Antonio Gramscis souveräne Gegenkultur der arbeitenden Klassen

Antonio Gramsci
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Zu seinem bedeutendsten theoretischen Erbe gehört die Überwindung der nicht nur in der damaligen Sozialdemokratie, sondern auch noch im Realsozialismus verbreiteten mechanischen Auffassung von Basis und Überbau, wonach sich Klassenbewusstsein weitgehend automatisch aus der Position einer Klasse im ökonomischen Gefüge einer Gesellschaft ergäbe. Aber wieso setzen sich die Interessen der Menschen, die nur von ihrer Arbeit leben können, in Wahlen dann nicht deutlich durch? Wie werden die Gehirne manipuliert?

 

Aus Gramscis Sicht konnte der Kapitalismus in modernen Industriegesellschaften nur überwunden werden, wenn das Proletariat nicht allein um seine ökonomischen und politischen Rechte ringt, sondern zugleich um die Meinungsführerschaft – auch in seinen eigenen Reihen. Im Kampf um die Hegemonie schrieb er der Kultur eine bedeutende Rolle zu. Schließlich war schon in den Klassengesellschaften der Vergangenheit die ökonomische Ausbeutung nicht nur durch Repression gesichert worden. Um die Politisierung der Menschen zu hemmen, wurde sie mit Hilfe der Religion verschleiert.

 

Dass die Sozialistische Partei Italiens stark auf die Erringung ökonomischer Teilhabe konzentriert war und sogar der Protagonist des linkesten Flügels, Amadeo Bordiga, in kultureller Betätigung junger Proletarier die Gefahr ihrer Verbürgerlichung witterte, sah Gramsci als zu eng  an. Im Parteiorgan Avanti und im Grido del Popolo schrieb er selbst nicht nur politische Artikel, sondern auch Theater- und Literaturkritiken und im weitesten Sinne kulturelle Essays: Chroniken lokaler und überregionaler Ereignisse, Kritik überkommener fatalistischer Haltungen, bis hin zu  Betrachtungen zur damals in Italien noch unterentwickelten Rolle des Sports.

 

Während der sich in Turin, dem größten Industriezentrum des Landes heranreifenden  Rätebewegung, unterstützte er 1917 eine Initiative zur Gründung eines sozialistischen Kulturvereins. Denn die als bürgerliche Institution für das Proletariat eingerichtete Volksuniversität verbreite nur einen „vagen und konfusen spirituellen Humanismus“, der nicht effizienter „als die Wohlfahrtsinstitutionen“ sei. Das Proletariat brauche eigene, autonome Kulturinstitutionen, die sich auf die Ziele der Klasse konzentrieren und eine dritte Kraft neben der Partei und der in Turin bereits mächtigen Gewerkschaften und Konsumkooperativen werden müsse:  „Der politischen und der ökonomischen Aktion sind philosophische, religiöse, moralische Probleme vorgelagert, ohne, dass die ökonomischen und politischen Organe darüber diskutieren und die selbst gewonnen Erkenntnisse verbreiten können. […] Der Sozialismus ist eine integrale Konzeption des Lebens: er hat eine Philosophie, eine Mystik, eine Moral.“ Mit dem Verein würde man auch Intellektuelle gewinnen, die in der Bewegung kaum vertreten waren, weil sie noch „keine spezielle Aufgabe haben, die ihren Fähigkeiten entspricht. Hier würden sie sie finden, ihre Intellektualität würde herausgefordert.“ Der Kulturverein der Sozialisten „würde der dogmatischen und intoleranten Mentalität, die die katholische und jesuitische Erziehung im italienischen Volk erzeugt hat, einen stolzen Stoß versetzen.“ Noch fehle „der Geist der uneigennützigen Solidarität, die Liebe zur freien Diskussion, das Streben, die Wahrheit allein [...] mit Rationalität und Intelligenz zu suchen. Die Sozialisten würden ein aktives, praxisorientiertes Beispiel liefern und kräftig zur Herausbildung einer neuen Mentalität beitragen.“[1]

 

Ein unter Pseudonym schreibender Autor – möglicherweise Bordiga – hatte sich gegen den Vorschlag gewandt und verlangt, „spezifische Organe des ökonomischen Kampfes zu schaffen, die die Notwendigkeit erarbeiten, dass er befreit werden muss von allen gefühlsmäßigen und partikularen Bestandteilen“. Gramsci konterte, dass es der sozialistischen Bewegung um „komplette Menschen“ gehe und sie sich nicht auf die Vermittlung positivistischen Wissens beschränken dürfe, womit er wieder auf die vom Bürgertum eingerichtete “philanthropische“ Volksuniversität verwies. Das Proletariat brauche „nicht nur Vorträge, sondern müsse lernen zu diskutieren, Probleme zu erforschen, woran alle teilnehmen, einen Beitrag liefern und wo alle zugleich Meister und Schüler sind“. Es müsse teilhaben an einer umfassenden „Kultur im humanistischen Sinne“, die zudem auch  “Freude und Befriedigung schon aus sich selbst heraus vermittelt“.[2]

 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lasen beträchtliche Teile der italienischen Unterschichten noch von der Kirche teilweise kostenlos verteilte Romane in der Tradition des Jesuitenpaters Antonio Bresciani. Diese Trivialliteratur richtete sich, so Gramsci, gegen die Erinnerung an eine große Volksbewegung – das von Giuseppe Garibaldi geprägte Risorgimento, die italienische Einigungsbewegung. Erzeugt werde „kosmische[n] Angst vor dämonischen Kräften, die man nicht versteht und die man daher nicht anders als mit einem universellen, repressiven Zwang kontrollieren kann. […] Freiheit und schöpferische Spontaneität gehen verloren [...] es bleibt, verschönt durch jesuitische Honigrede, nichts als Haß, Rachsucht, tölpelhafte Verblendung.“[3]

 

Für die Zeitungen, die um möglichst zahlreiche Leserschaft auch unter den Arbeitern konkurrierten, gewannen moderner ausgerichtete Fortsetzungsromane an Bedeutung. Gramsci war der erste Marxist, der sich mit neuen Formen der Massenkultur auseinandersetzte und ihren manipulativen Charakter erkannte. Die Fortsetzungsromane fokussierten sich oft auf Liebeskonflikte – wie das von Gramsci ebenfalls analysierte populäre Theater und das noch in den Anfängen steckende Kino. Schon 1918 nannte er die primitive Fortsetzungsliteratur „Zuhälterin der Zeitschriften“ und eine neue Form von „Opium des Volkes“, das ein “mächtiger Faktor bei der Herausbildung der Mentalität und Moralvorstellungen“ sei und „beinahe immer äußerst banal in der Form und im Inhalt dumm“. Seine Kritik der Trivialliteratur lässt sich heute auf Fernsehserien und Blockbuster übertragen bis hin zu den Produktionsprinzipien: Damals bereits arbeitete er den Zusammenhang zwischen kommerziellem Erfolg und dürftigem, oft reaktionärem Inhalt heraus. Die Massenkultur richte sich in Geschmack und Haltung nach den am weitesten zurückgebliebenen Teilen der Bevölkerung: Was einmal kommerziellen Erfolg hatte, wurde in unendlichen Varianten wiederholt. So nahm Gramsci 1918 schon eine Grundachse der späteren Kritischen Theorie hinsichtlich der Kulturindustrie vorweg. Selbst in neuester Philosophie und zeitgenössischen Sprachwissenschaft bewandert – aus letzterer entlehnte er seinen Hegemoniebegriff – behielt er zwar im Auge, dass die Arbeiterklasse danach streben müsse, an die fortgeschrittensten Entwicklungen der Kultur anzuknüpfen. Im Unterschied zur Kritischen Theorie meinte er jedoch nicht, dass nur Kunstwerke von höchstem innovativen Rang emanzipatorische Haltungen erzeugen können. Er forderte junge, links orientierte Autoren auf, sich des Genres des Fortsetzungsromans anzunehmen und „interessante populäre Romane zu schreiben“.[4] Es ging ihm um eine Form von Inspiration, wie sie Bertolt Brecht aus Kriminalromanen zog.  

 

Ein politisches Projekt, dass die Abschaffung der Vorrechte von Klassen und Kasten bei der Aneignung von Bildung und gesellschaftlichen Funktionen anvisiert, müsse sich bewusst sein, so heißt es später in den Gefängnisschriften, „dass die Entwicklung der intellektuellen und moralischen Erneuerung nicht in allen gesellschaftlichen Schichten simultan verläuft, im Gegenteil. Noch heute […] sind viele Ptolomäer und nicht Kopernikaner. (Es existieren viele ´Konformismen`, viele Kämpfe für neue Konformismen und verschiedene Kombinationen zwischen dem, was ist und – variabel ausgedrückt – dem Zukünftigen, wofür man arbeitet. […] Sich auf den Standpunkt einer ´einzigen` Linie der progressiven Entwicklung zu stellen, durch die jede Errungenschaft akkumuliert wird und die Voraussetzung neuer Errungenschaften wird, ist ein schwerer Fehler. Nicht nur, dass es vielerlei Linien gibt, sondern in der ´progressiven Linie` vollziehen sich auch Rückschritte.“[5]

 

1919-1920 war Gramsci der politische Führer der Turiner Rätebewegung, die sich an den russischen Sowjets orientierte. Die ebenfalls von ihm geleitete Zeitung, der Ordine Nuovo, war das politische Organ der Räte, hatte aber auch einen Kulturteil. Hier kamen nicht nur internationale Intellektuelle zu Wort: Romain Rolland, Henri Barbusse, Anatoli Lunatscharski, Maxim Gorki und Walt Withman mit von Palmiro Togliatti übersetzten Gedichten. Gedruckt wurden auch literarische Texte von Arbeitern, die Gramsci als einen „autonomen Ausdruck von Gefühlen des Volkes“ qualifizierte, das „sich selber sucht“[6]. Es gelang ihm, den Dirigenten Arturo Toscanini zu gewinnen, ein Konzert für die Turiner Arbeiterschaft zu veranstalten. Er organisierte Treffen mit Tommaso Marinetti, dem Anführer der futuristischen Maler, die gegen den verstaubten Akademismus und für industriellen Fortschritt kämpften. Gramsci lotete sogar Bündnismöglichkeiten mit dem Dichter Gabriele d´ Annunzio aus, allerdings vergeblich.

 

Der Ordine Nuovo eröffnete eine Arbeiterkulturbewegung wie sie auch in der Weimarer Republik entstand. In Italien wurde sie schon 1922 radikal eingeschränkt durch die Machtergreifung des Faschismus. Zu Benito Mussonlinis Hegemonialstrategie gehörte es, Elemente linker Kultur wie z. B. Massenaufmärsche[7] oder auch Begriffe wie den der Revolution anzueignen und umzufunktionieren – eine Vorgehensweise, die Gramsci „populistico“ nannte. Intellektuelle, um die Gramsci geworben hatte, liefen zum Faschismus über: Marinetti nahm wichtige kulturpolitische Aufgaben wahr. Auch d´Annunzio arrangierte sich mit Mussolini.

 

Dass sich der Faschismus eine Massenbasis schaffen konnte, lag nach Gramscis 1924 gemachter Beobachtung auch daran, dass er einen populistischen ‘Romantizismus‘ verstrahlte, der seinen Ursprung in Elementen des Fortsetzungsromans hätte. Zwar handele es sich um „eine gesellschaftliche, d.h. politisch-ökonomische Bewegung“, aber das „Milieu, in dem sich die einzelnen Faschisten herangebildet haben, die Ideologie, mit der sie sich vollgestopft haben, kann Romantizismus genannt werden.“ Als Beispiel führte er den Faschisten Massimo Rocca an, der  Angestellter des Verlagshauses Sonzogno gewesen war. Er „hat übersetzt, hat bei der Verbreitung von tausenden und zehntausenden Exemplaren der Romane von Ponson du Terrail, von Hector Malot, Henri Richebourg, von Eugène Sue mitgewirkt.“ Für Faschisten wie Rocca oder auch Curzio Malaparte[8] sei „eine aus dem Gleichgewicht geratene Phantasie, ein Schauer wütender Helden, eine psychologische Unruhe“ kennzeichnend, „die keinen anderen idealen Inhalt hat als die Gefühle, die in den Fortsetzungsromanen der französischen Romantik von [18]48 enthalten sind: Anarchisten dachten die Revolution wie ein Kapitel der Elenden[9] [...] Faschisten wollen die ‚Prinzen Rudolph‘[10] des guten italienischen Volkes sein. Die historische Konjunktur hat es zugelassen, dass dieser Romantizismus ‚führende Klasse‘ und dass ganz Italien ein Fortsetzungsroman wird.“[11]

 

Die im großen Stil von Mussolini praktizierte Vereinnahmung linker Kulturtechniken findet sich später im deutschen Faschismus wieder und ist auch ein Probleme der aktuellen ideologischen Kämpfe. Das Duisburger Institut für. Sprach- und Sozialforschung (DISS), das sich mit dieser Anverwandlung linker Begriffe durch Rechte beschäftigt hat, prägte dafür den Begriff Diskurspiraterie. Darin schwingt bereits mit, dass sich Linke ihrer Kulturgüter nicht berauben lassen dürfen, sondern sie im Fall des Missbrauchs aktualisieren und schärfen müssen.

 

Die 1921 entstandene Kommunistische Partei Italiens orientierte unter ihrem Ersten Sekretär Bordiga auf eine kleine Kaderpartei, die eine baldige Revolution und die Errichtung eines sozialistischen Staates nach dem Vorbild Russlands ansteuerte. Angesichts der faschistischen Machtübernahme erwies sich das in Italien besonders früh als Illusion.

 

Die KPI blieb vorerst legal. Allerdings kamen viele Kommunisten und Sozialisten durch faschistischen Terror um, Partei- und Gewerkschaftsbüros sowie Zeitschriftenredaktionen wurden gebrandschatzt. An die Entfaltung eines proletarischen Kulturlebens war nicht mehr zu denken. Als Gramsci 1924 Bordiga ablöste, entstand immerhin eine Parteischule, in der u. a. Nikolai Bucharins Gemeinverständliches Lehrbuch der marxistischen Soziologie studiert wurde. Gramsci wird es in den Gefängnisschriften wegen seiner mechanistischen Züge ebenso kritisieren wie die idealistische Philosophie Benedetto Croces, die ihn wegen ihrer atheistischen Grundlagen als Student beeinflusst hatte. Neben der Herausgabe einer Frauenzeitschrift gelang es, mit der ebenfalls durch ihn ins Leben gerufenen Tageszeitung Unità ein Massenpublikum zu erreichen und damit die Basis zu schaffen für den enormen politischen und kulturellen Einfluss der KPI auf die spätere Resistenza.

1926 gelang es Mussolini, das Parlament auszuschalten und sich zum totalitären Staatsoberhaupt, aufzuschwingen.

 

Gramsci wurde wegen angeblichem Hochverrat verurteilt und starb 1937 in der Haft. In den Gefängnisschriften erfuhr seine Überzeugung des notwendigen Zusammenhangs von politischer und kultureller Strategie eine Vertiefung in ökonomischen und kulturellen Analysen u. a. des Fordismus und in der Theorie der Zivilgesellschaft.

 

Anders als Bordiga hatte Gramsci schon 1922 erkannt, dass die Durchsetzung von Sozialismus in Industrieländern mit alphabetisierter Arbeiterschaft, die sich bereits Teilhabe am bürgerlichen demokratischen System erkämpft hatte (die der Faschismus mit brutalsten Mitteln allerdings wieder rückgängig machte), nicht mehr wie in Russland durch Staatsstreich möglich war. Obwohl er nicht infrage stellte, dass sich sozialistische Überbauten erst nach dem Umbruch des Staates umfänglich entwickeln könnten, erklärte er es für notwendig, noch unter bürgerlicher Herrschaft für das Überschreiten des Horizonts der elitären bürgerlichen Zivilgesellschaft zu kämpfen. Es genüge nicht, dass die Arbeiterklasse aus dem Kreis der „traditionellen“, dem Bürgertum verbundenen Intellektuellen, „organische“ Intellektuelle zu Bündnispartnern gewinne.

 

Als wichtigstes Terrain des Kampfes um die Hegemonie sah Gramsci das Bildungswesen an. Er übernahm den reformpädagogischen Ansatz, dass jedes erzieherische Programm von der Lebenswirklichkeit der Schüler ausgehen muss. Es darf dort aber nicht stehen bleiben, sonst reproduziert es die bestehenden Klassenverhältnisse. Unterricht für Kinder in einer dörflichen, von der nationalen und internationalen Kultur weitgehend abgeschnittene Gegend, müsse zunächst von deren folkloristischer Vorstellungswelt ausgehen. Aber sie müsse auch provoziert und kritisiert werden, um das Kind stufenweise mit Techniken und Weltanschauungen bekannt machen, die es auf nationales und möglichst auch internationales Wissensniveau heben.

 

Nicht zufällig nahm die faschistische Bildungsreform, die sich ebenfalls an der Reformpädagogik inspirierte, gerade diesen Aspekt nicht auf. Sie sah viele Schultypen vor, die scheinbar freundlich auf die verschiedenen Schichten der Gesellschaft zugeschnitten waren, zwischen denen aber keine Übergänge vorgesehen waren. Und während die Oberschichten selbstverständlich universales und Fachwissen erwerben konnten, sollten den unteren Klassen milieugerecht nur elementare Grundkenntnisse und früh berufliche Fähigkeiten vermittelt werden.

 

Aber – so Gramsci – gerade den Heranwachsenden aus den Unterschichten schade das laissez-faire und verhindere ihren Aufstieg in die Sphären qualifizierten Wissens. Besonders ihnen müsse auch das disziplinierte und systematische Lernen beigebracht werden. Er verwies darauf, dass die Bildungsanstalten für Abkömmlinge der herrschenden Klassen auf Disziplin Wert legten und Phasen kumulativer Wissensaneignung vorsahen und dass diese auch für Lernende aus den Unterklassen unverzichtbar seien.

 

Prinzipiell plädierte Gramsci für ein kostenloses einheitliches Bildungssystem mit offenen Übergängen zur jeweils höhere Stufe. Für unabdingbar hielt er eine lange schulische Phase zweckfreien Lernens, in der möglichst viel Allgemeinbildung, humanistische Erziehung mit Elementen polytechnischer Bildung kombiniert werden sollte.[12]

 

Realiter bildete damals die frühe Erziehung zum Beruf für die Unterklassen den Hauptteil ihrer Schulbildung, die einen Menschentyp zu erzeugen suchte, der den Bedürfnissen der Industrie angepasst war und von Gramsci als „dressierter Gorilla“[13] bezeichnet wurde. Ganz, meinte er, würde das doch nicht erreicht: Auch die am Fließband stehenden Menschen blieben fähig, über ihre Lage hinaus zu denken und die bürgerliche Hegemonie schon innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in Frage zu stellen.

 

Im amerikanischen Fordismus, der den Arbeitern höhere Löhne zahlte, um sie zu Konsumenten der eigenen Produkte zu machen, erkannte er eine Produktionsweise, die dem Kapitalismus auch nach dem Ende des Faschismus eine weitere Epoche des Überlebens sichern könnte. Gerade deshalb blieb er dabei, dass die Linke eigene autonome Kultureinrichtungen unterhalten und einen Kampf für die Universalisierung der Bildungsmöglichkeiten schon in der bürgerlichen Gesellschaft führen müsse. Für die bürgerliche Zivilgesellschaft ist es charakteristisch, dass in ihr nur die Ober- und Teile der Mittelschichten aktiv werden. Das von Gramsci anvisierte Ziel war, möglichst viele Menschen zu Akteuren der Zivilgesellschaft zu machen, was konkret heißt: zu Akteuren im Kampf um eine neue Ordnung. 

 

Seit seiner Zeit ist die manipulative Kraft der von globalisierten Konzernen erzeugten Massenkultur ungeheuerlich angewachsen. Und neue Produktionsformen auf der Basis von künstlicher Intelligenz drohen, demnächst einen Großteil der Menschen von hegemonial geleiteten Algorithmen abhängig zu machen. Zwar spielen in den heutigen Kämpfen um das Bildungssystem viele von Gramsci evozierte Elemente eine Rolle. Aber es ist noch nicht heraus, inwieweit es den arbeitenden Klassen gelingt, eine gegenkulturelle Souveränität zu entwickeln, um künstliche Intelligenz ihren eigenen Lebensinteressen dienstbar zu machen.    

 

* Dieser Artikel erschien unter dem Titel Souveräne Gegenkultur in : Junge Welt v. 22. 1. 2021, S.

 


[1]Antonio Gramsci: Scritti giovanili 1914-1918, Turin 1958, S. 143ff.

[2]Ebd, S. 144f. 

[3]    Antonio Gramsci: Marxismus und Kultur, Hamburg 1983, S. 118.

[4]Ebd., S. 33-35.

[5]Ebd., S. 114.

[6]Zit. n. : Cesare Bermani: Letteratura e vita nazionale. Le ´osservazioni` sul folclore. In: Agazzi, Bermani u. a.: Gramsci, un` eredità contrastata, Mailand 1979, S. 91ff.

[7]1922 erzwang Mussolini mit dem ´Marsch auf Rom`, dass ihm der König die Regierung übertrug. 

[8]   Curzio Malaparte (1898-1957) war ursprünglich Kommunist, wurde Faschist und rekonvertierte wieder zum Kommunismus. Auf  dem Totenbett erhielt er von Palmiro Togliatti persönlich seine Parteikarte.

[9]Gemeint ist: Victor Hugos Romanepos Die Elenden, in dem es Revolutionsszenen vom Juniaufstand 1832 gibt.

[10]Anspielung auf eine Figur in Eugène Sues Geheimnisse von Paris.

[11] Antonio Gramsci: La Costruzione del Partito Comunista 1923-1926, Turin 1974, S. 367-369.

[12]Antonio Gramsci. Gefängnishefte, Bd, 7, Hamburg 1996, S. 1513f. Siehe dazu auch:  Armin Bernhard: Antonio Gramscis Politische Pädagogik. Grundrisse eines praxisphilosophischen Erziehungs- und Bildungsmodells, Hamburg, 2005.

[13]Antonio Gramsci: Gefängnishefte, a. a. O., S. 1516.

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