffen als eine Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit". Diese Formulierungen entsprechen Kapitel VII der UN-Charta, das sich mit „Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens...“ befasst; wenn der Weltsicherheitsrat eine solche Situation feststellt, kann er gegen den Verursacher alle möglichen Formen von Sanktionen beschließen - bis hin zum militärischen Eingreifen. Nun ist die NATO nicht der Weltsicherheitsrat, aber wenn sie die Begriffe aus der UNO-Charta benutzt, platziert sie sich in dessen Nähe oder an dessen Stelle. Derzeit pochen die NATO-Mitglieder wie auch die EU-Staaten noch auf Aufklärung durch Russland und eine internationale Untersuchung, noch sind sie auf der Suche nach einer, wie es heißt, „angemessenen gemeinsamen Reaktion“; vielleicht auch, weil sie untereinander dazu (noch?) nicht einig sind? Das dicke Ende kommt nach.

Zweifelsfrei erwiesen?

Andrej Nawalny ist auf dem Flug vom sibirischen Tomsk nach Moskau im Flugzeug zusammengebrochen. Noch bevor er den Ural erreicht hatte, landete seinetwegen der Flieger in Omsk. Die Ärzte im dortigen Krankenhaus hatten bei ihrem Notpatienten eine schwere Stoffwechselerkrankung diagnostiziert. In Deutschland sprachen die Ärzte der Charité von einer „mutmaßlichen Vergiftung“, erst das Labor der Bundeswehr präsentierte ein „zweifelsfreies“ Ergebnis: Es war Nowitschok! Ausgestattet mit dieser Wahrheit, werden die Ärzte in Omsk und ganz Russland als unfähig oder als willfährige Vollstreckungsgehilfen des Kreml klassifiziert. Da blitzt er wieder auf, der Dünkel von Herrenmenschen.

Das Nervengift wurde in der Sowjetunion entwickelt. Entsprechend der Konvention über die Ächtung von Chemiewaffen wurde Russland im Jahr 2017 chemiewaffenfrei – im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, die bis heute Chemiewaffen besitzen. An drei von sieben russischen Vernichtungsanlagen war übrigens der Böblinger Anlagenbau Eisenmann beteiligt. Dass ausgerechnet der Staat, der den entscheidenden Beitrag geleistet hat, dass Syrien 2013/14 seine Chemiewaffen international beseitigen ließ, selbst welche gebunkert hat, ist eher unwahrscheinlich.

Ab hier wird jetzt alles etwas spekulativ: Für wie blöd halten die Putin eigentlich? Wer hat Interesse an einer vergifteten Atmosphäre,? Warum jetzt? Beginnen wollen wir mit: Wer war der, wer waren die Täter? Woher stammt das mögliche Gift? War es wirklich Nowitschok?

Das mag sein. Aber eine so schwerwiegende Vergiftung kann doch erst ohne jeden Zweifel festgestellt werden, wenn mindestens eine zweite, besser: mehrere Untersuchung von zweifelsfrei unabhängigen Laboren stattgefunden haben. Bei jeder mittleren Operation holen sich Patientinnen, Patienten eine zweite Meinung ein, das soll für einen „Völkerrechtsbruch“ nicht gelten? Warum stellt das Labor der Bundeswehr die Proben dann nicht auch den russischen Ärzten zur Verfügung, die darum gebeten haben? Warum hat das Bundesjustizministerium bis heute (am 05.09.2020) das Rechtshilfeersuchen der russischen Generalstaatsanwaltschaft vom 27. August 2020 in Sachen der Krankenhauseinlieferung von Alexej Nawalny unbeantwortet liegen lassen?

Angesichts dieser Fragen von einem „zweifelsfreien“ Beweis zu sprechen, ist zumindest leichtfertig (Dietmar Bartsch: „Die selten harte Reaktion der Bundesregierung ist angemessen“), wenn nicht interessengeleitet, das gilt für Angela Merkel, NATO, EU und allemal für die US-Administration.

 

Für wie blöd halten die Putin eigentlich?

Jetzt zur nächsten Spekulation: Wer waren die Täter?

Die einen sagen „der Kreml“, manche sogar „Putin“. Man kann davon ausgehen, dass sich ein Spezialflugzeug mit Intensivstation, deutschem Arzt und zwei Sanitätern nicht ohne Zustimmung „höherer Stellen“ im Russischen Luftraum bewegen kann, weder rein noch raus. Wenn „der Kreml“ seinen rechtsnationalistischen Kritiker hätte umbringen wollen, hätte es einfachere, bessere, „sicherere“ Wege gegeben als ausgerechnet den über Berlin.

Andere sagen: Es könnte die Tat eines der russischen Geheidienste oder selbsternannter Rächer aus deren Umfeld gewesen sein. Auch das kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht zweifelsfrei ausgeschlossen, es darf aber durchaus angezweifelt werden. Weshalb z.B. käme nur ein russischer Geheimdienst infrage? Oder: Wenn es (ehemalige?) Agenten in eigenem Auftrag, also Kriminelle, gewesen sein sollten, weshalb wollen dann NATO und EU die russische Regierung bestrafen?

Solange diese Fragen nicht beantwortet sind, kann eine Analyse von Interessen weiterhelfen.

 

Wer hat Interesse an einer vergifteten Atmosphäre

Der Fall Nawalny vergiftet die Atmosphäre zwischen Deutschland und Russland wie zwischen „dem Westen“ und Russland.

Vielleicht etwas ruppiger als andere Mainstream-Medien hier beispielhaft ein Kommentar aus der Frankenpost: „Dieser feige und hinterhältige Anschlag ist nur ein Mosaiksteinchen mehr: Im Reich Putins herrschen Unterdrückung und Entrechtung – unter dem Deckmantel einer vorgeblichen, tatsächlich aber von autokratischen Strukturen gelenkten Demokratie. Meinungsfreiheit gibt es nicht, Oppositionelle befinden sich in stetiger Lebensgefahr. Es ist höchste Zeit für den Westen, die Samthandschuhe auszuziehen und mit Putin Klartext zu reden. Wer Geschäfte macht mit einem Despoten verrät Demokratie, Freiheit und die Menschenrechte. Diese Werte sind wertvoller als alles Erdgas.“

Diese Tonlage können Politiker auch. Im Spiegel-Interviewbehauptet Annalena Baerbock, Grünen-Vorsitzende, es gäbe „eine Serie von russischen Auftragsmorden und Mordanschlägen. Da können wir Europäer nicht einfach zum Tagesgeschäft übergehen.“ Und auf Nachfrage: „Eine klare Antwort der Bundesregierung wäre, das Projekt Nord Stream 2 unverzüglich zu stoppen. Die Bauarbeiten in Mecklenburg-Vorpommern sollten dauerhaft eingestellt werden.“ Im selben Organ sagt im Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages und Vorstandsmitglied der Atlantik-Brücke in anderen Worten dasselbe: Wenn jetzt Northstream 2 zu Ende gebaut würde, „wäre das die maximale Bestätigung und Ermunterung für Russlands Präsident Wladimir Putin, genau mit dieser Politik fortzufahren.“

 

Wer hat Interesse an diesem Hass?

Russland und russische Regierung nicht. Sie wirbt um Kooperation und Verständigung in gegenseitigem Interesse – anhaltend und immer noch.

Eigentlich hätte die deutsche Regierung auch kein Interesse an Spannungen mit Russland und konkret daran, Northstream 2 auf den letzten Metern zu versenken. Mit dem erwarteten russischen Erdgas könnte Deutschland schließlich 40 Prozent seiner Stromerzeugung sichern. Trotzdem ist die Bundesregierung aktiver Teil der aktuellen Spannungen. Wie in Russland außerplanmäßig kein ausländisches Flugzeug einfach so landen kann, wird umgekehrt ein Spezialflugzeug mit dem Auftrag, Nawalny zu holen, nicht ohne Wissen und Unterstützung „höherer Stellen“ abgehoben haben. Angela Merkel hat auch gegenüber ihren NATO-Kollegen keinerlei Zweifel daran gelassen, dass die russische Regierung (wie auch immer) in diese Sache involviert sei.

Endlich verfolgt die US-Regierung Interessen. Sie antwortet auf den drohenden Verlust der Vormachtstellung ihres Landes mit einem „hybriden Krieg“ aus Waffengängen, Drohnenmorden, Sanktionen, Aufkündigung internationaler Verträge und Schwächung internationaler Organisationen, mit versuchten oder erfolgreichen Putschen wie in Venezuela und Bolivien, dazu gehört auch Brasilien, mit angestrebten Regimechanges wie seit langem in Syrien, aktuell im Libanon, Honkong oder Belarus, mit Säbelrasseln wie Defender 2020 oder Flottenarmadas vor chinesischen Küsten oder im Schwarzen Meer. Ihre ausgemachten Hauptgegner sind China und Russland.

 

Warum jetzt?

Die „tektonische Kräfteverschiebung“ (Erhard Crome) in der Welt bildet den Hintergrund von der Einkreisung Russlands und den gefährlichen Spannungen in Europa. Aktuell spielt wohl die anstehende US-Präsidentenwahl eine Rolle, vor allem aber der letzte Bauabschnitt von Northstream 2, so Gregor Gysi im Interview mit dem ARD-Hauptstadtstudio wörtlich: "Sie wissen ja, wie groß der Druck der USA war, dass man das sein lässt. Und es ist die letzte Chance, das noch zu verhindern."

In welchen Formen dieser Druck ausgeübt wird, zeichnet Wolfgang Bittner in den Nachdenkseiten vom 04. September d.J. plastisch nach. Er zitiert den hemdsärmelig-aggressiven US-Botschafter Grenell vom Mai d.J., der seine Forderung nach einer anderen Russlandpolitik in diese Worte (ent-)kleidet: „Deutschland muss aufhören, die Bestie zu füttern, während es zugleich nicht genug für die Nato zahlt.“ Der US-Kongress verabschiedete 2019 sogar ein paternalistisch klingendes „Gesetz zum Schutz von Europas Energiesicherheit“, das Sanktionen gegen Firmen vorsieht, die sich am Weiterbau der Pipeline beteiligen. Inzwischen droht die US-Regierung allen Unternehmen und Häfen, die direkt oder indirekt mit dem Pipeline-Bau zu tun haben, mit empfindlichen Strafen. Das Ganze hat einen klaren ökonomischen Hintergrund: Die Fracking-Industrie der USA ist von Stützungen der Notenbank abhängig und nahezu pleite (s.auch: Frack off, Amerika: Telepolis, 3. Juli 2020).

 

Bisschen viel auf einmal

Nawalny und die Folgen in der Politik der westlichen Wertegemeinschaft rütteln am ohnehin fragilen Frieden in Europa. Doch es bleibt nicht bei diesem einzelnen Konflikt. In rascher Folge kommt eins zum anderen. Norbert Röttgen stellt im Spiegel (28.8.2020) einen Zusammenhang zwischen dem „Mordversuch an Nawalny“ und der „bedingungslosen Unterstützung des Diktators Lukaschenko“ durch Russland her, wenn er sagt: Es sei „ein innenpolitisches Muster der Unterdrückung, … die Verletzung auch nur eines Mindestmaßes an Zivilität in unserem Europa“, und das sei auch das Muster der russischen Außenpolitik unter Putin.

Das Ende eines, um Röttgen zu zitieren, „Mindestmaßes an Zivilität“ gegenüber der Russischen Politik ist nicht abzusehen. Am 07. Oktober beginnt vor dem 2. Strafsenat des Berliner Kammergerichts der Prozess zum Tiergartenmord. Die Bundesregierung sieht bekanntlich eine Beteiligung Russlands am Mord eines tschetschenischen Exilgeorgiers. Außenminister Maas hat gerade mal wieder Russland als unkooperativ auch in dieser Frage gegeißelt. Das Kammergericht hat 25 Verhandlungstage angesetzt im Zeitraum bis Ende Januar 2021. Russlands „politisches Muster der Unterdrückung“ wird uns also erhalten bleiben.

Es sind nicht unbedingt die einzelnen Konflikte, es ist ihre Summe und ihre Endlosigkeit, die die jetzige Situation so gefährlich machen. Daraus kann ein Klima erwachsen, in dem den dafür Verantwortlichen rationales Regierungshandeln entgleitet.