Domenico Losurdo: Wie westlicher Marxismus auferstehen könnte

Wie westlicher Marxismus auferstehen könnte
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Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte` behandelt das Auseinanderdriften des sich in der Nachfolge von Marx und Engels verstehende Denkens in der ´westlichen` und der ´östlichen` Hemisphäre.

Dieses Auseinanderdriften setzte schon mit der nach dem 1. Weltkrieg im Westen misslingenden, im Osten aber 1917 vollzogenen Revolution ein, die mit der chinesischen Revolution auch eine Fortsetzung fand. Da Losurdo die sich immer mehr vertiefende Spaltung bis in die Gegenwart verfolgt, ist der Begriff des Ostens nicht mehr nur geografisch zu verstehen, sondern bezieht sich auch auf die entkolonialisierten Gebiete im Süden und auf die weltweiten postkolonialen Auseinandersetzungen heute.

 

Ausgangspunkt der Spaltung ist laut Losurdo, dass – aus östlicher Sicht – der Imperialismus als gemeinsamer Feind aus dem Blickfeld geriet wie auch die unhintergehbare Notwendigkeit militärischer Verteidigungsfähigkeit und der Aufbau einer eigenen Wirtschaft in den entkolonisierten Staaten. Aus der Sicht des westlichen Marxismus geriet in den postkolonialen Ländern das angeblich marxistische Ziel aus den Augen: der Abbau des Staates. Kritisiert wurde, dass stattdessen  hoch militarisierte, bzw. hoch bürokratisierte Gesellschaften entstanden, mit wenig Freiheitsrechten.

 

Beeindruckend ist die von Losurdo angebotene Materialfülle an oft wenig bekannten Texten des westlichen Marxismus, die er mit meist noch weniger bekannten Texten des östlichen, bzw. südlichen Marxismus konfrontiert. Soweit ich sie hier zitiere, stütze ich mich auf die – wegen amerikanischer Zitierweise - unvollständigen Quellenangaben in der mir zur Verfügung gestellten, noch unfertigen Übersetzung des Buchs. Ich verweise also nur auf die Seiten der Übersetzung, aber meist geht das Entstehungsjahr und auch der Titel zitierter Texte aus Losurdos Erklärungen hervor.  

 

Für mich überraschend war die 1918 erwachende Skepsis Ernst Blochs hinsichtlich der Oktoberrevolution. Er verurteilte zwar, dass der Kaiser Russland als „schwarzen Kontinent“ bezeichnet hatte und tausende ukrainische Bolschewiken “bei Taganrog hatte ersaufen lassen“, klagte aber Lenin an, dass er den kommunistischen Gleichheitsgedanken auf den St. Nimmerleinstag verschoben habe. (Bloch nach L., S. 53) Die Proletarier hätten nicht für die Weltrevolution gekämpft, „um bei der kommenden Erringung der ökonomisch-sozialen Demokratie die Freiheit preiszugeben und die demokratische Linie, den Stolz der westlichen Kulturen“. ( Bloch nach L., S. 76)  Bloch schloss sich dem US-Präsidenten Woodrow Wilson an, der den Weg zum „endgültigen Frieden“ geebnet habe. Er meinte, dass Lenin den demokratischen Charakter Englands nicht ernst nehme, und sich „in der souveränen Skepsis des Marxisten“ gefalle, „der überall Kapitalinteressen, sonst nichts sieht, und den Engländern das Protektorat über das ferne Ägypten zum Vorwurf macht.“ (Bloch nach L., S. 35)

 

Dass sich die aus der Oktoberrevolution erwachsende Kommunistische Internationale nicht nur die Losung ´Proletarier aller Länder, vereinigt euch!` zu eigen machte, sondern auch zur Selbstbefreiung der kolonisierten Völker aufrief, hatte für Bloch keine Relevanz. Und paradigmatisch für eine Grundlinie des westlichen Marxismus war auch seine Unkenntnis der rechtlichen Lage der Kolonisierten, die sich von der rechtlichen Lage der Proletarier in den sogenannten Mutterländern erheblich unterschied. 1923 Anatole France paraphrasierend, sah Bloch nur, dass das bürgerliche Recht der formalen Gleichheit in der kapitalistischen Gesellschaft realiter die Ungleichheit zwischen Proletarier und Kapitalbesitzern nicht aufhebt, sondern „ein bloßes Mittel der herrschenden Klassen“ darstellt, „die ihre Interessen schützende Rechtssicherheit aufrecht zu erhalten“. ( Bloch nach L., S. 30.). Ähnlich beschränkt war Walter Benjamins Blick, der sich ebenfalls auf France bezieht. Beide scheinen die rechtliche Lage der Kolonisierten zu ignorieren.

 

Ho Chi Minh, der sich als Mitglied der III.Internationale von ihr Unterstützung im antikolonialen Kampf versprach, sagte in einer Rede, die er im Dezember 1920 auf dem Kongress der Sozialistischen Partei Frankreichs hielt: „Die sogenannte chinesische Ungleichheit da unten hat zwei Maße und zwei Gewichte. Die Annamiten haben nicht die gleichen Garantien wie die Europäer und ihre Anhänger.“ (Ho Chi Minh nach L. S. 13) Tatsächlich hatte selbst der wohlhabendste Kolonisierte weniger Rechte als der ärmste Angehörige der Kolonialmacht: Er konnte seiner Ländereinen, seiner Güter und sogar seines Lebens beraubt werden. Nur wer in den französischen Kolonien zum Katholizismus übertrat, konnte den Rechtsstatus der Europäer erreichen.

 

Bloch hat in diesem Punkt nichts dazugelernt. 1961, in dem Jahr, in dem die Pariser Polizei am helllichten Tage vor den Augen einer zahlreichen Bürgerschaft eine gnadenlose Jagd auf Algerier eröffnete, die für ihre Unabhängigkeit demonstrierten und von denen viele totgeschlagen wurden, bzw.  in der Seine ertranken, erschien Naturrecht und menschliche Würde. Hier beschränkte er sich erneut darauf, dass der Liberalismus den Fehler habe, für „formale und nur formale Gleichheit“ zu kämpfen. „Der Kapitalismus war zu seiner Durchsetzung an einer sich auf alles gleich ausbreitenden Allgemeinheit der rechtlichen Regelung interessiert“. (Bloch nach L., S.77)

Diese Negierung der Grundlagen der kolonialen Situation ist vielen Vertretern des westlichen Marxismus eigen – und das bis heute.

  

Methodisch zu beachten ist, dass Losurdo den Begriff der Kolonisierung über seine klassischen Bezugspunkte hinaus verstanden wissen will: Er betrifft auch das vor dem 1. Weltkrieg halbkoloniale Russland, das sich während der auf die Revolution folgenden Interventionskriege und erneut im 2. Weltkrieg gegen seine vollständige Kolonisierung erwehren musste. Er betrifft ebenfalls die anderen innereuropäischen Kolonisierungsvorhaben Hitlers, auch die in Richtung Westen: Hingewiesen sei auf seine Formulierung, dass Frankreich „auf dem Weg der Vernegerung“ sei. (Hitler nach L., S. 45) Er betrifft die mit der Monroe-Doktrin festgeschriebenen Hegemonieansprüche der USA gegenüber Lateinamerika, den Philippinen und ihr Verhalten als Weltpolizist. Und schließlich betrifft er auch Formen der inneren Kolonisation wie die mit der Verweigerung der Bürgerrechte für Ureinwohner und Afroamerikaner in den USA.

 

Um die Perspektive der Kolonisierten zu verstehen, bringt Losurdo viele im Westen wenig bekannte Textbelege, die die grundlegend andere Perspektive der gegen den Imperialismus kämpfenden Völker darstellen. So schrieb Sun Yat-Sen 1911 in einem berühmten Brief an Lloyd George auf dessen Frage, ob sich China in einem kommenden Krieg an der Seite Englands beteiligen würde, dass die Dispute der Weißen China nicht interessierten und der Sieg des einen oder anderen Lagers für China irrelevant sei. (Siehe L. S. 12 ) Und 1924 zog er – der sich keinesfalls als Marxist verstand – eine positive Bilanz der Oktoberrevolution: „Die Rothäute Amerikas sind bereits ausgerottet.“ Ähnliches drohe anderen Völkern, auch den Chinesen. Plötzlich aber seien „150 Millionen Menschen slawischer Rasse aufgestanden, um sich dem Imperialismus zu widersetzen, dem Kapitalismus, und gegen die Ungleichheit und zur Verteidigung der Menschlichkeit zu kämpfen“. Und so entstünde in der russischen Revolution eine große Hoffnung für die Menschheit, während die alten Mächte „Lenin angriffen, weil sie einen Propheten der Menschlichkeit zerstören wollen.“(Sun Yat-Sen nach L., S. 13)

 

Mit dem schon bei Bloch – aber später auch bei vielen anderen – anklingenden Motiv des von Marx/Engels angeblich postulierten Absterben das Staates, dem die Entwicklung in der Sowjetunion  durch die Amputation der bürgerlichen Freiheiten zuwiderlaufe, hat sich Losurdo schon in mehreren früheren Bücher auseinandergesetzt und dargelegt, dass bei manchen diesbezüglichen Formulierungen der damals real existierende bürgerlich-kapitalistische Staat gemeint gewesen sei, bei anderen es sich um eine zeitweilige politische Konzession an die Anarchisten gehandelt habe. Letzteres Motiv liegt Lenins Schrift Staat und Revolution ebenfalls zugrunde. Aber es spielte auch ein vorübergehender Utopismus eine Rolle, auf dessen andere Facetten wir noch zurückkommen. Doch während die Idee einer raschen Abschaffung des Staates bei Bloch und anderen westlichen Marxisten eine dauerhafte Utopie blieb, in der jüdisch-christlicher Messianismus nachklinge, hätten – so Losurdo – solche Vorstellungen im konfuzianisch grundierten asiatischen Kontext keine, bzw. eine viel geringere Rolle gespielt. Der Sowjetunion sei zunächst eine Zwitterrolle zwischen westlichem und östlichem Denken zuzuschreiben. Die oft aus sehr lange währendem westlichen Exil zurückkehrenden russischen Revolutionäre pflegten zunächst ein geradezu ausuferndes utopisches Denken. Nicht nur der Staat sollte abgeschafft werden, sondern auch die Familie, die Religion und der Markt. Die Notwendigkeit der Verteidigung der Revolution nach innen und vor allem auch nach außen, machten jedoch bald die diktatorischste aller Staatsfunktionen notwendig: die Aufstellung eines neuen, kampffähigen Heeres. Zur Bekämpfung der Hungersnot mussten ebenfalls staatliche Organe geschaffen werden, die ihrer Aufgabe so ungenügend gerecht wurden, dass mit der Neuen Ökonomischen Politik auch wieder Marktbeziehungen hergestellt werden mussten, die wiederum zu kontrollieren waren. Andere Utopien wie die Aufgabe der Familie und der Kampf gegen die Religion ehe der Analphabetismus besiegt war, blieben länger erhalten und richteten erheblichen Schaden an wie auch die rasch wiederkehrende Außerkraftsetzung der Marktbeziehungen durch eine höchst umständliche und ausufernde Bürokratisierung.

 

Die Utopie der bald herbeizuführenden Weltrevolution brachte den Streit zwischen Trotzkisten und Stalinisten hervor. Dass die Zurücknahme von Utopien zugunsten beschleunigter Industrialisierung zu schweren Konflikten und schließlich in eine lange Phase von Gewalt mündete, verdeckte vielen westlichen Marxisten den Blick dafür, dass die mit dem Ziel rascher Industrialisierung stattfindende Primärakkumulation eine unhintergehbare Bedingung für den bloßen Erhalt der Sowjetunion war. Im Westen wurde – auch von Marxisten – nur die hässlichen Seiten der hastigen Modernisierung gesehen, der jeglicher utopischer Überschuss abhanden gekommen, bez. in Ideologie verwandelt worden war. Unterbelichtet blieb und bleibt nicht nur die nie unterbrochene imperialistische Bedrohung des Landes, sondern auch der Wirtschaftsboykott, dem es mal mehr, mal weniger ausgeliefert war und ist.

              

Die sich über einen längeren Zeitraum erstreckende chinesische Revolution war gezwungen, sich schon in ihrer vorstaatlichen Phase mit Ökonomie zu beschäftigen. Losurdo erinnert daran, dass die  Soldaten der chinesischen Volksarmee auf den Stationen des Langen Marschs sich nicht nur mit der noch utopischen Perspektive eines sozialistischen Staats beschäftigten konnten, sondern mit konkreter Ökonomie, da sie auch lernen mussten, Gemüse anzubauen und Tiere zu züchten.

 

Ein signifikantes Beispiel für die andere Perspektive der Kolonialvölker auf die europäischen Konflikte war die Reaktion des aus Trinidad stammenden George Padmore, der in Moskau das kommunistische Büro für Propaganda und Organisation der Afrikaner und Afroamerikaner leitete „und dort zum bekanntesten und treusten Verfechter der afrikanischen Unabhängigkeit“ wurde. 1935 unterschied der Kreml auf der Suche nach Allianzen Großbritannien und Frankreich als ´demokratischen Imperialismus` von Deutschland und Japan als ´faschistischen Imperialismus`, der zum Hauptziel der russischen und kommunistischen Propaganda erklärt wurde. „Diese Unterscheidung reduzierte die Tätigkeit für die afrikanische Emanzipation auf eine Farce. Deutschland und Japan hatten in der Tat keine Kolonien in Afrika. Padmore brach sofort jede Beziehung mit dem Kreml ab.“ (Cyril Lionel Robert James n. L., S. 55) In Südafrika dachten die von Großbritannien unterdrückten Afrikaner ähnlich. Nach Losurdo war diese Haltung aber doch etwas „provinziell“. Sie unterschlug, dass sich Deutschland und Japan gerade darauf vorbereiteten, ein riesiges Kolonialreich zu erobern. (Losurdo, S. 55)

 

Realistischer argumentierte Gandhi, der Deutschland und Großbritannien gleichermaßen als Mächte mit kolonialen Ambitionen betrachtete (Siehe L., S. 56). 1940 schrieb er: „Wir haben in Indien eine Hitlerherrschaft“, deren Grundlage die Rassendiskriminierung sei. (Gandhi nach L., S. 113) William Edgard Burghardt du Bois erkannte 1940 in Deutschland und den USA dasselbe Streben der Weißen nach absoluter Suprematie. (Du Bois nach L., S. 56)

 

Wie schon zu Sun Yat-Sens Zeiten sah Mao die europäischen Konflikte aus der fernöstlichen Perspektive. Für China hatte der 2. Weltkrieg schon 1937 mit dem japanischen Massaker von Nanking begonnen, bei dem es zwischen 200 000 bis 300 00 Tote gegeben hatte. Anders als das westeuropäische Proletariat, für das der deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag einen Verrat darzustellen schien, sah Mao darin „einen schweren Schlag für Japan und eine gewaltige Hilfe für China,...indem er der Sowjetunion eher die Möglichkeit der Hilfeleistung für China“ gäbe und sie für einige Zeit vor einem Zweifrontenkrieg bewahre. (Mao nach L., S. 57f.) (Mao dachte natürlich den im Kriegsfall unausweichlichen Konflikt zwischen Japan und der SU mit. – S. K..)  

Aber in den USA, wo Trotzki die dortige Sektion der IV, Internationale gegründet hatte, war die Kritik der Linken am Nichtangriffsvertrag am heftigsten. Trotzki entwickelte damals auch den Kern der Totalitarismusdoktrin, wonach Stalinismus und Faschismus auf dieselbe Stufe zu stellen und Hitler und Stalin gleichermaßen verantwortlich für den ausbrechenden Krieg seien. Das Problem der bestehenden Kolonien und der im Plan Hitlers zu kolonisierenden Länder, von dem auch die Sowjetunion betroffen war, blieb völlig außen vor.

 

Um sich in die Perspektive der kolonisierten und in Gefahr der Kolonisierung stehenden Länder hineinzuversetzen, schlägt Losurdo auch vor, die eurozentristische Datierung des 2.Weltkriegs vom 1. September 1939 bis zum 8. Mai 1945 zu hinterfragen, die – genau genommen – nicht einmal bezüglich Europas verallgemeinerbar ist.  Aus Maos Sicht war 1938 schon ein Drittel der Menschheit im Krieg. Stalin sprach 1939 davon, dass Krieg herrsche zwischen Schanghai und Gibraltar – er bezog bereits die deutsch-italienische Intervention in Spanien mit ein. Aber warum wird nicht auch Italiens Abessinienkrieg einbezogen und die Aufteilung der Tschechoslowakei?  Und weder für Asien noch für die USA – namentlich auch für die fernöstlichen Teile der Sowjetunion – endete der 2. Weltkrieg nicht schon am 8. Mai 1945.

  

Schwerwiegender als diese Datierungsfragen ist die Negierung der grundlegenden Problematik der Kolonisierung durch den Marxismus im Westen. Max Horkheimer beklagte 1942 – ähnlich wie Bloch, – dass die russischen Kommunisten „die Unterdrückung des Staates“ unterlassen hatten, „um sich auf das Problem der beschleunigten Entwicklung „des industriell rückständigen Vaterlands“ zu konzentrieren. Das stimmte zwar, meint Losurdo, aber Hitler stand vor Moskau und hätte es auch eingenommen, wenn keine beschleunigte Industrialisierung stattgefunden hätte. (Horkheimer nach L., S. 7) Um alle Missverständnisse auszuräumen – Losurdo behauptet damit keineswegs, dass auf diesem Weg nicht schwere Fehler bis hin zu großen Menschenrechtsverbrechen begangen wurden, beharrt aber darauf, dass die Sowjetunion, um der kolonialen Fremdbestimmung zu entgehen, keine andere Wahl hatte, als sich so rasch wie möglich wirtschaftlich zu entwickeln. 1968 argumentierte Horkheimer mit ähnlichem Bedauern, dass der Marxismus in den Ostblockländern hauptsächlich „als nützliche Ideologie fungiert, um den vom Westen in der Produktion erreichten Vorteil aufzuholen“.(Horkheimer nach L., S. 6-7.) Dass sich Vietnam gerade u. a. der auch mit chemischen Waffen geführten Aggression der USA erwehren musste, setzte Horkheimer zu seinen Erwägungen nicht in Bezug. Die von ihm gefeierte und eher im Westen für realisierbar gehaltene marxistische Lehre bezog er nicht auf das Problem der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern auf das Ingangsetzen der Auslöschung des Staates.

 

Es kann hier nicht auf alle einflussreichen westlichen Marxisten eingegangen werden, bei denen Losurdo Ignoranz bis hin zur Feindschaft gegenüber den antikolonialen Kämpfen festgestellt hat.

Hingewiesen sei aber auf die ausführliche Darstellung des Bruchs in Hannah Arendts Denken. 1946 bescheinigte sie der Sowjetunion noch, den Antisemitismus „völlig überwunden“ zu haben und Nationalitätenkonflikte auf neue Art anzugehen. Auch nach dem Krieg lobte sie das Land noch für seinen Antiimperialismus. Anlässlich eines Besuchs von Menachem Begin in den USA unterzeichnete sie neben Albert Einstein und anderen einen offenen Brief an die Times gegen das Massaker an dem arabischen Dorf Deir Yassin, und tat ihre Meinung kund, dass sich Begins Partei „mit ihrer Mischung aus ´Ultranationalismus` und dem ´Herauskehren rassischer Überlegenheit`“ als „eng verwandt mit nationalsozialistischen und faschistischen Parteien`“ erweise. In den 1951 publizierten, aber schon viel früher geschriebenen, ersten beiden Teilen von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft stellte sie noch eine enge Verbindung zwischen britischem Imperialismus und dem ihm eigenen rassistisch grundierten

Überlegenheitsbegriff der eigenen Nation her und bezog den Begriff des Totalitäten darauf. Im dritten, im Kalten Krieg entstandenen Teil aber stellte sie Hitlerdeutschland und die Sowjetunion unter den Begriff des Totalitarismus. Noch gravierender findet Losurdo „die Verdrängung der Beziehung, die das Dritte Reich mit der kolonialistischen und imperialistischen Tradition verband, deren konsequenter und gnadenloser Erbe jenes sein wollte“. Die Sowjetunion strebe einen „panslawischen Bolschewismus“ an, meinte Arendt, der ein Pendant zum pangermanischen Nazismus darstelle.“ (Arendt nach L. S. 112-116) Wie sehr sie sich damit der Atmosphäre des Kalten Krieges anpasste, spiegelt die Rezension eines rechts ausgerichteten Historikers wieder: Golo Mann fand nur den dritten Teil des Werkes gut und verneinte, was sie im ersten Teil behauptet hatte: nämlich dass der britische Repräsentant in Ägypten etwas „mit dem totalen Staat“ zu tun hätte. (Mann nach L. S. 119) Mit ihrem psychopathologisch unterfütterten Totalitarismusbegriff entfernte sich Arendt von ihren früheren Definitionen des Imperialismus. Der Totalitarismus von Stalin und Hitler sei einem Wahn entsprungen. Hitlers Pangermanismus war aber kein Wahn, sondern kalkuliert – er siedelte tatsächlich Deutsche in den eroberten Gebieten an. (Siehe L., S, 125) 1958 behauptete Hannah Arendt, die USA hätten nie einen Imperialismus wie die Europäer betrieben. Präsident Monroe galt ihr als Freiheitsheld, obwohl er die Vorherrschaft der USA über Lateinamerika festgeschrieben hatte und selbst Sklavenbesitzer war. Die Eroberung der Philippinen, Hawais und von Teilen Mexikos blendete sie aus, aber auch den Genozid an den Indianern und die 1958 keineswegs ans Ziel gelangte Bürgerrechtsbewegung. (Siehe Losurdo, S. 130f)

Schon in anderen Büchern ist Losurdo der Bewunderung Linker für die angeblich demokratische Reinheit der USA mit dem Verweis auf die einflussreichen Werke Lothrop Stoddarts (1883-1950)  begegnet, der als Mitglied des Ku-Klux-Clan, der amerikanischen Eugenik-Gesellschaft Rassentrennung bis hin zum Antisemitismus propagierte. Er führte den Terminus des „ Untermenschen“ ein, den er ausdrücklich auch auf den Bolschewismus bezog, den er 1921 als Todfeind der Zivilität und der (weißen) Rasse“ bezeichnete. (Stoddard nach L. S. 47 u. a.) Mit seinen auch deutsch erscheinenden Werken übte er wesentlichen Einfluss auf Spengler und Hitler aus, der ihn wiederum faszinierte. (Während des 2. Weltkriegs hielt er sich lange in Deutschland auf – S. K.) 

 

Psychopathologisch konnotiert sind auch die vielen Machtverhältnisse, die Michel Foucault untersucht hat. Eines allerdings fehlt – das zwischen Kolonisator und Kolonisiertem. (Eine Erklärung könnte sein, dass dieses Verhältnis 1962 von Frantz Fanon in den Verdammtem dieser Erde behandelt worden war, allerdings nicht ohne die entscheidenden rechtlichen Dimensionen auszublenden – S. K.) Es ist auch nicht bekannt, dass Foucault wie sein Freund, der Komponist Pierre Boulez, 1961 gegen das brutale polizeiliche Vorgehen gegen die Algerier in Paris protestiert hätte. Er stellte aber die nach Auschwitz führende „Biopolitik“ Hitlers auf eine Ebene mit dem von Stalin ausgerufenen inneren Klassenkampf, der angeblich auch eine biopolitische Dimension hätte. (Siehe Losurdo, S. 133)      

 

Hier können nicht alle weiteren von Losurdo behandelten Entwicklungen des Auseinanderdriftens von östlichem und westlichem Marxismus angesprochen werden, das erstmals von Perry Anderson 1976 auch als echter Gegensatz formuliert wurde. Dass Anderson dabei gerade Antonio Gramsci als Kronzeugen für den westlichen Marxismus berief, ist insofern falsch, als dieser ja schon während des 1. Weltkriegs und auch danach – im Geist der Beschlüsse der 3. Internationale – immer wieder auf die bevorstehende Phase der Selbstbefreiung der kolonisierten Völker hingewiesen hatte. Dies bestimmte auch lebenslang die Haltung Palmiro Togliattis. Aber im italienischen Marxismus der sechziger und siebziger Jahre gewannen mit Galvano Della Volpe und Lucio Colletti auch Strömungen an Einfluss, die die kolonialen Fragen ausklammerten.

 

Im Buch leider zu wenig erfasst wurden die Teile der 68er Bewegung, die ein starkes Engagement für die „Dritte Welt“ entwickelten. Dass das aber auch Brüche und daraus folgende Ambivalenzen haben konnte, legt das von Losurdo angebrachte Beispiel Herbert Marcuse nahe. Er befürwortete den antiimperialistischen Kampf, u. a. auch des vietnamesischen Volkes, meinte aber, dass dieser nichts mit Sozialismus zu tun habe. (Zumindest hätte er sehen können, dass der amerikanische Kampf in Vietnam etwas mit dem Kampf gegen den Sozialismus zu tun hatte – S. K.) Während sich Adorno und Horkheimer ganz hinter Israel stellten, hob Marcuse schwerwiegende Fehler und Ungerechtigkeiten bei seiner Gründung und auch später noch hervor, sprach sich aber nicht gegen  die Präventivkriege aus, was er mit seiner persönlichen Lage als Jude erklärte – eine Haltung, die nicht mehr in die wissenschaftliche Philosophie passt.

 

Unberührt in Losurdos Buch bleibt – bis auf seine Erwähnung Gramscis und Togliattis – die Haltung der westlichen Kommunistischen Parteien zur Kolonialfrage, insbesondere der Parteien, deren Länder Kolonien besaßen. Sie standen den Unabhängigkeitsbewegungen oft ebenso  entschieden entgegen wie die Philosophen. So vertröstete die KPF Ho Chi Minh 1945, als er die Frage der Unabhängigkeit Vietnams aufwarf, mit einer bald stattfindenden gemeinsamen kommunistischen Zukunft. Und als die sozialistische Regierung Frankreichs unter Guy Mollet 1956 Sondervollmachten für die Armee zur Abstimmung brachte, die die Folter in Algerien ermöglichten, wurden sie von den auf eine neue Volksfront hoffenden Kommunisten unterstützt. Erst 1958 unterstützte die KPF Deserteure, die sich dem Militärdienst in Algerien widersetzten.

Für Italien allerdings war es 1991 etwas Neues, als der größere, neben der Rifondazione Communista (Kommunistische Neugründung) aus der Auflösung der KPI hervorgegangene Partito Democratico di Sinistra (Demokratische Linkspartei) sofort für die Beteiligung Italiens am Krieg gegen den Irak stimmte.

 

Wie gesagt, Losurdo beschäftigt sich nicht explizit mit der Haltung der kommunistischen Parteien, sondern mit derjenigen, die sich selbst noch als marxistische Philosophen bezeichnen, obwohl das nicht immer zu trennen ist wie z. B. auch bei Rossana Rossanda, der Repräsentantin von Manifesto. Im Falle des Krieges gegen Libyen, der einen failed state hinterließ, unterstützte sie die Intervention noch, als bürgerliche Zeitungen bereits begannen, sie zu hinterfragen. (L.176)

Der Imperialismus als zu bekämpfende Größe existiert auch für Antonio Negri, Michael Hardt und Slavoi Žižek nicht mehr. Für sie ist die Welt bereits strukturell vereinheitlicht. Sie setzen sich für Menschenrechte ein, um die es in den ehemaligen Kolonien oft noch schlecht bestellt ist. Da die ökonomische Erpressung durch den Westen nicht mehr als letzte Ursachen dieser Probleme angesehen wird, gelten auch diesen linken Philosophen Boykotte und unfairer Handel (Freihandel - S. K.), letztlich sogar Krieg als probate Mittel, um mehr Menschen- und Freiheitsrechte durchzusetzen. Mit dem Werteexport sind sie auf der Argumentationslinie des Imperialismus angelangt.

 

Die Spaltung des Marxismus, dessen aktuelle Varianten sich als philosophischer und praktischer Antiimperialismus in den ehemaligen Kolonien entwickelt hat und im Westen auf die oben beschriebene Weise als leerer Utopismus vor sich hin dümpelt, kann nur überwunden werden, wenn der westliche Marxismus wieder antiimperialistisch wird. Das bedeute keineswegs, den Kampf um Emanzipation und Freiheitsrechte in den eigenen Ländern aufzugeben und in den ehemaligen Kolonien nicht zu unterstützen. Er findet dort übrigens auch statt, wird von den Medien aber meist nur dann verfolgt, wenn ihn westliche NGOs als Vortrupps imperialistischer Einmischung initiieren. Es ginge nur darum, eine Front gegen den Imperialismus aufzubauen, um ihn in seinen Kriegen, Boykotten und unfairem Handelsgebaren zu behindern.   

 

* Buchvorstellung (Vortrag) im Marx-Engels-Zentrum, Berlin zu:

Domenico Losurdo:Der westliche Marxismus. Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte, Papyrossa 2021.

Eine kürzere Rezension in: Neues Deutschland v. 13. 3. 2021

Wie westlicher Marxismus auferstehen könnte