Lehrermord in Frankreich

Lehrermord in Frankreich
Personen: 

„Die Islamisten werden in Frankreich nicht mehr ruhig schlafen“, hat Präsident Emmanuel Macron nach mehreren terroristischen Gräueltaten am 19.Oktober 2020 verkündet, „die Angst wird die Seiten wechseln“.

Das klingt eher nach Verstärkung der ohnehin schon enormen polizeilichen Maßnahmen, die das Land ständig in Bewegung setzt, als nach einer Neuausrichtung der Integrationspolitik für Migranten und ihren Nachwuchs, der meist schon die französische Staatsbürgerschaft besitzt. Normalerweise dürften junge Muslime, die die französische Schule durchlaufen haben, sie nicht als Islamisten verlassen.

 

Aber ist die Integration der islamischen Minderheit in die demokratische Kultur Frankreichs in den letzten Jahren vorangekommen? Die Satirezeitschrift Charlie Hebdo scheint das geglaubt zu haben,  als sie sich entschloss, Anfang September erneut die Mohamed-Karrikaturen zu veröffentlichen, die 2015 ein islamistisches Attentat mit tödlichen Folgen für zwölf Mitarbeiter nach sich gezogen hatte. Anlass für die Wiederpublikation war der diesen Anschlag betreffende Prozessbeginn.

 

Schon am 25. September kam es zu einem Gewaltakt: In Unkenntnis, dass Charlie Hebdo die Adresse gewechselt hat, verletzte ein Mann pakistanischer Herkunft vor dem früheren Gebäude der Zeitschrift zwei Mitarbeiter eines jetzt dort beheimateten Radiosenders schwer. Er konnte gefasst werden. Am 16. Oktober tötete ein achtzehnjähriger Jugendlicher den in einem Pariser Vorort arbeitenden Lehrer Samuel Paty, der in einer Unterrichtsstunde über Meinungsfreiheit die Mohamed-Karrikaturen gezeigt hatte.

 

Die tschetschenische Familie des Attentäters war vor zwölf Jahren nach Frankreich gekommen und hatte politisches Asyl erhalten. Der junge Mann wurde von den Ordnungskräften erschossen. Zu seiner Tat wurde er von radikalisierten Imamen inspiriert. Dass die Sicherheitsdienste mittels ihrer elektronischen Möglichkeiten nicht das digitale Vorspiel der Tat bemerkt haben – obwohl sie von einer als Gefährder gekennzeichneten Person ausging, offenbart, dass die aufwändigen Überwachungssysteme bislang keinen zuverlässigen Terrorschutz bieten.  

 

Die Meinungs- und Kunstfreiheit gehört zu den höchsten Gütern demokratischer Gesellschaften und muss vom Staat und der Zivilgesellschaft entschlossen verteidigt und selbstverständlich auch in Schulen diskutiert werden. Sie hat in den letzten Jahren aber Einschränkungen erfahren. Mittlerweile müssen soziale Medien und Internetplattformen Hass-Speech aus dem Netz entfernen und in schweren Fällen Anzeige erstatten. Die Schwelle, an der die Grauzone von Hass-Speech beginnt, ist umstritten, insbesondere auch, wenn es um die Freiheit der Kunst geht. Zweifellos schlucken die allermeisten in Europa lebenden Muslime eventuellen Ärger über Mohamed-Karrikaturen hinunter, ohne an Vergeltung zu denken. Und doch war es nur eine Frage der Zeit, dass sich unter dem Vorwand der Beleidigung des Islam wiedereinmal islamistischer Terror in Szene setzt.

 

Die nobelste Form der Satire und des Witzes ist stets die scharfe Polemik gegen die Herrschenden gewesen. Heute gehen Politiker, die satirisch angegangen werden, klugerweise meist mit Nonchalance darüber hinweg oder prozessieren, wie Rezepp Tayyeb Erdogan, als er mit einer Ziege namens Chantal in Verbindung gebracht wurde. Anders steht es mit Witzen über Minderheiten wie zum Beispiel die berühmt-berüchtigten Friesenwitze. Minderheitenwitze sind Geschmackssache, können aber unter Umständen gefährliche Auswirkungen zeitigen, insbesondere, wenn diese Minderheiten noch nicht vollends integriert sind. Hier wird das Risikopotential der multikulturellen Gesellschaft sichtbar, der gegenüber sich die hegemoniale Kultur – nicht zuletzt im eigenen Interesse – sehr verantwortungsbewusst zeigen sollte.

 

In der Diskussion über die furchtbaren Anschläge in Frankreich darf es nicht nur darum gehen, die Meinungs- und Kunstfreiheit pauschal zu fetischisieren. Es ist wichtig, sich hier die unterschiedlichen Rechte und Funktionensweisen von Staat und Zivilgesellschaft klar zu machen.  Selbstverständlich muss ein demokratischer Staat die Meinungs- und Kunstfreiheit garantieren. Die Elemente der Zivilgesellschaft – darunter unabhängige Medien wie Charlie Hebdo – die Gebrauch von dieser Freiheit machen, sind jedoch nicht befreit von Verantwortung und notwendiger Risikoabschätzung – und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Teile der Gesellschaft. Im konkreten Fall geht es nicht darum, dass der Staat Mohamed-Karrikaturen verbietet, sondern um die Einsicht von zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Medienarbeitern und Erziehern, alles zu vermeiden, was weitere Märtyrer der Kunst- und Meinungsfreiheit erzeugen könnte.      

 

Denn nicht nur in Frankreich werden Schüler ihre Lehrer selbstverständlich befragen, wie es zu dem entsetzlichen Anschlag auf Samuel Paty kommen konnte. In der Haut dieser Lehrer möchte man nicht stecken, zumal es zweifelhaft ist, ob sie auf diesen Problemkreis ausreichend vorbereitet worden sind. In ihren Klassen befinden sich meist auch Muslime, für die die Botschaft akzeptabel und hilfreich sein muss. Gerade ihnen sollten sie die Teilnahme an der Diskussion nicht freistellen, wie es Samuel Paty aus vermeintlicher Vorsicht tat. 

 

*Dieser Artikel erschien gekürzt unter dem Titel Wie wird eine hegemoniale Kultur Risiken multikultureller Gesellschaften gerecht? In: Der Freitag no 43 v. 22. 10. 2020, S. 1.  

Lehrermord in Frankreich