Die Beantwortung der Frage, ob Israel eine Demokratie sei, bemißt sich am Begriff der Demokratie, den man dazu verwenden möchte.
Folgt man den formalen Kriterien der politischen Demokratie, so darf man diese Frage durchaus bejahen: Israel zeichnet sich durch eine wesentlich funktionierende Gewaltenteilung und freie Wahlen aus; die gesetzlich verankerte Pressefreiheit ist, zumindest offiziell, nicht beschränkter als andernorts in der westlichen Hemisphäre; das Demonstrationsrecht ist gewährleistet wie auch andere gängige Gepflogenheiten und Praktiken zivilgesellschaftlichen Seins; das kulturelle Leben ist deutlich heterogen, das Straßenbild der Großstädte von einem ethnischen wie religiösen Pluralismus beherrscht. Formal, aber auch nach gewissen äußeren Erscheinungsbildern des öffentlichen Lebens könnte man geneigt sein, dem Diktum des ehemaligen israelischen Premier- und späteren Verteidigungsministers Ehud Barak zuzustimmen, daß Israel eine "Villa im Dschungel" darstelle, will heißen, daß es sich von den gesellschaftlichen und politischen Zuständen in den benachbarten arabischen Ländern durch seine aufgeklärte Modernität und demokratische Kultur hervorhebe.
Nun könnte man freilich gerade aus diesem Spruch die ideologischen Unterschichten des selbstgewissen Eigenlobs herausdeuten, um sich zu fragen, ob nicht schon das schiere Bedürfnis, sich in den Vergleich mit der arabischen Umwelt zu setzen, darauf verweist, wie prekär es mit diesem Selbstbild bestellt sein müßte, bemäße es sich am Idealtyp der Demokratie und nicht daran, was ihm von vornherein die Gewißheit des "Villa"-Vorsprungs verschafft. Unter den Blinden ist der Einäugige bekanntlich König, was zumeist dazu führt, daß er blauäugig wird: Sich an den organisch gewachsenen politischen Kulturen des Nahen Ostens bemessen zu wollen, ohne die koloniale und postkoloniale Vorgeschichte dieser welthistorisch gepeinigten Region mit in Betracht zu ziehen, zeugt von jener westlichen Arroganz, von der der politische Zionismus von Anbeginn geschlagen war, als er sein eigenes koloniales Projekt in Palästina zu verwirklichen begann, wobei er sich ideologisch verblendet darauf berufen zu dürfen meinte, daß ein "Volk ohne Land in ein Land ohne Volk" einziehe. Theodor Herzls Diktum "In Basel gründete ich den Judenstaat" enthält bereits den Widerspruch in seiner vollen Tragweite: Der Staat der Juden wurde in der Tat im Überbau einer nicht existierenden Basis gegründet. Damit die Basis bestehe, war es notwendig, ihr Territorium zu bestimmen. Damit das Territorium tatsächlich das seine werde, mußte es erobert (dabei aber auch auf seine Wahrnehmung als "Einöde" insistiert) werden. Für diese Eroberung aber war eine besiedelnde Bevölkerung nötig; so sorgte man für die Ankunft eines kolonisierenden Volkes. Erst dann konnte der Staat als formaler Rahmen jener Kolonisationsbewegung gegründet werden. Und erst nach der Gründung des Staates wurde die kritische Masse ihrer Bürgerbevölkerung (vom Staat organisiert) importiert. Der Staat der Juden, ausgesprochene Spätfolge der europäischen Nationalstaatsideologie, ist der einzige Staat der Welt, der in der Sphäre des Ideellen bestimmt wurde, bevor es die materielle Basis zur Verwirklichung der Idee gab; der territorial bestimmt wurde, ehe es das Kollektiv für die Besiedlung dieses Territoriums gab; der gegründet wurde, ehe die notwendige Bürgermasse für seine Existenz bestand.
Wenn also über eine "Villa im Dschungel" schwadroniert wird, tut man gut daran, sich über die historischen Vorbedingungen der in dieser Metapher angesprochenen Konstellation Klarheit zu verschaffen, vor allem über das keineswegs ausgestandene historische Unrecht, mit dem die Pracht der Villa erkauft worden ist. Der israelische Wirtschaftsminister und Vorsitzende der Partei HaBayit HaYehudi, Naftali Bennet, hat im Juni 2013 das Problem Israels mit den Palästinensern einem "Granatsplitter im Hintern" gleichgesetzt, welchen man herausoperieren kann mit der Gefahr, invalid zu bleiben, oder aber lernen muß, mit ihm im Körper zu leben. Abgesehen davon, was es über die Assoziationswelten eines Staatsoffiziellen besagt, wenn er (in vollem patriotischen Pathos) sein eigenes Land mit einem Hinterteil vergleicht, muß man sich (mit noch größerer Dringlichkeit) fragen, was es bedeutet, wenn ein prominenter Minister des Staates Israel wie selbstverständlich davon redet, daß im Jahre 2013 rund 400 000 Israelis in der Westbank und weitere 250 000 in Ostjerusalem leben, um folgernd den "Versuch, einen palästinensischen Staat in unserem Land zu errichten," für beendet zu erklären. Was besagt dies über sein Demokratieverständnis, wenn man bedenkt, daß es ihm nicht einfällt, den Palästinensern, die er dem Hoheitsgebiet des Staates Israel einverleiben möchte, volle Bürgerrechte zu verleihen? Wäre dies sein Plan, redete er der Lösung eines binationalen Staates das Wort, woran Bennet und seinesgleichen ganz und gar nicht interessiert sind, um es gelinde zu formulieren. Das Problem besteht jedoch darin, daß der rechtsradikale, wenngleich smart auftretende Naftali Bennet keine marginale Ausnahmeerscheinung darstellt, sondern den festen Konsens innerhalb des größten Teils der politischen Klasse Israels (und breiter Massen der israelischen Bevölkerung) widerspiegelt. Mochten über lange Jahrzehnte noch so euphorische Parolen einer lippenbekennenden Alternativ-Rhetorik in Israel erklingen, die tatkräftige Praxis und Handlungsempahse war stets – und zwar in allen Regierungen seit 1967 hindurch – eine, die Naftali Bennet im Jahre 2013 zu seiner selbstgewissen Proklomation gelangen ließ. Die über 10% der jüdischen Bevölkerung Israels, die in den von Israel im Jahre 1967 besetzten Gebieten leben, sind mit infrastuktureller und ideologischer Hilfe und unter direkter bzw. augenzwinkernder Absegnung aller Regierungen Israels dorthin gelangt. Der einzige Regierungschef, der es sich einfallen ließ, das israelisch-palästinensische Problem anders lösen zu wollen, ist nicht von ungefähr umgebracht worden. Es ist nicht ausgemacht, wie weit es Rabin mit seinem Osloer Friedensplan gebracht hätte (im Jahrzehnt des Oslo-Prozesses ist immerhin das Siedlerkontingent im Westjordanland von rund 100 000 auf 200 000 verdoppelt worden); klar ist aber, daß das Attentat jene Selbstparalyse der israelischen Friedensbewegung einläutete, von der sie sich bis heute nicht erholt hat. Naftali Bennet ist nicht Ursache des Problems, sondern sein Symptom. Er verleiht dem israelischen Zeitgeist den authentischeren Ausdruck als der international als Friedensapostel gefeierte Shimon Peres, der übrigens selbst keinen geringen Anteil daran hat, daß Israel nichts mit größerer Verve betreibt, als die Vereitelung einer friedlichen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts.
Im hier erörterten Zusammenhang stellt sich die generelle Frage: Wie demokratisch kann ein Land sein, daß seit bald fünf Jahrzehnten ein repressives Okkupationsregime unterhält, mit dem er ein anderes Volk brutal unterdrückt, mithin dessen nationale Selbstbestimmung fortwährend verhindert? Welchem Demokratiebegriff hängt man an, wenn man bereit ist, die wesentliche Möglichkeit von Demokratie und Repression überhaupt erst zusammenzudenken? Erweist sich der Demokratiebegriff in einer solchen widersprüchlichen Konstellation nicht zwangsläufig als Ideologie, als bewußte Kaschierung einer Realität, die Demokratie im genuinen Sinn fundamental zuwiderläuft?
Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als die hier anvisierte Ausrichtung des jüdischen Israel nicht nur die Palästinenser in den besetzten Gebieten betrifft, sondern auch die in Israel lebenden Araber. Zwar gelten sie formal als gleichberechtigte Bürger; sind es aber in ihrem realen Leben ganz und gar nicht. Denn anders als in Ländern, in denen sich die Etablierung einer zivilen Gesellschaftsordnung der (zuweilen erst im blutigen Bürgerkrieg manifest gewordenen) Austragung innerer Konflikte verdankte, fußte der innere Zusammenhalt der israelischen Gesellschaft von Anbeginn auf einer durch blutige Auseinandersetzungen mit äußeren Feinden gespeisten, zudem über Jahrzehnte tabuisierten Entsorgung immanenter Widersprüche und der diesen innewohnenden Konfliktpotentialen. Obgleich sich Israel dabei, wie bereits erwähnt, der Erhaltung einer im Vergleich mit Ländern der Region leidlich funktionierenden formalen Demokratie rühmen darf, zeichnet sich sein politisches Selbstverständnis als "Staat der Juden" durch die Aporie zweier miteinander unvereinbarer Vektoren: des universal orientierten Anspruchs auf ein modern-säkulares Gemeinwesen und der diesem Anspruch wesentlich zuwiderlaufenden, auf archaisch-religiöse Elemente des Partikularen zurückgreifenden Begründung des Zionismus. Die durch die Raison d'Être des Staates vorgegebene Hegemonie der Juden verträgt sich schlechterdings nicht mit dem zivilen Anspruch eines "Staates all seiner Bürger". Ohne es demnach juristisch offiziell verankern zu müssen, wird die große in Israel lebende arabische Minorität in der Praxis und im Rahmen etablierter politischer Institutionen bis auf den heutigen Tag gleichsam strukturell als eine Kategorie von Bürgern zweiter Klasse behandelt. Dies erweist sich nicht nur an der normativ angezweifelten Legitimität arabischer Parlamentarier als mögliche Koalitionspartner etablierter zionistischer Parteien in entscheidenden Fragen, etwa der radikalen Forcierung des Friedensprozesses mit den Palästinensern, sondern auch an der Diskriminierung des arabischen Sektors insgesamt beim Ausbau seiner materiellen Infrastruktur, der Verteilung staatlicher Wirtschaftsressourcen und der allgemeinen Besetzung von sozial, politisch, ökonomisch und kulturell bedeutsamen Machtposten und Kontrollpositionen. Vom Zugang zu Israels Eliten sei hier ganz geschwiegen.
Aber nicht nur im Hinblick auf die zuweilen als "innerer Feind" apostrophierten israelischen Araber läßt sich der demokratische Selbstanspruch Israels hinterfragen. Auch innerhalb des in Israel lebenden jüdischen Kollektivs zeigen sich Risse, die das Postulat demokratischer Partizipation mehr als prekär erscheinen lassen. Daß dies geschichtliche Gründe hat, ändert nichts daran, daß besagte Gründe das heutige Sozialgefüge Israels und die sich von diesem ableitende politische Kultur maßgeblich bestimmt und geformt haben.
Es ist kein Geheimnis, daß die israelische Gesellschaft von einem gravierenden, gleichwohl über Jahre heruntergespielten ethnischen Moment durchwirkt ist. Der historische Hintergrund dürfte bekannt sein: Der zionistische Staatsgedanke, ob in seiner liberal-bürgerlichen Version deutscher bzw. österreichischer Provenienz oder in seiner sozialistischen Ausprägung, wie sie sich in Osteuropa herausbildete, war im Kern den europäischen Nationalstaatsbildungen und den mit diesen einhergehenden nationalen Befreiungsbewegungen verpflichtet. Nicht nur verstand er sich als säkular in seiner Ausrichtung und westlich-modern in der angepeilten Herrschaftsform, sondern die Träger jenes Gedankens an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatten vor allem das Bild des europäischen Juden vor Augen, wenn sie an die im jüdischen Staat künftig zu errichtende Gesellschaft dachten. Die orientalischen Juden traten kaum in ihr Blickfeld; ihre Rezeption in der prästaatlichen Ära Israels zeichnete sich denn durch eine eher exotisch-romantisierende (zuweilen mit dem „biblischen Ursprung“ assoziierte) Einfärbung der orientalisch-fremd anmutenden Gestalten, die allerdings noch keinen gewichtigen sozialen Faktor in der sich herausbildenden jüdischen Gemeinschaft in Palästina darstellten.
Die Situation änderte sich dramatisch mit der israelischen Staatsgründung im Jahre 1948, als sich infolge des sogenannten Unabhängigkeitskrieges die demographische Situation einer aus etwa 650 000 im neuen Staat lebenden Juden und ca. 150 000 nach Vertreibung und Flucht gebliebenen palästinensischen Arabern zusammengesetzten Gesellschaft ergab. Nicht von ungefähr wurde alsbald ein vom Staat organisierter massiver "Import" von (wie immer zionistisch motivierten) Juden nach Israel gestartet. Da aber ein Großteil des europäischen Judentums im Holocaust vernichtet worden war (von den Überlebenden zudem beträchtliche Teile nicht nach Israel wollten), wurde eine intensive zionistische Tätigkeit unter Juden in arabischen Ländern betrieben, die im ersten Jahzehnt nach der Staatsgründung drei große Einwanderungswellen zeitigte: die Immigration der jemenitischen, der irakischen und der marokkanischen Juden. Innerhalb einer Dekade verdreifachte sich die Zahl der in Israel lebenden Juden und stieg auf 1,8 Millionen an.
Die verschiedenen orientalischen Einwanderungsgruppen unterschieden sich in ihrer Bildung und Ausbildung, in ihren sozioökonomischen Prädispositionen und ihren lebensweltlichen Praktiken und Gewohnheiten. Die Händler aus dem Bagdader jüdischen Bürgertum wie denn auch die irakisch-jüdischen Kommunisten, die ins Land kamen, zeichneten sich durch ganz andere soziale, politische und wirtschaftliche Erfahrungen und entsprechende Aspirationen aus als etwa die aus dem Atlas-Gebirge und anderen wirtschaftlich zurückgebliebenen Gebieten stammenden marokkanischen Juden mit eher landwirtschaftlichen Traditionen. Und doch kann pauschal behauptet werden, daß die ethnische Unterteilung der jüdisch-israelischen Gesellschaft in aschkenasisch und orientalisch (die arabische Bevölkerung Israels soll hier unerörtert bleiben) eine klare sozioökonomische Dimension aufweist: Während sich die oberen Gesellschaftsschichten zum größten Teil aus aschkenasischen Juden zusammensetzen, sind die unteren fast ausschließlich von orientalischen Juden bevölkert. Nicht nur ergab sich daraus über Jahrzehnte eine objektiv wirkende wirtschaftliche Unterprivilegierung sozialer Gruppen orientalischer Provenienz, sondern die israelischen Eliten in den Bereichen der Wissenschaft, der Justiz, des Militärs, der Politik, der Ökonomie und der Kultur blieben ihnen weitgehend versperrt. Es ging dabei weder um formale Verordnungen noch um hermetische Undurchlässigkeiten, sondern um das, was gewöhnlich die Hegemonie einer sozialen Gruppe ausmacht.
Symptomatisch war die Reaktion der aschkenasischen Ministerpräsidentin Golda Meir zu Beginn der 1970er Jahre, die den sozialen Aufstand der vor allem in den Jerusalemer Slums aufgewachsenen jungen orientalischen Juden mit dem arroganten Bescheid quittierte, sie seien "nicht nett". Die fehlende Sensibilität der Politikerin für die Belange der soziale Gerechtigkeit einklagenden orientalischen Jugendlichen korrespondierte mit einer die israelische Gesellschaft zwar nicht durchgängig, doch unverkennbar durchwirkenden Überheblichkeit aschkenasischer Juden orientalischen Juden gegenüber.
Dieser sich auf die Gesellschaftstruktur auswirkenden ethnischen Tendenz galt eine Mitte der 1980er Jahre einsetzende Gegenbewegung. Zum einen trat eine gut ausgebildetete, begrifflich wie theoretisch versierte orientalische kritische Intelligenz in Israels öffentliche Sphäre ein, die die Herrschafts- und Machtverhältnisse im Bereich der Kultur, der Wirtschaft und der Politik radikal zu hinterfragen begann, wobei sie zunehmend das gesamte zionistische Projekt als westlich-aschkenasisch, mithin repressiv in Frage stellte. Zum anderen wurde die Shas-Partei gegründet, eine politische Institution, welche als Interessenvertreterin einer religiös-orthodoxen, orientalischen und sozial unterbemittelten Klientel auftrat und deren ethnische Einfärbung zum Programm erhoben wurde. Wie sehr sich in dieser Parteigründung ein gravierendes sozial-kulturelles Moment widerspiegelt, läßt sich an den beachtlichen Wahlerfolgen der Partei über viele Jahre ermessen, wobei sich höchst gegensätzliche, teils widersprüchliche politische und kulturelle Kodes im Selbstverständnis der Partei auswirken. Zwar ist sie (im Gegensatz zu den traditionellen aschkenasischen orthodoxen Parteien) bestrebt, Machtpositionen in der Politik auf ministerialer Ebene zu erobrern, aber sie versteht sich als nicht- (wenn auch nicht gerade rigoros als anti-)zionistisch. Ihr geistiger Führer, Rabbiner Ovadia Joseph, hängt in außenpolitischen Fragen eher moderaten, friedensmotivierten Anschauungen an, wohingegen ein Großteil seiner Parteianhänger nationalistisch, zum Teil auch deutlich araberfeindlich eingestellt ist. Das soziale und ökonomische Netzwerk, das die Partei für ihre Klientel gebildet hat, wird vom Staat finanziert, versteht sich aber, zumindest in kulturellen bzw. erzieherischen Belangen als autonom. Daß dabei mit diesem Netzwerk der Armutszirkel, in welchem sich die meisten Parteianhänger befinden, mitnichten durchbrochen wird, wird nicht zum Politikum erhoben. Autoritäre Muster und Strukturen wirken sich denn auch deutlich auf den Zusammenhalt der politischen Organisation aus. Getragen freilich wird die Bewegung vor allem durch das allen inneren Gruppierungen innerhalb der Partei gemeinsame religiöse Moment und – nicht minder brisant – durch das ethnische Ressentiment.
Als Ovadia Joseph vor einigen Jahren behauptete, die Holocaust-Opfer des europäischen Judentums seien alle "wiedergeborene Sünder" gewesen, vermengten sich beide Momente zu einem einheitlichten Kode: Nicht nur wiederholte der Rabbiner in seiner Feststellung eine Denkfigur der religiös-orthodoxen Auseinandersetzung mit dem Holocaust, derzufolge der Holocaust als Gottes Bestrafung des jüdischen Volkes für begangene Sünden zu deuten sei, sondern er ließ auch mutatis mutandis eine latente ethnische Komponente in seine Aussage einfließen. Denn, wenn der Holocaust nahezu ausschließlich aschkenasischen Juden widerfuhr, diese aber als "wiedergeborene Sünder" apostrophiert werden, dann heißt es auch, daß aschkenasische Juden die Sünde in sich trügen und – bei konsequenter Auslegung der Aussage – ihre Strafe in Form der weltgeschichtlichen Katastrophe zu recht erhalten hätten. Es gab selbstverständlich den sofortigen obligatorischen Aufschrei in Israel, und der Rabbiner verwandelte flugs die "wiedergeborenen Sünder" in "Heilige".
Israel durchläuft in den letzten Jahren die Phase einer massiven Umstrukturierung der vom traditionellen Zionismus etablierten Herrschaftsverhältnisse, gesellschaftlichen Praktiken und kulturellen Konventionen. Daß dabei das Religiöse zum Hebel "legitimer" Machtkämpfe avanciert ist, mag etwas mit dem innerjüdischen, schon in der Ideologie des klassischen Zionismus latent angelegten "Kulturkampf" zu tun haben. Daß das Ethnische so in den Vordergrund treten kann, wurzelt, wie gesagt, strukturell in der Vorgeschichte des zionistischen Staates, zeichnet sich heute aber eindeutig durch ideologischen Charakter aus. Denn nicht nur trägt das Ressentiment dazu bei, vom eigentlichen – sozioökonomisch sich auswirkendenen – Faktor der Diskriminierung abzulenken, sondern es ist auch das denkbar schlechteste Mittel, die die israelische Gesellschaft beutelnden Probleme und Konflikte, von denen das ethnische nicht das geringst ist, rational anzugehen. Was das für den demokratischen Diskurs in Israel bedeutet, versteht sich wohl von selbst. Gravierend dabei, wie gesagt, die Rolle des religiösen Faktors, die nun im hier erörterten Zusammenhang anvisiert werden soll.
Was das Judentum sei – eine Religion, ein Volk, eine Nation –, ist bis zum heutigen Tag unter Juden so strittig, dabei aber auch offenbar von solch formaler Relevanz, daß die Unentschiedenheit darüber, wer Jude sei (mihu jehudi), Grund genug zu sein scheint, von der Verabschiedung einer bindenden Verfassung für den Staat Israel vorläufig abzusehen. Was sich dabei für den demokratischen Republikaner der westlichen Hemisphäre merkwürdig, um nicht zu sagen anachronistisch anhört, ist für den jüdischen Israeli zumindest dahingehend von essenzieller Bedeutung, als sich über die Beantwortung dieser Frage bestimmen würde, welchen politischen Charakter der Staat Israel, mithin die gesamte israelische Gesellschaft anzunehmen hätte. Denn im Gegensatz zu den allermeisten Ländern des Westens (und am Westen messen sich nun einmal der israelische Staat und die ihn tragende zionistische Ideologie) ist die rigide Trennung von Staat und Religion in Israel nie recht vollzogen worden. Zwar verstand sich der klassische Zionismus sowohl in seiner sozialistischen als auch in seiner liberalen Ausrichtung als wesentlich säkular und sah seine historische Mission gerade in der Loslösung vom religiös-orthodoxen Judentum der Diaspora, mithin von den in ihr über Jahrhunderte etablierten Lebenswelten und -weisen; da er sich aber in seinen Anfängen vor der geschichtlichen Realität gestellt sah, daß keine der für die europäischen Nationalstaatsbildungen erforderlichen Bedingungen – Einheit des Territoriums, Einheit eines das Territorium bevölkernden Kollektivs und Einheit der nationalen Kultur in der Form einer bindenden Nationalsprache – auf ihn zutraf, ließ er die Religion gleichsam durch die Hintertür wieder in das Koordinatensystem seines Selbstverständnisses herein. Was hätte er auch einem über alle Erdteile und Länder versprengten Volk, dem kein Territorium für seine nationale Selbstbestimmung zur Verfügung stand, und dessen späterhin zur nationalen erkorene Sprache seit vielen Jahrhunderten nur in der Liturgie und im religiös-gelehrten Schrifttum praktiziert wurde (mithin keine lebendig Alltagssprache abgab), anderes denn die Religion als kollektives Bindemittel anbieten können? Nicht von ungefähr bestimmte daher der frühe Zionismus das biblisch-historische Eretz Israel als das Territorium, auf dem der moderne Staat Israel künftig errichtet werden sollte, und die hebräische Bibelsprache (allerdings erst nach bestandenem Sprachstreit mit dem unter aschkenasischen Juden verbreiteten und lebensweltlich gebrauchten Jiddisch) als die – freilich erst zu erneuernde – Nationalsprache.
Mehr noch: Jüdische Religionszugehörigkeit wurde zum Kriterium für den Anspruch auf die israelische Staatsbürgerschaft erhoben, und zwar unabhängig davon, ob der Jude/Jüdin seinen/ihren Glauben praktiziert oder an diesem überhaupt festhält. Das Judesein kann sich verschieden begründen – etwa fremdbestimmt durch die Erfahrung der Ausgrenzung oder Verfolgung als Jude; lebensgeschichtlich durch die schiere Geburt in ein jüdisches Kollektiv; kulturell durch bewußte Berufung auf jüdische Geschichte und Tradition, mithin auf den Anspruch, sich national und kulturell zu konsolidieren. All diese Momente flossen durchaus in die Ideologie des Zionismus ein; als formales Kriterium für den legitimen Anspruch auf nationale Zugehörigkeit zu dem sich als solchen verstehenden Judenstaat wurde gleichwohl die religiöse Definition des Juden bestimmt, und zwar gerade in seiner orthodoxen Version: Jude ist nach jüdisch-orthodoxem Glauben, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder als Nichtjude eine streng beobachtete orthodoxe Konversion zum Judentum vollzogen hat. Das muß im hier erörterten Zusammenhang nicht nur deshalb hervorgehoben werden, weil das Konversionsmonopol des israelischen orthodoxen Establishments im Jahre 2010 per Gesetz erneut ratifiziert wurde (was sogleich den Aufschrei des Reformjudentums in den USA, welches sich durch diesen Gesetzesbeschluß von Israel abgestoßen sieht, zeitigte), sondern weil sich darin auch der instrumentelle Charakter des Umgangs mit der Religion in Israel – in diesem Fall primär macht- und parteipolitisch motiviert – darstellt: Obgleich gewichtige Teile des (halb)religiösen Judentums in der Welt sich dem reformistischen bzw. konservativen Glauben verpflichtet wissen, gelten gerade sie der in Israel herrschenden Religionsorthodoxie als schlimmster Feind, der rigoros bekämpft werden muß.
Dabei darf die Einstellung der jüdischen Orthodoxie (besonders ihrer ultraorthodoxen Strömungen) zum zionistischen Staat im besten Fall für gespalten erachtet werden. Aus Gründen, die mit rigiden Glaubenssätzen messianischer Erlösungsverheißung zusammenhängen, deutete (und deutet) die Orthodoxie das gesamte historische Projekt des politischen Zionismus als ein Vergehen gegen den wahren jüdischen Gottesglauben. Teile dieser Orthodoxie leben zwar im Staate Israel, erkennen aber diesen in seinem zionistischen Selbstverständnis nicht an; die radikalsten unter ihnen sind ihm gar dezidiert feindlich gesonnen. Der israelische Staat seinerseits erkannte bezeichnenderweise die Einstellung der Orthodoxie ihm gegenüber insofern an, als er ihren Forderungen in bezug auf die Gestaltung ihrer eigenen Lebenswelten und Wahrung ihrer strengen Glaubenskultur durch das Zugeständnis ihrer Autonomie im Bereich der Schulerziehung und der weitgehenden Befreiung vom obligatorischen Militärdienst nachkam. Warum er so handelt bzw. schon zur Zeit der Staatsgründung handeln mußte, liegt auf der Hand: Wenn der Zionismus die Versammlung des gesamten jüdischen Volkes in einem Judenstaat postulierte, konnte kein Teil des Volkes davon ausgenommen werden – schon gar nicht nach der Shoah, als sich die Ausgrenzung oder gar Verfolgung von Juden durch Juden wie von selbst verbieten mußte. Das Zusammenleben der zionismusfeindlichen Orthodoxie und des säkularen, religionsabstinenten Zionismus war, so besehen, dem aus der jüdischen Katastrophe hervorgegangenen Nationalstaat der Juden ideologisch wie strukturell von Anbeginn eingeschrieben.
Den Versuch einer Quadratur des Kreises unternahm in diesem Zusammenhang die bereits in der prästaatlichen Ära wirkmächtitig gewordene nationalreligiöse Bewegung. Im Gegensatz zur traditionellen Orthodoxie, die die Kluft zwischen dem modernen politischen Zionismus und ihren Glaubensdoktrinen für unüberbrückbar hielt, redete diese einer Synthese von Zionismus und Orthodoxie das Wort: Sie wendete die Abgrenzungslogik der Orthodoxie, indem sie die schiere Gründung der jüdisch-nationalen Befreiungsbewegung und die späterhin erfolgte Errichtung des Staates Israel als einen manifesten historischen Schritt auf dem Weg zur nahenden messianischen Erlösung des jüdischen Volkes deutete, womit sie denn den Keim für das, was im Laufe der Zeit zu ihrer prononcierten politischen Theologie gerinnen sollte, säte. Beide rivalisierenden Richtungen des religiösen Judentums in Israel nehmen sich bis zum heutigen Tag gegenseitig mit steigendem Argwohn, ja mit feindseligem Abscheu wahr. Fügt man noch das (freilich in Israel kaum je wirklich zum Zuge gekommene) Reforjudentum hinzu, welches sowohl von der religiösen Orthodoxie als auch vom nationalreligiösen Establishment mehr oder minder mißachtet bzw. abgewiesen wird, so ergibt sich das Bild einer in der Staatsräson sich zwar als säkular begreifenden Kollektivität, welche aber in ihrer sozialen Realität von gewichtigen, wenn auch untereinander schwer verfeindeten religiösen Bestandteilen durchzogen und mitgeprägt ist.
Wie immer vage sich das Verhältnis zwischen jüdischer Religion und Zionismus an sich gestalten mochte, darf mit Bestimmtheit behauptet werden, daß der "Moment der Wahrheit" dieses ambivalenten Verhältnisses erst dann zutage trat, als die Religion aufhörte, sich als lippenbekennendes Epiphänomen des hegemonialen zionistischen Staatsgeschehens zu gerieren, und begann, einen realen dominanten Faktor bei der Gestaltung des politischen wie kulturellen Lebens Israels zu bilden. Dies geschah erst infolge des Junikrieges von 1967: Erst mit diesem Krieg materialisierte sich die biblische Parole vom "Land der Urväter" und verwandelte sich in ein handfestes Kapital, welches sich solch dichotomen Deutungsparadigmen wie "Land der Urväter" einerseits und "besetzte Gebiete" andererseits unterwerfen läßt. Erst nach dem 1967er Krieg konnte sich also die religiös-jüdische Sicht zum legitimen Bestandteil des herrschenden politischen Diskurses, mithin zum akzeptierten religiösen Element innerhalb der weitgehend säkularen Legitimationspraxis der israelischen politischen Kultur wandeln. Man mag diese Entwicklung begrüßen oder verdammen. Man mag in ihr aber auch ein authentisches Erbe des Zionismus insgesamt erkennen. Denn wenn man bedenkt, wie gravierend sich das in den besetzten palästinensischen Gebieten errichtete jüdische Siedlungswerk auf die innere wie äußere Politik Israels in den letzten Jahrzehnten ausgewirkt hat, muß man sowohl die religiöse Motivationslogik dieser Expansionspraxis als auch die Funktion, die sie übers eigene Selbstverständnis hinaus erfüllt, ins Auge fassen.
Es ist nämlich diese merkwürdige Synthese von Religion und Politik, die das formal Demokratische des israelischen Staates letztlich ad absurdum führt. Denn nicht nur unterminieren die religiösen Gruppen der Orthodoxen und der Nationalreligiösen das demokratische Prinzip in ihrem schieren Selbstverständnis, was sich nicht zuletzt darin manifestiert, daß der rabbinische Schiedsspruch ihnen stets mehr gilt als der der staatlichen Justiz; sondern sie sind tendenziell bereit, sich dem Staat aktiv zu verweigern, wenn es darauf ankäme: Die nationalreligiösen Siedler sind es, die sich dem Gewaltmonopol des Staates widersetzen würden, wenn Israel den Beschluß fassen sollte, im Rahmen eines finalen Friedenabkommens die besetzten Gebiete des Westjordanlandes zu räumen. Die Orthodoxen sind es, die sich dem gesetzlich vorgeschriebenen Militärdienst, mithin der Partizipation an den zivilgesellschaftlichen Strukturen der israelischen Gesellschaft insgesamt verweigern. Dabei sehen sie sich freilich im Besitz eines für alle Israelis bedeutenden symbolischen Kapitals: Sie sind Platzhalter der Religion, deren Israel bedarf, um sich ideologisch als jüdischen Staat zu apostrophieren. Daß in diesem Zusammenhang nichtreligiöse Zionisten darauf insistieren, Israel als jüdisch-demokratischen Staat zu definieren, ist ihr Problem, nicht das der Religiösen, die sich erst gar nicht demokratisch wähnen. Wenn der Staat Israel sich als jüdisch begreift, kann es schlechterdings nicht den Anspruch erheben, demokratisch zu sein (selbst nicht im formalen Sinne, wie hier indiziert wurde). Will aber Israel demokratisch sein, kann es nicht die Religion als seine ideologische, auch nicht als sein territorialpolitische Grundlage heranziehen.
Dieses in der widersprüchlichen Logik des Zionismus angelegte Strukturmoment muß ideologiekritisch dekodiert werden, um zu begreifen, was es mit den in den letzten Jahren gesteigert antidemokratischen Phänomenen in Israels Gesellschaft und Politik auf sich hat – mit empörenden Gesetzesvorlagen und Gesetzen; mit Erscheinungen des immer häufiger zutage tretenden Alltagsrassismus; mit der Legitimation von antidemokratischer Rhetorik und gestandener Fremdenfeindlichkeit im öffentlichen Diskurs. Vieles mehr, Verschreckendes, ließe sich hier auflisten. Stattdessen sei zum Abschluß etwas anderes versucht: Im Sommer 2011 entfaltete sich eine massive, streckenweise beeindruckende soziale Protestbewegung in Israel. Ihr Scheitern mag einiges von Grenzen und Ideologie der israelischen Demokratieemphase beleuchten.
Ausgehend von einer Protestinitiative einiger weniger junger Menschen auf der gutbürgerlichen Rothschild-Allee im Zentrum Tel-Avivs, kam in kurzer Zeit eine flächenbrandartig sich ausbreitende Massenprotestbewegung zustande, die sich in einer die gesamte Allee besetzende Zeltreihe formierte, welche ihrerseits eine täglich anschwellende Zuwanderung, sehr bald auch eine nicht abreißende Medienpräsenz verbuchen durfte. Mit großem Staunen registrierte man, wie sich charismatische FührerInnen dieser spontanen Bewegung durch prägnante Organisations- und Koordinationsaktivität hervortaten; eine Debatten, Diskussionen und Aktionen generierende politische Subkultur sich an den Orten des Protestgeschehens heranbildete, mithin weitere Zeltzentren in anderen Städten sich niederließen, sodaß die etablierte Politik aufhorchte und sich bald schon in Zugzwang sah. Denn was mit einer winzigen Protestbewegung begonnen hatte, kulminierte nach wenigen Wochen in stetig anwachsenden Massenkundgebungen an Wochenenden – in der damals größten gingen rund 400 000 Menschen auf Israels Straßen. Die Regierung reagierte durch die Bildung eines Ausschusses, der in Zusammenarbeit mit Vertretern der Protestbewegung deren (systematisch aufgelisteten) Forderungen zusammentragen und für institutionalisierte Entscheidungsfindungen der jeweiligen Ministerialgremien bearbeiten sollte.
Worum ging es in der Protestbewegung? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten, denn viele, teils heterogene Gruppen mit verschiedenen Ansprüchen und Forderungen beteiligten sich an ihr. Wagt man aber die Benennung eines kennzeichnenden gemeinsamen Nenners (oder zumindest den der dominanten Gruppen innerhalb der Bewegung), so geht man wohl nicht fehl mit der Behauptung, es handlte sich um eine zivilisierte Empörung des israelischen Mittelstands. Man lasse sich nicht dadurch beirren, daß der Skandierungsrhytmus des Hauptslogans in den Aufmärschen und Kundgebungen ("Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit!") dem der Parolenrhytmen auf dem Kairoer Tahrir-Platz glich. Das dürfte die einzige Affinität zu den umstürzlerischen Ereignissen in den benachbarten Ländern gewesen sein. Was man mit "sozialer Gerechtigkeit" meinte, hatte entsprechend nicht viel gemeinsam mit dem ökonomischen Aufschrei verarmter Millionen in Ägypten. Da die israelische Wirtschaft der letzten Jahre, im Gegensatz zu einigen europäischen Ländern, zumindest offiziell und auf Makroebene, positive Zahlen, Zuwachs und Fortschritt verzeichnen durfte, handelte es sich bei den emphatischen Sommerprotesten primär um eine Verteilungsfrage: Ein eigentlich nicht schlecht verdienender Mittelstand sah sich außerstande, die Lebenshaltungskosten des von ihm beanspruchten Lebensstandards zu bewältigen. Es ging um unhaltbare Miet-, Lebensmittel-, Kinderbetreuungs-, Bildungs-, Erziehungs- und andere Kosten des "normalen guten Lebens", die nicht zuletzt deshalb nicht mehr bezahlt werden können, weil der von Benjamin Netanjahu seit Jahren geförderte Turbokapitalismus den israelischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat nahezu ausgehöhlt bzw. schon in den Kollaps getrieben hat. Noch nie waren die sozial-ökonomischen Klüfte in Israels Gesellschaft, welche sich einst durch relative Egalität auszeichnete und dieses Attribut auch als Gesinnungsfaktor ihres Selbstbildes rühmte, so groß wie heute. Nicht aber die deutlich verarmten Klassen waren Träger der bisherigen Protestbewegung, sondern die zunehmend deklassierten Mittelschichten, die sich der Erosion ihres mittelständischen Wohllebens "plötzlich" ausgesetzt sahen – und sich gegen diese emphatisch aufbäumten.
Aber das, was die auf Konsens ausgerichtete Erweiterung der Protestbewegung begründete, setzte ihr zugleich auch die inhaltlichen Grenzen. So beeindruckend sich die großen Massen zu aktivieren begannen; so anrührend, ja bewegend sie sich zum unignorierbaren Protestkollektiv formierten, und so erstaunt man das dramatische Schauspiel einer aus apathisch scheinender Lethargie erwachten Menschenmasse registrieren durfte, so war auch unverkennbar, was in diesen Wochen des sozialen Aufschreis ausgespart blieb. Da war zum einen der Kapitalismus kein Thema, das man auch nur im geringsten zu hinterfragen gedachte. Zwar thematisierte man mit gebührender populistischer Empörung die monströse Machtakkumulation der Tycoons, die mittlerweile große Teil der israelischen Wirtschaft in ihrem Griff haben, forderte auch ihre massive Besteuerung und regulierte Machteinschränkung. Aber alle ökonomischen Maßnahmen, die man (unter Beratung kompetenter fachlicher Kräfte) auf die lange Liste assertiver Forderungen an die Regierung (bzw. dem von ihr eingesetzten Ausschuß) setzte, nahmen sich aus, als wolle man lediglich die Steinchen eines festgefügten Mosaiks ein wenig verschieben bzw. umstellen, ohne aber das Mosaik als solches bzw. die ihm zugrunde liegende Anordnungslogik infrage zu stellen. Die reformerische Ausrichtung der Forderungen indizierte deutlich, daß es nicht um Systemkritik, schon gar nicht um fundamentale Systemkritik ging, sondern um die Modifikation dessen, was in seiner Grundstruktur und deren Logik die Misere erst eigentlich generiert hatte – und immer wieder generieren muß. Von Netanjahu und seinem Umfeld anfangs beschuldigt, radikale Linke zu sein, die lediglich auf seinen Sturz aus seien, fühlten sich die Führer der Bewegung auf Pressekonferenzen und anderen medialen Verlautbarungen bemüßigt, hervorzuheben, daß sie keine Kommunisten, ja nicht einmal Sozialisten seien, sondern nur einfache Bürger, die auf ihr Recht auf "soziale Gerechtigkeit" pochten. Über den Wirkzusammenhang von System und Krise, von Gesellschaftsstruktur und sozialer Ungerechtigkeit verloren sie keinen Gedanken, und wenn er hier und da doch auftauchte, wurde er schleunigst verdrängt bzw. bewußt beschwiegen – man wollte eben to eat the cake and have it.
Zum zweiten achtete die Führung der Protestbewegung von Anbeginn darauf, daß die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete im Rahmen der Protestaktivitäten ja nicht zum Thema erhoben werde. Man wollte, wie es hieß, die soziale Empörung nicht "politisieren". Was sich dabei für einen europäischen Linken abstrus anhören mag (eine Massenbewegung von 400 000 Menschen auf Israels Straßen, die "soziale Gerechtigkeit" fordert, als "nicht politisch" zu apostrophieren), hat seine spezifische israelische Bewandtnis: Unter "Politisierung" versteht man hierzulande die Unterteilung in Parteizugehörigkeit bzw. -affinität hinsichtlich der Einstellung zur Okkupation und zum Siedlungswerk. Als "links" gelten Friedensbewegte, die einen territorialem Kompromiß mit den Palästinensern, mithin die baldige Gründung eines souveränen palästinensischen Staates anstreben. Für "rechts" erachtet man jene, die sich solcher Bestrebung ideologisch widersetzen. Die soziale Linke hat in Israels politischer Kultur weitgehend ausgespielt, seitdem sich die Parteien, die sich historisch linker gesellschaftlicher Sicht und sozialer Politik verschrieben hatten (allen voran die Arbeitspartei), sich im Zuge der rigiden Neoliberalisierung der israelischen Ökonomie des historischen Auftrags, der ihre politische Raison d'Être ausgemacht hatte, entledigten. Es war bezeichnend, daß Shelly Yachimovitsch, neue Vorsitzende der Arbeitspartei, die sich seit Jahren als genuine Vertreterin einer konsequenten sozialdemokratischen Ausrichtung aufs Sozial-Ökonomische hervorgetan hat, sich über den fortwesenden israelisch-palästinensischen Konflikt und dessen Lösung beharrlich ausschwieg, um auf der Höhe der Protestbewegung in einem viel beachteten Interview mit der Tageszeitung "Haaretz" zu verkünden, die Besatzung beschäftige sie nicht sonderlich, sie empfinde gar eine gewisse Empathie für die Siedler und dergleichen mehr an politisch rechtsgerichtetem Gedankengut. Yachimowitsch ist Symptom: Ihr sich abzeichnender parteilicher Erfolg, der von der Massenprotestbewegung stark profitierte, war das parteiliche Spiegelbild der Haltung der Protestbewegung. Daß diese dabei meinte, dies taktisch tun zu sollen, um die Anhänger der Bewegung nicht durch die Debatte über das Besatzungsregime und das Siedlungswerk zu spalten, bezeugt, wie wenig die Bewegungführung sich klarzumachen bereit war, daß die Okkupation nicht nur ein völkerrechtliches und moralisches, sondern auch ein gravierendes ökonomisches Problem darstellt, mithin in engem kausalen Nexus mit dem steht, wogegen die Bewegung sich empörte. Man kann schlechterdings nicht "soziale Gerechtigkeit" fordern und zugleich ein vom eigenen Land betriebenes brutales Okkupationsregime hinnehmen, ohne dabei zutiefst ideologisch zu werden.
Zum dritten konnte die Regierung, gegen deren Politik sich die Protestbewegung empörte, von einer für sie beruhigenden Gewißheit ausgehen: Die Demonstranten würden keine der nationalen Konsensgrenzen überschreiten, kein Tabu brechen. Das alte, gewitzte Diktum, in Deutschland des 19. Jahrhunderts habe keine bürgerliche Revolution gelingen können, weil es verboten war, den Rasen zu betreten, spiegelte sich als eine Art mentalen Pendants in Gesinnung und Aktionsausrichtung des "israelischen Sommers" wider. Exemplarisch manifestierte sich dies in zwei Punkten: strikte Verhinderung von Gewaltanwendung seitens der Protestlern und Einhaltung unhinterfragbaren Zivilgehorsams im Hinblick auf nationale "Prioritäten". Als es zu Beginn der Proteste zum Gerangel zwischen Polizei und Demonstranten kam, waren es die verprügelten Demonstranten, die, im Fernsehen danach befragt, die Polizisten symbolisch umarmten und sich mit ihnen (als deren Interessenvertreter) verbrüdern wollten. Und als der Vorsitzende der israelischen Studentenvereingung Itzik Shmuly, prominenter Führer der Protestbewegung, gefragt wurde, was er tun würde, wenn man ihn während der rasanten Sturmtage des Protestes zum militärischen Reserverdienst beorderte, zögerte er keine Sekunde lang zu deklarieren, er würde seine Sachen sofort packen, um in der Armee seine Pflicht zu erfüllen. Daß genau das eine der Regierung zur Verfügung stehende Trumpfkarte sein dürfte, konnte – wie bestellt – erprobt werden, als es nach einem mörderischen Terroranschlag an der Südgrenze Israels zum Gegenschlag des israelischen Militärs und zur letalen Kollision mit ägyptischen Streitkräften in der Sinai-Halbinsel kam. Eine für jenes Wochenende ausgerufene Massendemonstration wurde sofort abgeblasen, und in den Medien war nichts von Protesten zu hören und zu sehen. Nicht von ungefähr begann das kritische Feuilleton zu spekulieren, daß wenn die "Sicherheitsfrage" als probates Mittel zur Eindämmung von zivilem Aufstand funktionalisiert werden kann, es nicht auszuschließen sei, daß man gegebenenfalls für "Brenzligkeit" an den Grenzen sorgen werde. Dies umso mehr, als es sowohl im Interesse eines Assad in Syrien als auch Netanjahus in Israel liegen mag, durch gezielt gesteuerte Anheizung der Situation an der Grenze von innenpolitischem Druck abzulenken, mithin die innere Kollektivkohäsion zu festigen.
Was also war der "israelische Sommer" von 2011? Eines war er gewiß nicht: Er war keine Revolution, ja nicht einmal eine Rebellion. Denn weder trachteten seine Träger, Systemstrukturen aufzubrechen, noch wollten sie die etablierte politische Macht stürzen. Der "israelische Sommer" war eine bemerkenswerte Protestbewegung von (in Israel) nie gekanntem Ausmaß. Als solche mag sie indizieren, daß es den Massen um noch etwas anderes ging als um Mietpreise und Lebenshaltungskosten, etwas, dessen sich diese Massen und ihrer Führer bislang noch nicht bewußt sind bzw. sich noch nicht zu artikulieren getrauen: Die Bekundung eines tiefen Unbehagens an der Sackgasse, in die sich Israel manövriert hat. Eine Sackgasse ist es allerdings, aus der man nicht herauskommt, ohne das Festgefahrene in Außen- wie Innenpolitik zugleich mit den sozial-ökonomischen Strukturen und ihren Auswirkungen auf die Bevölkerung resolut anvisieren und angehen zu wollen. Es könnte sonst zu einem horrenden israelischen Winter mit unausdenkbaren Folgen kommen. Nicht ausgeschlossen, daß diese grauenerfüllte Vorahnung einen Großteil der israelischen Bevölkerung bereits erfaßt hat und umtreibt. Die Protestbewegung dieses Sommers könnte, so besehen, nur die Spitze eines Eisbergs gewesen sein.
Was das aber für die israelische Demokratie bedeuten mag, steht vorläufig in den Sternen. Die Protestbewegung des Sommers 2011 ist so schnell untergegangen, wie sie an die gebieterischen Grenzen des strukturbedingten nationalen Konsenses gelangte. Es sind gleichwohl genau diese historischen, politischen und ideologischen Strukturbedingungen, die die formalen Vorgaben der israelischen Demokratie immer wieder aushöhlen. Eine "Villa im Dschungel"? Ginge es nicht um Ernstzunehmendes, ja um Israels historisches Schicksal, dürfte man müde lächelnd abwinken.
* Quelle: Moshe Zuckermann: Villa im Dschungel. Ideologische Aspekte eines
Selbstverständnisses, in: Michaela Birk und Steffen Hagemann (Hrsg.), ´The Only Democracy? Zustand und Zukunft der israelischen Demokratie`, Berlin 2013, S.21-36