Judensolidarität und Islamophobie in Deutschland

Judensolidarität und Islamophobie in Deutschland
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Bekannt ist Georg Simmels Erörterung der Phänomenologie des Fremden, die sich darin auszeichnet, daß sie sich eine für die Moderne charakteristische Form dieser Erscheinung zum Gegenstand der Reflexion erkoren hat.

Gemeint ist nämlich nicht der Fremde "in dem bisher vielfach berührten Sinn" als "der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat. Er ist innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises – oder eines, dessen Grenzbestimmtheit der räumlichen analog ist – fixiert, aber seine Position in diesem ist dadurch wesentlich bestimmt, daß er nicht von vornherein in ihn gehört, daß er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt. Die Einheit von Nähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen Menschen enthält, ist hier zu einer, am kürzesten so zu formulierenden Konstellation gelangt: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, daß der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, daß der Ferne nah ist".

Nicht von ungefähr führte Simmel dabei den Juden als paradigmatische Verkörperung dieses Phänomens an. Denn bei allem Anspruch auf Assimilation und Integration der Juden im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts mußte Simmel zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Zeilen (1910), nicht zuletzt lebensgeschichtlich, erkennen, daß sich für die Verwirklichung dieses emanzipativ gemeinten Anspruchs angesichts des grassierenden deutschen Antisemitismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine allzu vielversprechende Perspektive öffnete. Zwar war seine Einsicht noch nicht von der Apodiktik der späteren Feststellung Geschom Sholems durchdrungen, eine deutsch-jüdische Symbiose habe es niemals gegeben, aber eine deutliche Ambivalenz ist auch schon bei Simmel unüberhörbar. Zwar enthält er sich im Geiste der von ihm als solche apostrophierten formalen Soziologie der emphatisch-normativen Wertung des Fremdseins als sozialer Kategorie, gewinnt ihr mithin sogar objektive Vorzüge ab; aber der historische Kontext indiziert auch, und sei's implizit, die unausgesprochen bleibende Erfahrung sozialen Leids.

 

Gleichwohl ist die Simmelsche Ambivalenz noch vollauf aus der Zeit zu begreifen, auf deren Geist der herausragende jüdische Soziologe reagierte. Sie ist eben noch nicht vom Bewußtsein der Katastrophe getragen, welche Juden gerade im Land widerfuhr, in das sie sich so sehr zu integrieren bemühten. Ein "Exkurs über den Fremden" hätte in Deutschland der Nachkriegszeit ganz anders ausfallen müssen. Das Heute-Kommen und Morgen-Bleiben war Juden in diesem Deutschland aus nachvollziehbarem Grund alles andere als selbstverständlich; sie gerieten nachgerade zum selbstauferlegten Verbot: Schon das Kommen wurde für prekär erachtet – den allermeisten Juden in der Welt galt es als nahezu unbegreiflich, daß jüdische Menschen deutschen Boden überhaupt noch zu betreten vermochten; und wenn schon ein Bleiben von Juden in Deutschland angesagt war, so wurde es gemeinhin für temporär, mithin transitorisch ausgegeben – man saß im proklamierten Selbstverständnis immer "auf gepackten Koffern", mental auch noch dann, als sich lebensgeschichtlich erwies, daß man nicht weitergezogen und sehr wohl geblieben war. Das Fremdsein als nahe Ferne verdichtete sich dabei zum selbstgewählten Schutzschild. Man gehörte eben dem nicht an, was sich objektiv als neue Lebenswelt generierte, sich zugleich aber auch historisch-moralisch verbot.

 

Komplementär dazu – und aus nicht minder nachvollziehbarem Grund – taten sich in der Nachkriegszeit auch Deutsche insgesamt schwer mit Juden. Zwar waren sie dabei lebensweltlich wenig gefordert, denn bis zu Beginn der 1990er Jahren lebten in der alten BRD kaum je mehr als 35.000 Juden. Als Opfer einer von Deutschen verbrochenen menschheitsgeschichtlichen Monstrosität wurden "Juden" Deutschen zur abstrakten Kategorie. Dies umso mehr, als sich das Verhältnis von Deutschen zu Juden auf die institutionalisierte Ebene des Staates projizieren ließ: Die Sühne materialisierend durfte man mit den Entschädigungszahlungen Deutschlands an Israel "wiedergutmachen", was unverzeih- und letztlich unsühnbar bleiben mußte, mithin im Umgang mit Juden der überlebenden Genration und ihrer Nachkommen zunächst nicht aufgearbeitet und schon gar nicht "bewältigt" werden konnte. Unerörtert mag hier die geopolitische Dimension dieser Beziehung bleiben: Israel konnte das Geld aus Deutschland für den infrastrukturellen Ausbau des gerade ausgerufenen Staates dringend gebrauchen; Deutschland konnte seinerseits mit den geleisteten Zahlungen den Anspruch erheben, ein "anderes" geworden zu sein, was im Kontext des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation eine gewichtige Rolle spielte. Von Bedeutung im hier reflektierten Zusammenhang ist aber, daß mit der Abstraktion "der Juden" als lebensweltlich Abwesende zugleich auch das Ressentiment ihnen gegenüber, welches im Nachkriegsdeutschland kaum von einem Tag auf den anderen verschwunden sein konnte, generell tabuisiert wurde – von einem manifesten Antisemitismus, der sich performativ zu artikulieren trachtet, ganz zu schweigen.

 

Dieses Tabu sollte in den folgenden Jahrzehnten, letztlich bis zum heutigen Tag, zur Matrix der Beziehungen zwischen Deutschen und Juden, mithin zwischen Israel und Deutschland gerinnen. Die tiefere Wahrheit des vom israelischen Psychoanalytiker Zvi Rix einst (wohl halbironisch) geäußerten Diktums, die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen, liegt darin, daß der kollektive Narzißmus von Deutschen durch die Monstrosität der von Deutschen verbrochenen Geschichte für Generationen gekränkt bleiben muß. Die damit einhergehende Aggression gegenüber den Urhebern solcher Belastung, den "Juden", muß aber zugleich auch kanalisiert werden. Man darf ja den Opfern des eigenen Tuns nicht anlasten, womit man nicht fertig wird, obgleich man ihnen vor- bzw. unbewußt grollt, daß sie weiterhin "da" sind. Da man aber die "Lehren aus Auschwitz" gezogen, den Antisemitismus mithin in die Sphäre des moralisch Verworfenen verwiesen hat, bedarf es des sublimierten Umgangs mit der in der Latenz verharrenden Unbehagen an den "Juden". Mehrerlei Strategien sind dabei im Laufe der Jahre verwendet worden: Neonazis ergingen sich bereits in den 1960er Jahren in unverhohlenem Antisemitismus, der sich vor allem am Staate Israel bzw. an der zionistischen Bewegung austobte. Diese Randerscheinungen der politischen Kultur Nachkriegsdeutschlands wurde aber früh schon nicht nur durch linke Kritik und performative Bekämpfung, sondern auch durch eine organisierte Sühneaktivität konterkariert, welche zumeist an und nach Israel gerichtet wurde. Aus diesen ursprünglich ganz und gar aus genuinem Entsetzen und ehrlich empfundener Reue hervorgegangenen Praktiken erwuchs indes nach und nach ein Komplementäres zum antijüdischen Ressentiment, namentlich eine Überidentifizierung mit "Juden", eine davon abgeleitete unverbrüchliche Solidarität mit "Israel" und eine politisch sich umsetzende Positionierung gegen alles, was auch nur im Ansatz als gegen die Objekte eigener projektiver Identifizierungsbedürfnisse und Solidaritätsfetischismen gerichtet gedeutet werden kann. Zum "Antisemiten" kann dabei schon der werden, der sich nicht der vorgegebenen Obödienzordnung des Solidaritätsritus mit "Juden", "Israel" und "Zionismus" unterordnet. Da man ja selbst gerne mal Opfer wäre, identifiziert man sich mit dem Juden als Opfer; da man aber auch gerne mal das ausleben würde, was sich durch das Andenken an Deutschlands verbrecherischer Geschichte verbietet, solidarisiert man sich mit dem Israeli als Besatzungssoldat.

 

Das Prekäre daran ist, daß es Deutschen kaum je möglich wird, objektiv zu bleiben. Genuine Kritik an Israels Politik muß in Kauf nehmen, als antisemitisch apostrophiert zu werden. Desgleichen die schlichte Anerkennung der historischen wie aktuellen Leiderfahrung der Palästinenser, geschweige denn die Solidarität mit ihnen. Aber auch schon die schiere Unterstützung von Friedensbestrebungen im Nahostkonflikt mag zur politischen Bedrohlichkeit geraten, wenn sie nicht mit dem korrespondiert, was in Jerusalem für "israelische Interessen" ausgegeben wird bzw. nicht das Placet der israelischen Botschaft in Deutschland oder gar das des Zentralrats der Juden zu erlangen vermag. Von Bedeutung ist dabei, daß sich die Matrix solch ideologischer Ausrichtung nicht nur in der Agitation gewisser außerparlamentarischer Gruppen manifestiert, sondern die Koordinaten der hohen Politik Deutschlands sowie die des politischen Diskurses eines Großteils der etablierten Medien bestimmt. Es ist schon bemerkenswert, wie sehr sich jene, die einst als außerparlamentarische Opposition die staatsoffizielle Innen- wie Außenpolitik Deutschlands anzufechten und zu bekämpfen trachteten, heute im nationalen Konsens und dem augenzwinkernden Wohlwollen des politischen Establishments wiegen dürfen.

 

Es ist nun dieser Kontext, in dem man die in Deutschland grassierende Islamophobie anvisieren muß – nicht nur in diesem Kontext, aber eben auch in ihm. Unerörtert bleibe auch in diesem Zusammenhang der strukturelle historische Vorlauf, der den "Islam" bzw. "Moslems" überhaupt zum Thema in Deutschland hat heranwachsen lassen. Als man in den 1960er Jahren wirtschaftswunderlich der Gastarbeiter bedurfte, zögerte man nicht, sie ins Land zu holen. Daß man sie dabei als Gäste attribuierte, gab sich zwar politisch korrekt höflich, meinte aber auch das, was mit dem Begriff des Gastes gemeinhin einhergeht: daß er kommt, um wieder zu gehen. Aber viele aus den großen Schüben der italienischen, spanischen, jugoslawischen, griechischen und zuletzt auch türkischen Gastarbeitern, die in die alte Bundesrepublik einwanderten, erwiesen sich eben als die Art von Fremden, die Simmel zum Topos gemacht hatte: als Wandernde, die heute kommen und morgen bleiben. Das hatte eine Menge mit ökonomischen Interessen deutscher Arbeitgeber und dem rigiden Existenzkampf ausländischer Arbeitnehmer zu tun (wie es denn heute mit Migrationsbewegungen aus einer hungernden dritten bzw. infrastrukturell schwachen zweiten in eine satte erste Welt zu tun hat). Nicht in Kauf genommen wurde zunächst, daß die, die man ins Land holte, sich lebensweltlich werden einrichten müssen, wenn sie einmal beschlossen, zu bleiben. Und als sie begannen, sich einzuleben, gar zu integrieren, war die Welt noch heil, solange man (gerüstet mit fröhlicher Multikulti-Gesinnung) das Fremde an den gebliebenen Gästen noch in der Form des Gangs "zum Italiener" oder "zum Griechen" als kulinarische Alltagsexotik (abendländischer Couleur) genießen durfte. Zum Problem wuchs dies Fremde erst dann heran, als die Lebenswelten der Immigranten ein Sichtbarkeitsgrad erreichten, das mit dem herkömmlichen ("normalen") deutschen Stadtbild und Öffentlichkeitsgewohnheiten kollidierte. Es ist davon auszugehen, daß man sich auch damit wohl hätte abfinden mögen, wenn diese Intrusion nicht mit einer anderen "Bedrohlichkeit" verbunden gewesen wäre: der fremden Religion.

 

Über Religion soll hier gleichwohl nicht geredet werden, jedenfalls nicht im Sinne einer emanzipativen Religionskritik. Denn wäre dies der Ausgangspunkt, hätte man sich mit der christlichen und jüdischen Religion nicht minder zu befassen als mit den Islam. Daß man aber die jüdisch-christliche Tradition plötzlich meint, im Rahmen der deutschen Islam-Debatte hervorheben und preisen zu sollen, ist nicht nur das Mittel einer perfiden Islam-Polemik, wie man sie sich dem Christetum und dem Judentum gegenüber nie erlauben würde, sondern auch eine nicht hinnehmbare Verzeichnung der gesamten Geschichte des Abendlandes, mithin der jahrhundertealten jüdischen Leiderfahrung in ihr. Man vergesse nie, daß Juden im und unter dem Islam nie auch nur annährend das zu erleiden hatten, was ihnen im christlichen Abendland widerfuhr. Wenn es eine jüdisch-christliche Tradition gab, dann die der christlichen Verfolgung der "Gottesmörder", die ein wesentlicheres Merkmal der gemeinsamen Geschichte darstellt, als was der heutige jüdisch-christliche "Dialog" glauben machen möchte. Im Munde von manipulativen Politikern und polemisierenden Intellektuellen gerät diese "Tradition" zur Verhöhnung von Millionen Opfern dieser Tradition.

 

Auch daß man heute "die Moslems" als Feinde "der Juden" herausstellen darf, ist insofern eine Verballhornung dessen, worum es in dieser Feindschaft geht, als man sich für den determinierenden Faktor ihres historischen Zustandekommens bewußt (oder vorbewußt) blind macht: den Nahostkonflikt. Wenn man nicht begreift, daß der in die arabische Region des Nahen Ostens eingedrungene Zionismus, mithin also eine politische und keine genuin religiöse Dimension, der auslösende Faktor für den das gesamte 20. Jahrhundert durchziehenden Konflikt zwischen Juden und Arabern war, dann begibt man sich auf ein geschichtliches Glatteis, auf dem man allzu leicht (und verblendet) in eine interreligiöse Polemik hineinrutscht. Wenn man aber in eine solche Polemik hineingeraten möchte, dann besinne man sich tunlichst auch auf den jüdisch-religiösen Fundamentalismus, der seit guten vierzig Jahren zum gravierenden Träger der israelischen Okkupation palästinensischer Territorien und somit zu einem der schwerwiegendsten Faktoren der Verhinderung eines israelisch-palästinensischen Friedens herangewachsen ist. Genau das möchten aber jüdische Intellektuelle in Deutschland – israelsolidarisch ihres Zeichens – ausgeblendet wissen. Daß gerade sie sich als Wortführer des islamophobischen Diskurs Deutschlands hervortun und Gehör finden, indiziert die ideologische Verschwisterung von vorgeblicher Juden-Solidarität und Islamophobie, die sich im letzten Jahrzehnt, gespeist von der alten Neuralgie der deutsch-jüdischen Beziehungen, in Deutschland merklich verfestigt hat. Von selbst versteht sich dabei, daß der nach dem Terroranschalg des 11.9.2001 sich im Westen verbreitende Islam-Horror der Ideologie der deutschen Islamophobie eine gleichsam legitimierte Einbettung im Globalen zu bieten hatte (und noch immer bietet).

 

Was aber die Wirkmächtigkeit der Islamophobie in Deutschland ausmacht, ist etwas Anderes, nur zaghaft Ausgesprochenes. Als der deutsche Antisemitismusforscher Wolfgang Benz sich im Jahre 2010 einen Vergleich zwischen Antisemitismus und Islamophobie zu ziehen wagte, sah er sich sogleich heftigster Kritik vonseiten des Feuilletons ausgesetzt. Daß er den Vergleich in strukturell-phänomenolgischer Absicht gezogen hatte, ohne den Vergleich der realen geschichtlichen Auswirkungen von Antisemitismus und Islamophobie auch nur anzudeuten, half ihm nichts. Er hatte ein Tabu angerührt, dessen Anrührung, gar Durchbrechung im heutigen Deutschland nicht ungeahndet bleiben darf. Zu fragen bleibt gleichwohl, ob sich hinter der Empörung, die Benz' Vergleich auslöste, nicht noch etwas Schwerwiegenderes verbirgt: eine unaufgearbeitete Dimension des deutschen Antisemitismus, der als perennierendes Ressentiment, in die Schranken des Tabus verwiesen, sich nunmehr einer neuen Projektionsfläche bedienen darf, um sich legitimerweise zu manifestieren. Er darf sich sogar seiner Legitimität vergewissern, indem er "die Juden", mit denen sich der Träger des Ressentiments "identifiziert", mutatis mutandis somit sich selbst, vor dem "Islam" in Schutz nimmt. Zu fragen wäre entsprechend, ob nicht gerade in der Islamophobie sozialpsychologisch hervorlugt, was – tabuisiert – unaufgearbeitete Residuen des antisemitischen Ressentiments zum Inhalt hat. Sollte Zvi Rex mit seiner Behauptung, daß die Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen werden, recht haben, dürfte dies latente antisemitische Ressentiment in der deutschen Islamophobie ihr Eldorado gefunden haben.

 

* Judensolidarität und Islamophobie in Deutschland. Anmerkungen zu einer ideologischen Verschwisterung erschien in: Jahrbuch für Islamophobieforschung 2012, Wien 2012, S. 11-16.

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