Was ist linke Identitätspolitik?

Was ist linke Identitätspolitik?
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Jede Form der historischen Klassenbildung und des Klassenkampfes hatte Elemente der Identitätsbildung aufzuweisen. Vice versa ist jede Identitätspolitik von Klassenpositionierungen und -strukturen überwölbt. Vereinfacht gesagt: Identitätspolitik ist Klassenkampf und Klassenkampf ist Identitätspolitik. Die Frage ist lediglich, wer worum kämpft, wohin diese Politik führt und was der Kampf begehrt.

Irgendwann in den 90er Jahren wurde es in einer akademischen westdeutschen Linken schick, sich über Identität lustig zu machen. Von „Identitäterät“ wurde gesprochen. Identität und Individualität gehören allerdings zum Bewusstseinsprozess jeder Person in seinen vorgefundenen sozialen und andersartigen Bezügen. Von wem unterscheide ich mich?  Bleibe ich über eine gewisse Zeit und über Stationen der Erfahrung hinweg die gleiche Person oder verändere ich mich? Wohin führt diese Veränderung? In diesem banalen und personalen Sinn macht auch Identitätskritik keinen Sinn. Denn wer hier Identität ausstreichen will, will menschliches Bewusstsein über sich selbst ausstreichen. Schließlich, so könnte mit Stuart Hall gesagt werden, ist Identität weder eine individuelle Angelegenheit noch ein Ensemble scheinbar ewig feststehender Eigenschaften, sondern ein sich beständig verändernder Prozess der Positionierung und damit ein nie abgeschlossener Prozess des Werdens.

Identitätskritik als philosophische Disziplin ist von Nietzsche über Adorno bis zur Postmoderne eine Kritik der Reduktion und der Verdinglichung von Einzelphänomenen auf das ihnen Gemeinsame. Besonderheit, soziale Abweichung oder Ungleichheit werden ausgeblendet oder getilgt. Die Scheidelinie innerhalb dieser Kritik verläuft entlang der genaueren Ausführung der Marxschen Feststellung: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern“. Mittels welcher gesellschaftlichen Praxis sollen diese Verhältnisse verändert werden? Können Verhältnisse sprachlich verändert werden oder bedarf es einer andersartigen Praxis? Wenn eine bestimmte Form der Differenz durch identifizierende Denkformen unterdrückt wird und letztere durch den Tausch konstituiert würde, wie ein Strang der Kritischen Theorie nahelegt, dann gilt es, das kapitalistische Tauschverhältnis zugunsten einer anderen Produktion und Verteilung aufzuheben. Wenn allerdings Differenz durch falsche Sprache, die damit wiederum Herrschaftsverhältnisse zementieren würde, zum Verschwinden gebracht wird, gilt es lediglich, richtig zu sprechen. Wenn die Welt der Zeichen, der sprachlichen Zeichen und anders gelagerter Zeichensysteme, nicht in erster Linie als Ausfluss, Widerschein oder Ausdruck einer sozialen Wirklichkeit betrachtet wird, sondern die soziale Wirklichkeit selbst als diskursiv, also durch Zeichensysteme konstruiert betrachtet wird, wie es sich in der Behauptung, es gäbe kein „vordiskursives Geschlecht“ ausdrückt, reicht es scheinbar aus, das Zeichensystem zu ändern. Allerdings: sozial und materiell wird sich dann nichts ändern.

Konstituiert sich ein gesellschaftlicher Teil als Partei, Gruppe oder kollektive Akteur*in, so bildet sie allein durch den Akt des Politischen eine Identität, die sich von einer Alterität abhebt, dafür muss nicht extra Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung als Wesen des Politischen bemüht werden. Für eine (kritische) Selbstpositionierung und eine Art verändernder sozialer Praxis scheint Identität als Unterscheidungskriterium der politischen Polbildung notwendig zu sein. Insofern gibt es eine Verbindung zwischen Tun und Sein, Praxis und Identität. Links und rechts sind solche Identitätskategorien. Sie verweisen auf spezifische Traditionsbildung und Fundierung der politischen Praxis, geben auch eine bestimmte Richtung des Handelns vor. Links beerbt die Aufklärung und zielt auf Freiheit und Gleichheit, darin ist links universalistisch. Rechts ist das genaue Gegenteil, betreibt die Ideologisierung von Vorrechten. „Die Identitären“ sind nichts anderes als der geföhnte Pudel an der Leine des Ausschluss produzierenden Nationalstaats; fährt Mensch ihnen durchs Haar, kommt der bissige antisemitische und antimuslimische Köter zum Vorschein, der „seine Nation“ und seinen Wohlstandsvorsprung mit allerhand Gekläffe verteidigen will.

Mit Marx könnte festgehalten werden, dass der linke, kategorische Imperativ für das eigene kritische Denken und Handeln darin besteht, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein beleidigtes, verlassenes, beherrschtes und ausgebeutetes Wesen ist. Keine neuen beherrschenden Verhältnisse sollen aufgebaut werden und die alten auch nicht bloß mit einem anderen Zeichensystem versehen werden. Zum Umwerfen war das Wissen von einer starken Arbeiterklassenidentität und von einer Identität als vaterlandslose Klasse mit den radikalsten Ketten, die es zu sprengen gilt, notwendig. Warum? Weil darin die Potentialität der radikalen Veränderung als Kraft der Negation und des Aufbaus einer ganz anderen, herrschaftsfreien Welt aufscheint und zum Ausdruck kommt. Natürlich könnte eine Identitätskritik den Marxismus dafür schelten, dass er diese negative Potentialität mit der soziologischen Größe der Industriearbeiterschaft identifizierte. Und sozialhistorisch ließe sich leicht ergänzen, welche Ausschlüsse diese Identifikation mit sich brachte: Ausschluss der Tagelöhnerinnen, der Sexarbeiterinnen, der Landarbeiter, der „Lumpen“. Und doch muss konstatiert werden, dass historisch die Industriearbeiter*innen durchaus Träger*innen einer radikalen Umwälzung waren. Nichts ist deshalb revolutionärer wie identitärer gleichermaßen, als das Programm des US-amerikanischen, ersten modernen Industriesyndikat der USA, das sich nicht umsonst Industrial Workers Of The World (IWW) nannte, auch wenn es ganz viele unqualifizierte, nicht-industrielle Berufsgruppen umfasste:

„Die Arbeiterklasse und die Klasse der Arbeitgeber haben nichts gemein... Der Kampf zwischen diesen beiden Klassen muss so lange geführt werden, bis die Arbeiter der Welt, als Klasse organisiert, von der Erde und den Produktionsmitteln Besitz ergriffen und das Lohnsystem abgeschafft haben... Es ist die geschichtliche Sendung der Arbeiterklasse, den Kapitalismus zu beseitigen. Die Armee der Produzenten muss organisiert werden, nicht nur um den täglichen Kampf mit den Kapitalisten zu führen, sondern auch um die Erzeugung fortzusetzen, wenn der Kapitalismus einmal gestürzt ist.“[1]

Gegen eine solche revolutionäre, antagonistische und internationalistische Klassenidentitätspolitik stand hegemonial immer eine ausschließende Identitätspolitik, eine Politik des Schutzraums. Schutz sollte der Staat als ideeller Gesamtkapitalist und die Nation als kulturelle Klammer der Staatsbürgerschaft gewähren. Die nationale Arbeiterklasse (tatsächlich auch vorrangig in der männlichen Form) müsse vor Migrant*innen wie globalkapitalistischen Heuschrecken gleichermaßen mit Hilfe des Rocks des (gegenüber der 'eigenen' Arbeiterklasse) mütterlich auftretenden und (gegenüber den 'Anderen') väterlich agierenden Staates geschützt werden. 

Die revolutionäre Arbeiterklassenidentität, für die die Wobblies genannte IWW hier Pate steht, schlug im Gegensatz zu den hegemonialen US-Gewerkschaften einen solchen Anpassungskurs aus. Werte, Würde, moralische Selbstverpflichtung mochten diese Identität weit stärker unterfüttern als ein objektives Klasseninteresse. Nicht zuletzt deshalb konnten die Wobblies wiederum eine Summe diverser kultureller Identitäten der diversen Arbeiter*innen aufnehmen. Schließlich setzte sich dieses große Syndikat aus vielen Eingewanderten zusammen. Es entstand eine bastardisierte Arbeiter*innenkultur mit yiddischen, slawischen, italienischen Bestandteilen, die allerdings im Sinne des antagonistischen Klassenprogramms der Wobblies vereint im Kampf gegen den kapitalistischen Feind war. In der Frühphase der USA waren die Einwanderer*innen als Arbeitskräfte deshalb willkommen, weil sie unkundig waren und man darauf rechnete, dass sie den Anforderungen des sich entwickelnden fordistischen Kapitalismus in ihrer Machtlosigkeit geringeren Widerstand entgegensetzen würden als die einheimischen Arbeitskräfte. Von diesen sollten die Migrant*innen systematisch in Form einer klassenspaltenden Politik unterschieden werden. Die erste bundesrepublikanische Historikerin der Wobblies, Gisela Bock, wies darauf hin, dass 'nationale Kultur' der Eingewanderten sich oftmals erst in den USA konstruierte. Die Immigrant*innen kamen meist aus Monarchien, deren Gesellschaftlichkeit kein Gefühl einer nationalen Identität hervorgebracht hatten. In der Fremde hätte sich eine nationale Identität erst im Verlauf der Niederlassung im neuen Land ergeben. Die Arbeitsemigrant*innen sollten, um als „Amerikaner“ zu zählen und akzeptiert zu werden, zuerst eine nicht-amerikanische nationale kollektive Identität herausbilden, die keineswegs immer mit den tatsächlichen Erfahrungen ihrer Herkunftsregion identisch war – nicht unähnlich den versklavten Schwarzen, die sich zuerst auf ihre gemeinsam-afrikanische Vergangenheit besinnen sollten, um einst als „Amerikaner“ akzeptiert zu werden. Aufgrund der rassistischen Spaltungspolitik und den Anforderungen des Kapitals mit seinen Arbeitszeitdiktaten konnten die spezifischen Lebensformen der Eingewanderten auf der anderen Seite zu einem ihrer wesentlichen Mittel werden, jene Disziplin zu umgehen und neue Komplizenschaften herauszubilden. Diese boten als „Communities“ einen Schutzraum vor den Zumutungen einer hegemonialen WASP-Kultur, die der hegemoniale Überbau des amerikanischen Kapitalismus war und rassistische Unterdrückungs- und Ausgrenzungspolitik betrieb und betreibt. Diese Communities konnten ihren Platz innerhalb der US-amerikanischen Einwanderungsgesellschaft finden, sie konnten sich in bestimmten Zeiten revolutionär dynamisieren und antagonistische Gestalt annehmen oder regressiv einkapseln. In ihnen konnte sich auch eine Mittelschicht voller Aufstiegswillen von der Arbeiterklasse und den Armen absetzen. Dem Betonen von „ethnischer Differenz“ kommt dabei die Rolle zu, Dynamik, Ausweitung und Aufbruch entlang von Klassenlinien zu unterbinden. Reformistische Identitätspolitik, die von einer schwarzen Mittelschicht ins Spiel gebracht wird und von weiß-liberalen Antirassist*innen unterstützt wird, trachtet danach, die aktuelle multiethnische Kampfbewegung gegen Polizeigewalt und Knastsystem, die den rassistischen Polizeiübergriffen folgte, auf „Rassendiskriminierung“ zu verengen.     

Identitätspolitik beinhaltet also Selbstbehauptung, Schutzraumpolitik und Komplizenschaft im Sinne des Schmiedens von Allianzen. In dieser Allgemeinheit kann sie reaktionär oder fortschrittlich sein. Ein Prüfstein könnte sein, ob sie die materiellen Verhältnisse überkommen will oder ihr Verhältnis zur Überwindung des Vorherrschenden noch reflektiert. Ein weiterer Prüfstein wäre, ob sie die spezifische Erfahrung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit fetischisiert und verdinglicht, weil die spezifische Unterdrückung als stärker empfunden wird als ökonomische Ausbeutung oder diejenige einer anderen Gruppe. Natürlich wehren sich Schwarze Menschen, werden sie rassistisch beleidigt, als Schwarze Menschen, Frauen, wenn sie als Frauen attackiert werden, LGBTQI als LGBTQI. Der Aufbruch junger LGBTQI gegen das faschistoide Patriarchat in Mexiko, Brasilien und den USA und anderswo ist heutzutage eine der atemberaubendsten subversiven und antagonistischen Bewegungen.  Kurd*innen oder Palästinenser*innen werden sich weiterhin als diskriminierte Gruppe zur Wehr setzen, wenn sie diskriminiert werden. Genauso wie Jüd*innen, werden sie als „Jude“ angegriffen, sich als Juden wehren mussten, wie Hannah Arendt feststellte. Auch wenn der Zionismus in seiner Frühphase unbedingt als emanzipatorische identitäre Befreiungsbewegung, die aus Verfolgung und Utopie geboren wurde, betrachtet werden muss, musste spätestens mit dem Selbsteinschluss der Zionist*innen in einen „jüdischen Staat“ Kritik an dieser Politik erfolgen, wie sie dann auch Hannah Arendt leistete. Revolutionäre und fortschrittliche Identitätspolitik ging nämlich immer der Frage der Potentialität der Überwindung vorherrschender unterdrückerischer und ausbeuterischer Strukturen nach. Separatismus ist das genaue Gegenteil davon. Zur Ausweitung und Verbreiterung sind Allianzen, Bündnisse, Verkettungen, Verbrüderungen und Verschwistern notwendig.

Nach der Auflösung konsistenter Klassenmilieus, der Durchsetzung einer „klassenlosen Klassengesellschaft“ von Konsum geprägter Milieus, wie es Adorno bereits im US-Exil in den 40er Jahren konstatierte, wird eine solchermaßen gestiftete Hegemonie eines kritischen Blocks der Subalternen umso notwendiger. Das Marxsche revolutionäre Subjekt, das die negative Potentialität verkörperte, das Proletariat als „Arbeiterklasse“, ist nicht mehr in der Lage, diesem privilegierten Platz in der Theorie gerecht zu werden. So beschwor in den 50er- und 60er Jahren beispielsweise Herbert Marcuse eine neue Potentialität bei der Jugend und den rebellischen Student*innen jenseits der klassischen Arbeiterklasse in den USA. Auf die harten Vorwürfe von orthodox-marxistischer Seite antwortete er, dass die Arbeiterklasse in den USA objektiv kein revolutionäres Subjekt mehr sei. Dies komme keinem Werturteil gleich, sondern sei eine Tatsachenaussage. „Und wiederum, die Situation ist sehr verschieden in Frankreich und in Italien, wo eine starke politische Tradition der Arbeiterklasse besteht, wo der Lebensstandard noch nicht die Höhe erreicht hat wie in den Vereinigten Staaten und wo deswegen das radikale Potential der Arbeiterklasse viel stärker ist als in den Vereinigten Staaten.“[2] Jugendliche Identitätsentwürfe, die sich ab den 50er Jahren entfalteten und auf Subkulturbildung wie neue gestiegene Konsummöglichkeiten zurückzuführen sind, befeuerten eine neue Subversion und radikale Bewegung, die der Ödnis von Fordismus und Massenkonsum entfliehen wollten. Wodurch? Durch das Wissen der notwendigen Vereinigung der Unterdrückten, Ausgebeuteten, Ausgespuckten, Angeekelten und drop-outs, wie es 1969 im Vorwort von Black Panther Eldridge Cleaver in dem subversiven Werk des weißen, anarchistischen Anti-Vietnamkriegs-Aktivisten Jerry Rubin zum Ausdruck kommt: „Was Jerry Rubin und mich betrifft, so kann uns eine Marihuana-Zigarette vereinen, Musik, eine tiefe Verachtung für die Schweine, die Notwendigkeit des Kampfes für eine Veränderung der Welt, in der wir leben. Uns kann der Hass auf schweinische Richter vereinen, der Hass auf den Kapitalismus, das brennende Verlangen, die in den Vereinigten Staaten von Amerika herrschende Gesellschaftsordnung zu zerstören und der Wunsch, etwas Neues und Freies auf den Ruinen zu errichten.“

In dieser race-übergreifenden und die kapitalistische Klassengesellschaft attackierenden Bewegung drückte sich tatsächlich die „neue Utopie“ und Bewegung der 60er aus, wie sie Herbert Marcuse verstand – und diese Perspektive scheint in den USA aktuell wieder auf.

In Deutschland herrschten jeher Sonderverhältnisse. Nicht nur hatte man es mit einer Wirtschaftswunder-Konsumgesellschaft zu tun, sondern mit post-faschistischen Verhältnissen. Die revolutionäre wie reformerische Identität der deutschen Arbeiterklasse wurde schließlich mit dem Faschismus fast vollständig gebrochen, was übrig blieb, erledigten Stalinismus und angepasste Sozialdemokratie. Durch nationalistische und rassistische Entsolidarisierung, Krieg, Adelung des deutschen Arbeiters zum „Vorarbeiter Europas“ und herrschaftliches Hineinziehen einer Vielzahl normaler Deutscher in die Komplizenschaft mit einem barbarischen Vernichtungsprogramm wurde eine solidarische Selbstkonstitution unterminiert. Kein anderer Propagandafilm diente so gut der propagandistischen Zertrümmerung kommunistischer Arbeiterfamilienidentität wie der Streifen „Hitlerjunge Quex“ von 1933: Der kommunistische Vater erscheint als abstoßender autoritärer Schläger, der Junge findet seine neue Heimat in der HJ. Die misslungene Übereinstimmung von Programm und Handlung, Politischem und Privatem, Reden und Handeln auf Seiten der Linken diente der Rechten schon immer dazu, die Linke in toto zu diskreditieren. Hinzu trat, dass alle Stimmen, die um eine größere Übereinstimmung in den eigenen Reihen kämpften, Frauenrechtler*innen oder Psychoanalytiker, wie beispielsweise Wilhelm Reich, im kommunistischen Lager marginalisiert wurden. Die Verdrängung des scheinbar „Privaten“ korrespondierte mit dem autoritären Hang in der Politik. Je strikter der Parteikurs sich autoritär gestaltete („Die Partei hat immer recht!“) und einer fremden Bestimmung unterwarf („Der Kampf der Arbeiterklasse und der Kampf der Sowjetunion sind identisch“) und in seiner Verlogenheit durchschaubar war, umso leichter fiel es dem politischen Gegner, einen ganz anderen identitären Entwurf gegen einen entkernten Kommunismus zu setzen und ein paar genehme Brocken demagogisch aus ihm herauszubrechen: „Nationalsozialistische Arbeiterpartei“, „deutscher Volksgenosse“.

In Deutschland hatte die radikale Linke mit diesem Erbe schwer zu kämpfen. Von der APO über die RAF bis zu den Antideutschen. Rudi Dutschke wollte die falsche Identifizierung von Sozialismus mit Sowjetrussland auflösen und plädierte für eine Wiederherstellung einer deutschen und europäischen Identität der Arbeiterbewegung in der Tradition der Aufklärung, was ihm heute als Nationalismus und Suche nach „nationaler Identität“ angekreidet wird. Die Rote Armee Fraktion als verschworene bewaffnete Minderheit propagierte als Ausfluss der Revolte von 1968 die „revolutionäre Identität“, welche gegen Knasterfahrung und Korruption zu bewahren sei, um noch praktisch-kämpfend aktiv bleiben zu können („wir sind nur das, was wir gegen sie tun“, Christian Geissler, Kamalatta). In Konfrontation dazu und Abgrenzung zu diesem Praxisimpetus war das hochmütige „Identitäterät“ einer weitgehend sich auf den Kritikerposten zurückziehenden akademischen Linken der 90er auch gemeint. Die „Antideutschen“ behaupteten sich schlicht als das Gegenteil ihrer Herkunft, negierten für sich jegliche Verstrickung und Prägung deutscher Identität und affirmierten bei halbem Bewusstsein und urdeutsch dann doch Militarismus und Krieg. Die westeuropäischen Antiimperialist*innen und Internationalist*innen bleiben mit ihrem Ringen um antagonistische Identität in den spätkapitalistischen Konsumgesellschaften und ihren oft romantisierenden Fern- oder Leihidentitäten interessante und schwer verständliche Botschafterinnen von etwas viel Größerem: dem Aufbegehren der kolonialisierten Bevölkerungsteile des globalen Südens. 

Nationale antiimperialistische Befreiungsbewegungen brachen bereits in den 50er und 60er Jahren in die Welt des globalen Nordens ein und brachten das unterdrückte koloniale Subjekt ins Spiel. Frantz Fanons Anschlüsse an Hegels und Kojéves Herr-Knecht-Dialektik waren reine Identitätspolitik: Das kolonisierte Ding muss seine revolutionäre Identität finden – in der Zuwendung zum Befreiungskampf, dem Erschlagen oder zumindest Vertreiben des Kolonialherren, der Abwendung von rassistischer Körperpolitik und Selbstverleugnung. Die Rückkehr zu einem „Eigentlichen“, zu einer ursprünglichen Identität war allerdings in keiner dieser am Marxismus geschulten antikolonialen Befreiungstheorien angelegt. Doch der Antiimperialismus mit seinem Nationalismus „unterdrückter Völker“ erdrückte schließlich die Anliegen der ausgebeuteten Klasse. Der eher trotzkistische Marxist C.L.R. James entdeckte jenseits der nationalen Befreiungskämpfe die „atlantische Perspektive“ der schwarzen Jakobiner, die ihre Kampferfahrungen in der Karibik, Afrika und Europa machten. Kulturell wie theoretisch sollten Erfahrungswerte zirkulieren, Musik und Habitus genauso wie wilde Streiks, Aufstände und radikalisierte Universalismen. Zu einer spezifischen Form von „cultural appropriation wurde im Sinne erweiterter und aufeinander bezogener revolutionärer oder rebellischer Identitäten, die sich gegenseitig bereichern und befruchten, geradezu eingeladen. Noch der Reggae bei The Clash ist Zeuge davon.

„Cultural appropriation“ als habituelle Befruchtung und Nachahmung griff auch durch die Anwesenheit der „Gastarbeiter“ genannten Migrant*innen ab den 60er und 70er Jahren in Westdeutschland um sich. Die aus Italien, Griechenland, Jugoslawien und der Türkei stammenden Migrationsarbeiter*innen brachten ihre Erfahrungen aus der „Heimat“ mit, erkannten in Wohnheim und Akkord ihre Ausbeutungslage und kamen zuweilen mit der antiautoritären Hausbesetzungsbewegung in Kontakt. Sie trafen auf einheimische wie migrierte marxistisch-leninistische Maoist*innen oder spontaneistische Leninist*innen des roten Jahrzehnts. Auch Begegnungen dieser Art sorgten dafür, dass Tragödien der rassistischen Kränkung und der Messerzückerei, die Franz Joseph Degenhardt in der Ballade „Tonio Schiavo“ traurig besungen hatte, nicht die Regel waren. Nicht zuletzt zeigen die Gesänge von „Albino und Arbeitersache“, einem Lotta-Continua-Militanten bei BMW München, über die „Fremdarbeiterkämpfe“, neben den Romanen von Emine Sevgi Özdamar, die ihre Erfahrungen als junge Migrantin und Siemensarbeiterin verarbeitete, wie brüchig das Terrain der „Identität“ ist: für das Erlangen von Selbst-Bewusstsein muss manches verlernt, einiges bewahrt, anderes erst herausgebildet werden. Von hieraus wäre eine zeitgenössische „Kritik der Migration“ und eines moralisierenden oder entmündigenden Antirassismus zu formulieren.

Heutzutage sind wir mit einem Patchwork der Minderheiten und einer eher begrenzten als entgrenzten Identitätspolitik konfrontiert. Wie Karl Korsch die materialistische Geschichtsauffassung auf die Geschichte des Marxismus angewandt hat, müsste die Sprechort-Theorie konsequent auf die Queer-theory angewandt werden. Es ist nämlich etwas durchaus Unterschiedliches, ob sich Akademiker*innen und Slumbewohner*innen unter diesem Label gegen patriarchale Gewalt wehren, eine Berliner Hipsterparty unter diesem Label organisiert wird oder eine mit Diskurskapital aufgemotzte Kunstinstallation. Es gibt Versuche, neueste Sexual- und Performanzidentitäten auf den Kommunismus zu beziehen und beides miteinander zu versöhnen. Im deutschen Sprachraum versucht beispielsweise Bini Adamczak, auf innovative Weise eine queerfeministische Revolutiontheorie auf die beiden unvollendeten Revolutionsversuche von 1917 und 1968 zu beziehen. Queer soll damit aus dem Korsett bloßer spielerischer Identitätsentwürfe eines zugespitzten Liberalismus befreit werden. Im angelsächsischen Sprachraum steht Michelle O'Brien für eine queer-kommunistische Geste des notwendigen Überkommens von Kapitalismus, klassisch familiären Reproduktionseinheiten und sexuellen Einschließungen. Der Bezug auf Klassenkämpfe und den Kapitalismus als sozialem Verhältnis ist beiden inhärent, als theoretischer Anspruch. In Anschluss an Judith Butler wird von „Heteronormativität“ gesprochen, der tatsächlich eine erdrückende Präsenz im Alltag zukommt, die aber auch ein ganzes Ensemble subversiver Praxisformen gegen die Norm herausfordert. Allerdings kranken diese theoretischen Queer-politics-Konzepte zuweilen daran, einer Majorisierung minoritärer Politiken das Wort zu reden. Das Alteritätskonstrukt zur Identitätskategorie „Queer“, welche rastlos darum bemüht sein muss, noch den letzten Rest von divergierendem Sexual- oder Körperverhaltens namentlich zu erwähnen und dem Oberbegriff zu subsumieren, ist dann schlicht: der oder die Heterosexuelle mit seinem und ihrem Begehren. In anderen „queer-feministischen“ Kreisen dient der Vorwurf der „Heteronormativität“ und des „Klassenreduktionismus in der Linken“ dazu, ein höchst selbstbezügliches Spiel der Selbstbehauptung, Schutzraumpolitik und Komplizenschaft in abgezirkelten Affinitätsgruppen zu betreiben. Wenn der Anspruch noch ein antikapitalistischer ist, dann wird Kapitalismus als dominierendes Zeichensystem begriffen. Der Rückzug in von anderen Zeichensystemen geprägten Räumen liegt dann auf der Hand; gelegentlich brennt ein als Kapitalismus gelesenes „Bonzen-Auto“ auf feindlichem Terrain.

Queer-Politics als Zurückweisung binärer Geschlechtlichkeit und Heteronormativität hat ihren sozialen Ort entweder in subkulturellen Nischen oder in den Universitäten. Von letzteren dringt sie in die Institutionen und ideologischen Staatsapparate. Von dort wird sie oft reformistisch verwässert und administrativ verordnet und trifft auf zuweilen kopfschüttelnde untere Abteilungen der Zivilgesellschaft. Denn nicht alle leben im selben Jetzt. In Uni wie Subkultur gestaltet sich die Selbstpräsentation der diese Weltanschauung teilenden Individuen ganz ähnlich. Sie lebt von der „Sprechort“-Logik. Die diskursive „Offenlegung“ des eigenen Standorts als scheinbar irreversibler „Sprechort“  könnte neben der erfreulichen Folge des praktischen Engagements für andere, weniger Privilegierte, auch in Form der klassischen freudianischen Rochade namens „Womit ich ablenke, ist wovon ich ablenke“ wirken oder gleich als Ausweis eigener moralischer Superiorität dienen, welche sich gefälligst auch auszahlen sollte – sei es in Form von beruflicher Karriere oder Stipendien. Im Kleinen dient der ausgewiesene Sprechort bereits einer legitimierten Repressionsmacht gegen minderwertig Sprechbefugte, denen in verdrehter Weise mehr gesellschaftliche Macht unterstellt wird, just in dem Moment, in dem sie diskursiv entmachtet werden sollen. Hier droht die Gefahr, Ideolog*innen als „Gewissensbeschönigern“ (Marx) und als Personen, die ihre eigentlichen materiellen und immateriellen Interessen zu kaschieren wissen, auf den Leim zu gehen. 

Die Notwendigkeit dieser Ideolog*innen, eine Reflexion auf ihre eigene wirkliche Rolle und Praxis in der kapitalistischen Klassengesellschaft besser auszusparen, liegt auf der Hand. In Zeiten des linken Stiftungswesens und der Bezahlung politischen Engagements kann das Polit-Plenum Vorbereitung auf, wenn nicht sogar Teil des Arbeitsmarktes sein. Wenn sich junge, „schwarz“ beziehungsweise als „Frauen“ Gelesene gegen „alte, weiße Männer“ lediglich auf irgendeinem Segment des Arbeitsmarktes durchsetzen, so stellt dies eines der vielen Gerangel im Konkurrenzkampf um bessere Plätze dar und bietet nichts für dessen Überwindung. Besonders Medien, Kunst und Kultur stellen ein wichtiges Segment des Arbeitsmarktes dar, auf das eben gerade (linke) Akademiker*innen drängen. In diesem Segment des Arbeitsmarktes spielen Sprache und Zeichensystem eine besondere Rolle und sichtbar divergierende Herkunft eine andere Rolle als in anderen Segmenten des Arbeitsmarkts, deswegen heftet sich eine Vielzahl der neueren moralisierenden Identitätspolitiken auch an Diskurspraxis oder betreibt die Betonung von nicht als hegemonial erachteter Herkunft oder (sexueller) Präferenz. Die viel beschworene Sichtbarkeit, um die es für unterdrückte Subjekte gehen würde, ist oft nicht mehr als sichtbar zur Schau gestelltes Distinktionsverhalten angepasster und durchaus materiell wie habituell privilegierter Subjekte. Das Vermögen, eine neue politisch korrekte Sprache zu sprechen, dient dann als Ausweis von Anpassung an eine Gesellschaft, in der vermutete und unbedingt zu vermeidende Kränkung als Thema Herrschaft und Ausbeutung und deren gebotene Abschaffung ersetzt hat. Fast könnte angenommen werden, wir würden tatsächlich in dem Zeitalter des universellen Narzissmus angekommen sein, dessen Heraufziehen der US-Kulturwissenschaftler Christopher Lasch in den 60er prognostizierte.

Die Milieublasen, die die herrschaftskonforme Soziologie wie beispielsweise die Verantwortlichen der SINUS-Milieu-Studie zu ideologischen und marketingstrategischen Zwecken entworfen hat, scheinen Wirklichkeit zu werden, wenn sie auch andere Begriffe tragen müssten. Dies ist auch ein Ergebnis der Digitalisierung aller Lebensbereiche. Diese Blasen sind andere als jene der Subkulturen und älteren Milieus, weil sie eine andere Durchlässigkeit und ein anderes Verhältnis zur Umwelt haben.

Klassenmäßig abgeschlossene Milieus und dort vorherrschende Zeichensysteme der Eindimensionalität werden von Ideolog*innen des Milieuschutzes, die sich subversive Politik nur noch als Schutzraumpolitik separierter Parallelgesellschaften vorstellen können, zuweilen aggressiv affirmiert. So begeistert sich die Medienkulturwissenschaftlerin und Skandinavistin Hengameh Yaghoobifarah natürlich in der taz über eine neue Funktion der Dating-Plattform OkCupid, mit der die Möglichkeit bestünde zu wählen zwischen: „Don’t want to see/be seen by straight people“.  Sie führt aus, dass „User:innen“ nun die Möglichkeit hätten, mit einem einzigen Häkchen zu deaktivieren, dass ihre Profile für heterosexuelle Personen sichtbar sind – und vice versa. Sie nennt das: „Parallelgesellschaft per Mausklick sozusagen.“ Und führt fort: „Manchmal wünschte ich, es gäbe ein Real-Life-Plugin. Für ein paar Stunden, Tage, Monate oder ein Leben lang unsichtbar für Heten sein und keinen Heten begegnen zu müssen, würde vieles leichter machen.“ Schwärmerisch schließt sie: „Wie würde sie aussehen, gegenseitige Unsichtbarkeit zwischen Queers und cis Heten?“ Diese gegenseitige Unsichtbarkeit ist für die Autorin offensichtlich wünschenswert. Der Punkrocker wie die Gammlerin der vergangenen Zeiten wollten nicht unsichtbar sein, sein und ihr ausgestreckter Mittelfinger sollte zumindest wahrgenommen werden und Ärgernis der Restgesellschaft sein. Reibungsverlust und Konfrontationsarmut ist dahingegen dem bloß vermeintlich subversiven Identitätsentwurf von Yaghoobifarah zu Eigen.

Vor dem Hintergrund ihrer breit beachteten KaDeWeWerbung für Luxusmode erscheint das artikulierte Bedürfnis der taz-Kolumnistin, von der Welt der „Normalos“ abgeschirmt zu sein, auch im anderen, allerdings Interessenlagen erhellenden Licht.

Jedem Tierchen sein Pläsierchen, digital wie analog, das scheint der Traum einiger heutiger Identitätskämpfer*innen zu sein. Erfahrungsoffenheit im Sinne von Offenheit für die Erfahrungen anderer, die Kompliz*innen werden könnten, wird aus dem Feld geschlagen, indem eine bessere diskursive Machtposition qua „eigener Erfahrung“, die eine andere Person nie gemacht haben kann oder machen könnte, reklamiert.

Damit wird die von Identitätskästchen durchzogene Klassengesellschaft weiterhin zementiert, das Streben nach Objektivität im Austausch aufgegeben und nach Wahrheit suchende Diskussion zu Gunsten von Machtgerangel, in dem die eine dem anderen und der eine der anderen das Urteil verbietet, aufgelöst. Diese neuesten Identitätspolitiken sind Ideologien des angepassten Rückzugs, der kulturellen Ödnis und der emotionalen wie materiellen Selbstbezüglichkeit.

 

* Dieser Artikel erschien unter dem Titel ´Über linke Identitätspolitik – ein anders gelagerter Versuch` in: telegraph # 137/138, 2020/2021, S. 64-77.

 


[1]

       Nach: Gisela Bock, Die andere Arbeiterbewegung in den USA von 1909-1922. Die I.W.W. The Industrial Workers of the World, München 1976, S.43f.

[2]

      Herbert Marcuse, Die neue Gesellschaft. Kritik und Programm. Interview, in: Franz Stark (Hg.), Revolution oder Reform? Herbert Marcuse und Karl Popper. Eine Konfrontation, München 1971, S.11-21, hier: S.16

Was ist linke Identitätspolitik?