Zynisch und fromm vor jener Gottheit Liebe

Friedrich Engels
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Sexuelle Emanzipation entstand in der DDR zunächst „von unten“, als Selbstermächtigung der arbeitenden Frauen, ohne deren Beiträge zum BIP sich der Staat keine 40 Jahre gehalten hätte.

Wegen dieses Drucks wurden gesellschaftliche Versorgungssysteme für Kinder geschaffen. Aber erst 1972 war selbstbestimmter Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche möglich. Die frühe DDR pflegte eine prüde Geschlechtermoral, die sich von der bürgerlichen dadurch unterschied, dass nicht nur der Mann, sondern auch die Frau arbeiten ging. Erst in den Sechzigern wurde zaghaft an kulturelle Kämpfe der ArbeiterInnenklasse der zwanziger Jahre angeknüpft, die auch sexuelle Emanzipation einschlossen. Selbst dann blieb aber das erotische Leben der Gründerväter Karl Marx und Friedrich Engels für die öffentliche Diskussion weitgehend tabu. Wer darüber etwas erfahren wollte, musste sich die „Stellen“ aus den blauen Briefbänden heraussuchen.
 
Während Marx im Grunde ein bürgerliches Familienleben – einschließlich Schwängerung der Haushälterin – führte, bot das Leben von Engels zukunftsweisenden Stoff. 1932 erfuhr es eine kühne Würdigung in einem Mischgenre von Dokumentation und spätexpressionistischer Dichtung, an die hier erinnert werden soll.

General und die Frauen, geschrieben von Walther Victor (1895-1971), wurde von der Büchergilde Gutenberg auf industriellem Bütten gedruckt, in weißem Leinen gebunden und der ArbeiterInnenklasse preiswert zur Verfügung gestellt. Als Sprössling einer Fabrikantenfamilie war Victor 1919 in die SPD eingetreten, ab 1926 Stadtrat in Zwickau und als Journalist tätig, u. a. für die Weltbühne und als Herausgeber des Berliner 8-Uhr-Abendblatts.

In respektvoller Emphase nennt Victor Engels nur „General“. Das war sein Spitznahme, den er bei den Kämpfen um Raststatt erworben hatte. „Kapitalist und Sozialist zugleich“ sei er gewesen und „zynisch und fromm […] vor jener Gottheit Liebe, der sich würdig zu erweisen einmal sein Lebensziel wurde“. Zum Zynischen gehöre eine Briefäußerung von 1847 aus Paris: „Hätt` ich 5000 Frank Renten, ich tät` nichts als arbeiten [d. h. schreiben] und mich mit den Weibern amüsieren, bis ich kaputt wär`! / Wenn die Französinnen nicht wären, wäre das Leben überhaupt nicht der Mühe wert.“ In „General“ hätte aber auch ein anderer „Mensch von tiefer Verantwortung“ gesteckt, „dort, wo er liebt und Liebe beansprucht. Ein Mensch, der den Garten seiner Liebe gehalten hat wie ein Heiligtum, der ihn mit Geheimnis und mit Sorge umgab, bis über seinen Tod hinaus. Und der gleichzeitig das Neue, das Kommende, das Freie mutig gelebt hat, um ein Jahrhundert der Welt voraus.“
 
Dies bezieht sich auf die Lebensgemeinschaft mit den irischen Schwestern Mary und Lydia Burns, beide Baumwollspinnerinnen in Manchester. Zur ersten Begegnung mit Mary kam es, als General 1843 vom Vater nach Manchester geschickt wurde, um die Verbindung mit der Firma Ermen zu festigen. Bei der Fabrikbesichtigung wird ihm die neue Selfactor-Spinnmaschine vorgeführt, für deren Bedienung „eine der intelligentesten Arbeiterinnen des Betriebes eigens dafür ausgebildet worden ist.“ Die technisch ausgereifte Maschine verlangte nur wenig Körpereinsatz, das Mädchen kann „eine gewisse Haltung“ zeigen und hat „die Möglichkeit, eine Antwort zu geben, sich frei vor den Menschen zu bewegen, die es umstehen“. General sei zunächst weniger von Marys graziler Schönheit bezaubert gewesen, als von der „Würde“, die sie dank neuester Technik zur Geltung  bringen konnte.

General „wurde und blieb Fabrikbesitzer, aber er führte die Sache der Industriearbeiter. Er machte Geld mit den Methoden des herrschenden Wirtschaftssystems, und er verwandte es, um ein neues zu propagieren. Er wußte um den Mißbrauch der Unternehmergewalt über die Arbeiterin und hat ihn flammend gegeißelt, aber er lebte mit Mary Burns, der Arbeiterin seines Betriebes, zwanzig Jahre, bis sie starb, in vorbildlichem Bunde.“

Bekannt ist, dass Engels durch Mary Burns in die Lebenshölle der in England malochenden Iren eingeführt wurde. Aus dieser Erfahrung ging 1845 sein Frühwerk Die Lage der arbeitenden Klasse in England hervor, das Marx wiederum zur Analyse der politischen Ökonomie anregte. Victor beschreibt auch die von Mary vermittelte Lektion in Frauenemanzipation, als er ihr antrug, „daß sie nun natürlich die Fabrik verlassen und nur ihm, nur sich selbst, nur ihrer Gemeinschaft leben werde.“ Als „typischer Bürger“ wurde General nun von Mary ausgelacht, „die weiter in den Betrieb ging, an die Maschine. […] Er hatte die Intuition, sie war die Verkörperung. Sie lebte das neue Sein, das er nur ahnte.“ Vom Erlebnis zur Theorie – ist denn auch der programmatische Untertitel von Victors Buch.

Von August 1845 bis April 1846 lebte Mary mit Engels in Brüssel. In einem damaligen Brief bezeichnete er sie als seine Frau. Ob sie später noch in die Fabrik ging, ist unklar. Auch ist kein Foto von ihr überliefert, wohl aber von ihrer etwas jüngeren Schwester Lydia, genannt Lizzy. Etwa ab 1850 lebten die drei in einem gemeinsamen Haushalt, den Lizzy führte.  

Nach Marys plötzlichem Tod 1863 lebte Engels mit ihr. Lizzy brachte „eine Intransigenz für Irland und die Irländer auf“, die sie sogar dazu führte, in „Komplotte“ verwickelte Landsleute zu verstecken. „So kameradschaftlich General die Neigung für die Opfer der englischen Machtgelüste […] unterstützte, so sehr war Lizzies religiöse Veranlagung Anlass zu Differenzen“. Als unbeirrbare Katholikin wurde sie mit dem Widerspruch nicht fertig, „daß der Trieb Macht gewann über die Gesetze des Himmels“. General, der an seinem von Victor ausführlich zitiertem Werk Der Ursprung der Familie, des Staates und des Privateigentums schrieb, geißelte wiederum die bürgerliche Ehe als unmoralisches Auslaufmodell.

In diesem bahnbrechenden Buch hatte Engels die Unterdrückung der Frau keineswegs der Unterdrückung des Proletariers als „Nebenwiderspruch“ untergeordnet – wie es westliche feministische Autorinnen später oft behaupteten. Er stellte klar, dass die Unterwerfung der Frau schon vor der Ausbildung der Klassengesellschaft begann. Engels machte sehr deutlich, dass die Geschlechtermoral eine historisch veränderliche Größe ist, die sich unter entwickelten sozialistischen Verhältnissen ganz anders darstellen konnte als unter bürgerlichen. Da er die Unterwerfung der Frau nicht in direkte Korrelation mit der Klassenfrage brachte, implizierte das auch, dass sie mit beginnender Einebnung der Klassen, wie sie im Realsozialismus versucht wurde, nicht automatisch verschwinden würde – was  z. B. in der Sowjetunion augenfälliger zu beobachten war als in der DDR. Aber mit der Erkenntnis der Historizität des Geschlechterverhältnisses und der Geschlechtermoral war ein entwicklungsfähiger Freiraum eröffnet.
 
Wie Victor allerdings 1932 sehr richtig unterstrich, benötigt dieser Freiraum stets auch Grenzen, die nicht nur von der gesellschaftlichen, sondern auch von der psychosozialen Position der Partner abhängen und respektiert werden müssen. Weil die stramm katholisch bleibende Elisabeth Burns ganze 15 Jahre sehr unter der Illegitimität der Verbindung gelitten hatte, rang sich der Ehegegner Engels an ihrem Sterbebett doch noch durch, einen Priester zu rufen und den Bund kirchlich zu bestätigen. So würde seine Lizzy ruhiger sterben, hatte der Arzt geraten.   

Engels hat nicht nur Marx und seine Familie nach Kräften materiell unterstützt, sondern auch die weitläufige Familie Burns. Eine Nichte von Mary und Lizzy adoptierte er sogar. „Er verzärtelt und verwöhnt das Kind und das Mädchen Pumps, solange er kann“. Aus ihr wird schließlich seine vorletzte, außerordentlich „herrische“ Haushälterin. Nach Pumps Heirat übernimmt das Regiment Luise Kautsky, bei der sich Victor später informiert hat.
Einiges stellt sich im heutigen Forschungsstand anders dar als bei Victor. Dementiert werden kann die auf eine Silvesterfeier 1847 in Brüssel zielende Episode, wonach Frau Marx es abgelehnt haben soll, das Paar Friedrich Engels und Mary Burns zu begrüßen. Denn Engels hatte den 31. Dezember bei dem kranken Heine in Paris verbracht und Mary hatte Brüssel schon gen Irland verlassen. Dass Karl und Jenny die Verbindung des Freundes mit der Arbeiterin, die ihm womöglich keine intellektuelle Partnerin sein konnte, nicht recht verstanden, geht allerdings aus Engels` tiefer Verletzung über die knappen und kühlen Worte hervor, die Marx ihm nach ihrem Tod schrieb. Diese Einstellung änderte sich. Es existiert ein warmer Kondolenzbrief von Jenny Marx nach dem Tod von Lizzy.               

Walther Victor arbeitete nach 1933 illegal, geriet in Haft, konnte aber 1935 in die Schweiz und dann in die USA emigrieren. In der DDR lebte er wieder als Autor und gab Lesebücher für unsere Zeit heraus, in denen Texte von Goethe, Heine, Lessing, Tucholsky, Shakespeare, Hebbel, Brecht, Kleist und Weinert für ein breites Publikum einschließlich der Schülerschaft zusammengestellt wurden. General und die Frauen war 1937 in Zürich und 1947 in Hamburg wieder erschienen. In der DDR kam erst 1982 ein von Harald Wessel herausgegebener Reprint heraus.

     
 * Der Artikel erschien etwas kürzer Unter dem Titel: Revolutionäres Herz. Über Walther Victors Buch ´General und die Frauen`, Büchergilde Gutenberg, 1932.  In: Der Freitag no. 31 v. 30. 7. 2020, S. 12.         

 

Friedrich Engels