Islamofaschismus

Islamofaschismus
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Vorab: Der Stellenwert von Religion in der Zivilisationsgeschichte bemißt sich an der grundsätzlichen Einstellung zur Religion.

Für Religiöse (Orthodoxe, gemäßigt Fromme oder schlichte Traditionsbewahrer) bewertet sich Religion elementar anders als für Säkulare (Religionsindifferente, Agnostiker oder gestandene Atheisten).

Daß Denker von der geistigen Größe eines Marx, Nietzsche oder Freud gerade Religion zum zentralen Gegenstand ihrer Ideologie- bzw. Gesellschafts- und Kulturkritik erhoben haben, gar von "Menschheitsneurose" sprachen, verweist darauf, daß man es (ihnen zufolge) mit einem transhistorischen Faktor der Geschichte zu tun hat, der bereits als solcher das eigentliche Problem von Kultur, mithin von Geschichte darstellt: Geht man davon aus, daß nicht Gott den Menschen, sondern der Mensch Gott erschaffen hat, nimmt sich der schiere Gottesglaube als Aberglaube oder "falsches Bewußtsein" bzw. seine zivilisatorisch institutionalisierte Manifestationen bereits als kritikwürdig oder auch – radikaler – als ein zu Überwindendes aus.

Von selbst versteht sich dabei, daß wahrhaft Gläubige in dieser Einstellung nichts als Häresie und Blasphemie zu erblicken vermögen, was in Epochen ihrer politischen Macht zu inquisitonsgestählten Ketzerverfolgungen und vielen anderen Auswüchesen religiöser Selbstvergewisserung führte. Klar sein dürfte demnach eines: Gottesglaube (bzw. Religion) und Atheismus (bzw. Religionsverneinung) sind inkompatibel.

Der Konflikt zwischen ihnen ist ein moderner, kann mithin einzig politisch entschieden werden. Aber bereits im Mittelalter verfestigten sich seine historischen Vorformen im Investitutrstreit, der freilich noch nichts mit Hinterfragung des Gottesglaubens per se zu tun hatte, sondern lediglich mit dem Primat der Machtbestimmung. Das noch aus der Antike überlieferte Postulat cuius regio, eius religio sollte zur Reformationszeit bereits einen diesbezüglichen Kompromiß zur Maxime erheben, wobei der politischen Macht die Oberhand zugesprochen wurde. Man mag nicht zuletzt darin den Beginn der westlichen Säkularisierung erblicken, welche ihrerseits durch einen allmählich einsetztenden Strukturwandel von Gesellschaft und Ökonomie notwendig wurde. In der halbwegs säkularisierten Moderne erklärte sich dann die politische Doktrin der bewußten Trennung von Staat und Kirche zur grundlegenden, bis heute weitgehend gültigen Prämisse des Nationalstaatsmodells.

Nicht in Abrede soll dabei gestellt werden, daß auch unter den Bedingungen moderner Trennung von Staat und Kirche die Institutionen der etablierten Religion stets eine Rolle in der Politik spielten. Dies erweist sich nicht nur an den Werten politischer Parteien, die etwa das Attribut des Christlichen in ihrem Namen führen, oder – wie z.B. in Israel – als religiöse Parteien im säkularen Parlament agieren. Vielmehr manifestiert sich der Impact der Verschwisterung religiöser Institutionen mit dem politischen Gesamtfeld ihres Landes in fundamentalen Krisenzeiten, in denen die Stellung der institutionalisierten Religion zum krisengeschüttelten säkularen Staat auf die Probe gestellt wird. Der Nationalsozialismus ist nicht aus der christlichen Religion hervorgegangen, aber nicht von ungefähr befaßten sich Historiker mit der Einstellung der Kirchen zum Naziregime bzw. mit deren prekären Bereitschaft, von diesem ideologisch vereinnahmt zu werden.

Und doch – gerade im Sinne der Anerkennung der Wechselwirkung von Religion und Politik und des Wissens ums Politische in jeder organisierten Glaubenspraxis – bedarf es analytischer Vorsicht bei begriffsverbindenden Bezeichnungen von politischen bzw. religiösen Entitäten. Wenn etwa Israel sich als ein "jüdisch-demokratischer Staat" darstellt und als solcher wahrgenommen werden möchte, muß man fragen, was es mit diesem attributiven Konnex auf sich hat: Was ist in diesem Zusammenhang unter "jüdisch" zu verstehen? Wenn damit die Religionszugehörigkeit gemeint ist, darf in Zweifel gezogen werden, daß bei einem solchen Postulat, welches zum bestimmenden, mithin beschränkenden Kriterium für den Anspruch auf israelische Staatsangehörigkeit erhoben worden ist, eine genuine demokratische Praxis, die sich auf den liberalen Bürgerbegriff beruft, überhaupt gewährleistet werden kann. Formal sind nichtjüdische arabische Bewohner Israels gleichberechtigte Bürger des Landes; real leben sie seit Bestehen des Staates wirtschaftlich, politisch, kulturell wie zivilgesellschaftlich als Bürger zweiter Klasse. Im Hinblick auf ökonomische Ressourcenverteiligung, Legitimität ihrer politischen Partizipation, ihre realen Chancen auf dem Arbeitsmarkt, ihren Zugang zu den Eliten des Landes etc. läßt ihre Lebenswirklichkeit den Demokratie-Begriff, mit dem sich Israel stets zu schmücken pflegt, zur perfiden Ideologie verkommen. Von der Absurdität des Anspruchs, als Staat, der ein über 40 Jahre währendes Besatzungsregime unterhält, für demokratisch erachtet zu werden, soll hier geschwiegen werden.**

Nun ist im letzten Jahrzehnt der Begriff "Islamofaschismus" aufgekommen und macht seit geraumer Zeit in polemischen, aber auch in seriösen Politdiskursen die Runde. Im Internet-Portal Wikipedia findet sich dazu folgende Beschreibung: "Islamofaschismus ist ein kontroverser Neologismus, der Ähnlichkeiten in Ideologie und Praxis zwischen modernen islamistischen Bewegungen und europäischem Faschismus des 20. Jahrhunderts, bzw. zu neofaschistischen und totalitären Bewegungen der Gegenwart suggeriert. Als islamfaschistische Organisationen wurden unter anderem Al-Qaida, die Taliban, die Muslimbruderschaft, Hamas und Hisbollah bezeichnet". Daß selbst ein George W. Bush sich bemüßigt fühlte, zu verkünden, der Westen befände sich im Krieg mit "Islamic fascists", indiziert, zur welch ideologischen Prominenz es der Begriff gebracht hat; zugleich aber darf ebendies belächelt werden, wenn man bedenkt, mit welcher (materiellen wie politischen) Emphase die Mudschahedin, Vorgänger der Taliban, im sowjetisch-afghanischen Krieg der 1980er Jahre gerade von den USA finanziert und unterstützt wurden. Damals waren die afghanischen Islamisten noch keine Faschisten und die USA deren Verbündete. Daß es auch einem Saddam Hussein mit den USA (bzw. dem Westen) so erging – zunächst Verbündeter im Krieg, den er gegen den Iran der Mullahs in den 1980er Jahren führte, dann als "Hitlers Wiedergänger" apostrophiert –, verweist darauf, daß der den Islamisten wie nicht-islamistischen Protagonisten der arabischen Welt beigemessene Stellenwert sich einzig an deren Funktion in der Verfolgung geopolitischer Interessen der USA (bzw. des westlichen Kapitalismus) orientiert. Der Islam und seine islamistischen Platzhalter werden dann zum Problem, wenn sie mit Interessen und Forderungen der USA, die mit der Religion per se und ihrer je spezifischen Ausformungen herzlich wenig zu tun haben, in den jeweiligen ökonomisch-politischen Widerspruch geraten.

Nimmt man die in den 1960er Jahren geleisteten Analysen und Begriffsbestimmungen des Faschismus zum paradigmatischen Ausgangspunkt der Erörterung, so kommt man nicht um die Erkenntnis herum, daß der islamistische Fundamentalismus in Genese und Form sehr wenig, wenn überhaupt etwas, mit dem historischen Phänomen des Faschismus gemein hat. Versteht man nämlich unter Faschismus das, was sich unter gewissen geschichtlichen Konstellationen etwa in Italien, Spanien und Ungarn oder als spezifische Sonderform im deutschen Nationalsozialismus formierte, so stellt dies etwas ganz anderes dar als die Bewegungen des radikalisierten Islam. Der Islam als Religion ist von anderen Momenten angetrieben, verfolgt mithin ganz andere Ziele als der politisch sich setzende Faschismus. Man muss den politologisch etablierten Begriff des Faschismus inhaltlich rigoros entleeren, um oberflächliche Ähnlichkeiten ausmachen zu wollen. Daß man eine solche Entleerung methodisch vornehmen kann, um durch die Herauskristallisierung der "reinen Form" den isomorphen Vergleich anzustellen, ist natürlich nicht von der Hand zu weisen. Aber selbst Georg Simmel, Großmeister der sogenannten "formalen Soziologie", wußte stets das formal Erkannte dadurch wieder in den relativen Bezug zu setzen, daß er das geschichtlich wie sozial je Spezifische mit der Form verband, um das jeweilige Eigene erst eigentlich erfassen zu können. Wie Webers Idealtyp ist auch Simmels Form eher Methode als Wesen, eher Instrument der Erkenntnis als Erkenntnisziel: Das "Lager" ist ohne Zweifel eine Form zivilisatorischer Organisation. Man unterscheide aber tunlichst zwischen einem Ferien-, einem Pfadfinder- und einem Konzentrationslager. Tut man es nicht, hat man nicht nur komplexe historische Prozesse und gesellschaftliche Interaktionspraktiken gleichgeschaltet, sondern muß sich auch dem Vorwurf ausgesetzt sehen, aus der selbstauferlegten Indifferenz eine Ideologie gebildet zu haben. Will man etwa mit der Postulierung eines "Islamofaschismus" behaupten, dass es sich bei diesem Phänomen, wie beim Faschismus, um den Kult einer monolithischen Ideologie handelt, muß man sich auch mit der schlichten Tatsache auseinandersetzen können, daß der islamistische Fundamentalismus theokratisch angetrieben ist, während der Faschismus tendenziell nicht- bzw. auch dezidiert antireligiös war und agierte. Obwohl, wie erwähnt, sich die Kirche historisch mit dem Faschismus zu arrangieren verstand, fungierte Religion nicht als dessen generierende Voraussetzung, bestimmte also nicht seine ideologische Substanz. Ähnliches ließe sich im vergleichenden Hinblick auf den Primat des Staates darlegen, der im historischen Faschismus eine zentrale, wenn nicht gar die zentrale, im islamischen Fundamentalismus hingegen kaum – und wenn, dann eine eher untergeordnete – Rolle spielt. Das darf nicht mißverstanden werden: Natürlich gibt es einen modernen (zuweilen fanatisierten) arabischen Nationalismus; aber als solcher ist er nicht Substrat des Islams, leitet sich mithin nicht wesentlich religiös von ihm ab. Auch der nazistische (rassenbiologisch fundierte) Begriff des "Volksgenossen" ist anders konnotiert als der des Angehörigen der islamischen Ummah, welcher nichts von einer Blutideologie weiß und sich auch nicht durch territoriale Ansässigkeit bestimmt, mithin auch den in der Diaspora lebenden Muslimen meint – und darin viel mehr dem jüdisch-religiösen Nation-, Volks- und Diasporabegriff als Kategorien des genuin aus der westlichen Moderne hervorgegangenen Faschismus verschwistert ist.

Es ist daher davon auszugehen, daß die Verwendung des Begriffs "Islamofaschismus" wenig mit analytischem Erkenntnisinteresse, umso mehr dafür mit ideologischer Polemik und politischer Indoktrination zu tun hat. Als konstitutiv darf hierbei der Terroranschlag des 9/11 angesehen werden. Angesichts der horrenden Dimension der New Yorker Katastrophe sah sich George W. Bush genötigt, mit der allgemeinen Floskel aufzuwarten, daß sich die amerikanische Reaktion gegen die Terroristen und deren Gastgeberländer richten werde. Man sah sich dabei freilich vor ein Problem gestellt: Das akute Verlangen nach einem violenten Racheakt schoß zwar hoch, aber man war vorerst nicht in der Lage, den anzugreifenden Feind mit Sicherheit zu bestimmen. Die dringliche Notwendigkeit, den Feind erst zu konstituieren, ehe man ihn attackieren konnte, hatte etwas Erschreckendes an sich – was sich nicht zuletzt daran erkennen ließ, daß keine vierundzwanzig Stunden, nachdem Afghanistan als das erwünschte Konfliktland konstituiert worden war, der obligatorische „Kommentator“ einer amerikanischen Tageszeitung bereits mit der Forderung auftrat, taktische Nuklearwaffen zur Auslöschung der terroristischen Infrastruktur zu verwenden. Dies war in der Tat eine präzedenzlose Neuerung: die erste Kriegserklärung, die der Definition des Feindes, gegen den man Krieg zu führen trachtet, zuvorkam, wobei nicht nur der Feind erst erschaffen werden mußte; auch seine Ziele mußten zuvor erkannt werden.

Es heißt, US-amerikanische Pläne für einen Krieg am Hindukusch habe es bereits zu Clintons Zeiten in den 1990er Jahren gegeben. Daß dem womöglich so war, steht durchaus im Einklang mit den geopolitischen Interessen der USA in Zentralasien, der Golfregion und dem Nahen Osten. So besehen, bot 9/11 die Gelegenheit, eine bereits anvisierte Interessenpolitik ans kontingente Terrorereignis zu koppeln und ideologisch zu verfestigen. In staatsoffiziellen Zusammenhängen dürfen allerdings partikulare Interessen nie als solche erscheinen; vielmehr müssen sie durch universalistische Scheinbegründungen kaschiert und mit angeblich fühlbarer Bedrohung verbunden werden. So geriet denn der Irakkrieg von 2003 bald schon zum Partialprojekt der "Demokratisierung des Nahen Ostens" und zum (für einen solchen ausgegebenen) Präventivschlag gegen Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen (welche dieser freilich nicht besaß, wie sich erweisen sollte). Schwieriger gestaltete sich die Rationalisierung des Afghanistan-Kriegs von 2001. Seine erste Apostrophierung als "Kreuzzug" gegen den Terror mußte fallengelassen werden; zu provokant erschien den Beratern des US-Präsidenten und gewissen Medien die religiöse Konnotierung des Feldzugs. So gerann "the war on terror" zum ideologischen Schlagwort, das unbestimmt genug war, um die Kriegsproklamation zu legitimieren, ohne sich gleichwohl erhoffen zu dürfen, diesen Krieg bis zur eindeutigen Entscheidung führen zu können. Und doch mußte Bush nicht ganz auf die religiöse Aufladung des "Kriegs gegen den Terror" verzichten. In Reaktion auf terroristische Bedrohungen des Londoner Luftverkehrs im August 2006 und in diesem Zusammenhang gemachte Verhaftungen, hielt er eine Rede, in der es unter anderem hieß: "The recent arrests that our fellow citizens are now learning about are a stark reminder that this nation is at war with Islamic fascists who will use any means to destroy those of us who love freedom, to hurt our nation." Das war nicht das erste Mal, daß Bush diesen Ausdruck (oder auch Islamofascist) gebrauchte; es dürfte indes der Zeitpunkt gewesen sein, an dem die rhetorische Islamisierung des Faschismus (bzw. Faschisierung des Islams) sich immer deutlicher im Bewußtsein der Medien und rechtsgerichteter Gruppen im Westen niederzuschlagen begann. Es sprengt den Rahmen dieses Aufsatzes, sorgfältig darzulegen, wie think tanks neokonservativer Provenienz den kapitalistischen Krieg in muslimischen Regionen als Kampf gegen den "Islamofaschismus" umzudefinieren und im Sinne der Politik Bushs und ökonomischer Interessenvertretungen in den USA ideologisch zu propagieren begannen. Es kann gleichwohl als verbürgt gelten, daß der Begriff "Islamofaschismus" aus dem Geist der orchestrierten Legitimation initiierter Kriege der USA – damals noch unangefochtener Welthegemon – im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts geboren wurde.

Es ist dabei nicht ausgemacht, ob Islamophobie die Ideologisierung des Phobischen (etwa durch Begriffsbildungen wie Islamofaschismus) hervorbringt, oder die bereits ausgereifte Ideologie des Phobischen bedarf, um sich die psychosoziale Verankerung im öffentlichen Raum zu verfestigen. In welche Richtung der Kausalnexus auch immer zu denken ist, fest steht, daß zwischen Islamophobie und der ideologischen Verwendung von "Islamofaschismus" eine Wechselwirkung besteht. Wie es dabei zur Islamophobie kommt, ist von Land zu Land unterschiedlich. Europäische Länder mit kolonialistischer Vergangenheit, wie etwa England und Frankreich, sehen sich in diesem Kontext mit anderen strukturellen Problemen konfrontiert als etwa Deutschland, das keine vergleichbare Kolonialvergangenheit aufweist, aber als Einwanderungsgesellschaft der Nachkriegsära den Entstehungszusammenhang von Islamophobie nachgerade paradigmatisch darstellt. Unerörtert bleibe dabei der strukturelle historische Vorlauf, der den "Islam" bzw. "Moslems" überhaupt zum Thema in Deutschland hat heranwachsen lassen. Als man in den 1960er Jahren wirtschaftswunderlich der Gastarbeiter bedurfte, zögerte man nicht, sie ins Land zu holen. Daß man sie dabei als Gäste attribuierte, gab sich zwar politisch korrekt höflich, meinte aber auch das, was mit dem Begriff des Gastes gemeinhin einhergeht: daß er kommt, um wieder zu gehen. Aber viele aus den großen Schüben der italienischen, spanischen, jugoslawischen, griechischen und zuletzt auch türkischen Gastarbeitern, die in die alte Bundesrepublik einwanderten, erwiesen sich eben als die Art von Fremden, die Georg Simmel Jahrzehnte zuvor zum Topos gemacht hatte: als Wandernde, die heute kommen und morgen bleiben. Das hatte eine Menge mit ökonomischen Interessen deutscher Arbeitgeber und dem rigiden Existenzkampf ausländischer Arbeitnehmer zu tun (wie es denn heute mit Migrationsbewegungen aus einer hungernden dritten bzw. infrastrukturell schwachen zweiten in eine satte erste Welt zu tun hat). Nicht in Kauf genommen wurde zunächst, daß die, die man ins Land holte, sich lebensweltlich werden einrichten müssen, wenn sie einmal beschlossen, zu bleiben. Und als sie begannen, sich einzuleben, gar zu integrieren, war die Welt noch heil, solange man (gerüstet mit fröhlicher Multikulti-Gesinnung) das Fremde an den gebliebenen Gästen noch in der Form des Gangs "zum Italiener" oder "zum Griechen" als kulinarische Alltagsexotik (abendländischer Couleur) genießen durfte. Zum Problem wuchs dies Fremde erst dann heran, als die Lebenswelten der Immigranten ein Sichtbarkeitsgrad erreichten, das mit dem herkömmlichen ("normalen") deutschen Stadtbild und Öffentlichkeitsgewohnheiten kollidierte. Es ist davon auszugehen, daß man sich auch damit wohl hätte abfinden mögen, wenn diese Intrusion nicht mit einer anderen "Bedrohlichkeit" verbunden gewesen wäre: der fremden Religion.

Über Religion, wie gesagt, soll hier gleichwohl nicht geredet werden, jedenfalls nicht im Sinne einer emanzipativen Religionskritik. Denn wäre dies der Ausgangspunkt, hätte man sich mit der christlichen und jüdischen Religion nicht minder zu befassen als mit dem Islam. Daß man aber die jüdisch-christliche Tradition plötzlich meint, im Rahmen der deutschen Islam-Debatte hervorheben und preisen zu sollen, ist nicht nur das Mittel einer perfiden Islam-Polemik, wie man sie sich dem Christentum und dem Judentum gegenüber nie erlauben würde, sondern auch eine Verzeichnung der gesamten Geschichte des Abendlandes, mithin der jahrhundertealten jüdischen Leiderfahrung in ihr. Man vergesse nie, daß Juden im und unter dem Islam nie auch nur annährend das zu erleiden hatten, was ihnen im christlichen Abendland widerfuhr. Wenn es eine jüdisch-christliche Tradition gab, dann die der christlichen Verfolgung der "Gottesmörder", die ein wesentlicheres Merkmal der gemeinsamen Geschichte darstellt, als was der heutige jüdisch-christliche "Dialog" glauben machen möchte. Im Munde von manipulativen Politikern und polemisierenden Intellektuellen gerät diese "Tradition" zur Verhöhnung von Millionen Opfern dieser Tradition.

Was aber die Wirkmächtigkeit der Islamophobie in Deutschland ausmacht, ist etwas Anderes, nur zaghaft Ausgesprochenes. Als der deutsche Antisemitismusforscher Wolfgang Benz sich im Jahre 2010 einen Vergleich zwischen Antisemitismus und Islamophobie zu ziehen wagte, sah er sich sogleich heftigster Kritik vonseiten des Feuilletons ausgesetzt. Daß er den Vergleich in strukturell-phänomenolgischer Absicht gezogen hatte, ohne den Vergleich der realen geschichtlichen Auswirkungen von Antisemitismus und Islamophobie auch nur anzudeuten, half ihm nichts. Er hatte ein Tabu angerührt, dessen Anrührung, gar Durchbrechung im heutigen Deutschland nicht ungeahndet bleiben darf. Zu fragen bleibt gleichwohl, ob sich hinter der Empörung, die Benz' Vergleich auslöste, nicht noch etwas Schwerwiegenderes verbirgt: eine unaufgearbeitete Dimension des deutschen Antisemitismus, der als perennierendes Ressentiment, in die Schranken des Tabus verwiesen, sich nunmehr einer neuen Projektionsfläche bedienen darf, um sich legitimerweise zu manifestieren. Er darf sich sogar seiner Legitimität vergewissern, indem er "die Juden", mit denen sich der Träger des Ressentiments "identifiziert", mutatis mutandis somit sich selbst, vor dem "Islam" in Schutz nimmt. Zu fragen wäre entsprechend, ob nicht gerade in der Islamophobie sozialpsychologisch hervorlugt, was – tabuisiert – unaufgearbeitete Residuen des antisemitischen Ressentiments zum Inhalt hat. Sollte Zvi Rex mit seiner Behauptung, daß die Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen werden, recht haben, dürfte dies latente antisemitische Ressentiment in der deutschen Islamophobie ihr Eldorado gefunden haben.

Wie sich dabei Islamophobie mit dem von Islamophoben zuweilen ideologisch erhobener Vorwurf des Islamofaschismus verbindet, läßt sich aus der spezifischen Konstellation von Deutschen, Juden und Arabern herauslesen, wie es Gilbert Achcar in seinem Buch "The Arabs and the Holocaust. The Arab-Israeli War of Narratives" paradigmatisch nachgezeichnet und analysiert hat. Das Neuralgische dieser Konstellation manifestiert sich zum einen in ihrem realen geschichtlichen Zusammenhang: Von Deutschen ist an Juden – also im europäischen Raum und Kulturbereich – Monströses verbrochen worden. Die Katastrophe ließ die sich bereits vor der Shoah als dringlich abzeichnende Errichtung einer nationalen Heimstätte für Juden nach der Shoah zur historischen Notwendigkeit werden. Verwirklicht wurde dies Notwendige indessen nicht in der realen (abendländischen) Hemisphäre der Katastrophe, sondern im Nahen Osten, und zwar so, daß das auf dem Territorium des zu errichtenden zionistischen Staates lebende Kollektiv der Palästinenser den Akt der nationalen jüdischen Emanzipation mit einer eigenen Katastrophe, der Nakba, bezahlte. Selbst wenn man sich darauf berufen möchte, daß die zionistische Emphase als eine von der Shoah getrennte zu denken sei, kann man kaum in Abrede stellen, daß der Holocaust den zionistischen Staatsgründungsakt mit einer welthistorischen Bedeutung auflud, die bald genug zur Wahrnehmungsmatrix der Etablierung Israels als Judenstaat sowohl in dessen eigenen politischen Kultur samt der ihr zugrunde liegenden Staatsideologie als auch in Zugang und Haltung großer Teile "der Welt" zu Israel avancieren sollte.

Zum anderen lag aber eben darin auch der Grund für die allseitige ideologische Einfärbung dieser historischen Konstellation, welche den realen politisch-territorialen Konflikt zwischen den Arabern/Palästinensern und den Juden Israels zu dem von Gilbert Achcar postulierten "War of Narratives" hat werden lassen. Nicht von ungefähr unternahm es Azmi Bishara bereits in den frühen 1990er Jahren, die dem Topos "Die Araber und die Shoah" implizite Konjunktion zu problematisieren, indem er darauf hinwies, daß sich die arabische Wahrnehmung des Holocaust grundlegend von der der „Deutschen" und der der „Juden" unterscheide. Denn weder seien die Araber selbst Opfer des Holocaust gewesen, noch blickten sie auf die Vernichtung der Juden mit Schuldgefühlen. Gleichwohl insistierte Bishara auf die (und sei's politisch begründete) Unabdingbarkeit einer Auseinandersetzung der arabischen Welt mit der geschichtlichen Katastrophe der Juden. So auch, wenig später, Edward Said, der das in der arabischen Welt gängige Festhalten an der Vorstellung, "der Holocaust und das Leiden der Juden seien nichts weiter als eine propagandistische Lüge" bzw. "eine Erfindung des Zionismus" heftig kritisierte. Weder Bishara noch Said standen dabei im Verdacht, die von israelischen Juden verursachte Leiderfahrung der Palästinenser herunterspielen zu wollen. Im Gegenteil. Aber sie waren eben auch nicht bereit, in den Chor der ideologisch Verblendeten auf arabischer Seite einzustimmen, sondern sahen sich einer im Kontext besagter neuraligischer Konstellation nicht leicht zu bewirkenden politischen Aufklärung kompromißlos verpflichtet.

Die ausbleibende Auseinandersetzung mit der Shoah in der arabischen Welt ist dabei eine Sache, eine andere – nicht minder gewichtige – die manifeste Shoah-Leugnung eines Achmadinedschad. Nimmt man noch hinzu, daß dessen Regime vorgeworfen wird, sich nuklear bewaffnen zu wollen, um Israel attackieren, mithin vernichten zu können, ergibt sich die immanente Verschwisterung der Rhetorik des iranischen Führers mit einer faschistischen Ideologie Hitlerscher Couleur quasi wie von selbst. Für israelsolidarische, mit dem entsprechenden Geschichtsgewissen ausgestattete Deutsche darf es dabei keinen Zweifel geben: Ungeachtet der Frage, wie es um den Entwicklungsstand iranischer Nuklearwaffen real steht, und ob bei ihrer Herstellung es auch zwangsläufig zu einem Angriff auf Israel kommen werde; unabhängig auch von der Frage, welcher Stellenwert der perfiden Drohrhetorik Achmadinedschads beizumessen sei (und wie diese eventuell geopolitischen Interessen Israels und der USA in der Region gerade entgegenkommt), stellt sich beim geschichtsbelasteten Deutschn sogleich der fällige Reflex ein – "Israel = Juden" + "Judenvernichtung = Hitler" + "Hitler = Faschismus" ergibt automatisch "Bedrohung von Juden = Faschismus", wobei es sich im spezifischen Kontext des Nahen Ostens gleich bleibt, ob es sich um eine Bedrohung seitens des Mullah-Staates oder einer anderen, minder mächtigen, islamischen Strömung handelt; die Bedrohenden werden allesamt dem "Islamismus" subsumiert, weil der Manichäismus der ideologischen Wahrnehmung keine Differenzierung zuläßt: das islamophobe Ressentiment soll ja gerade befestigt werden. Unerörtert bleibe dabei, von welchem Impuls dieses Ideologem angerührt wird – von der judensolidarischen deutschen Geschichtsverantwortung, von der latent antisemitischen Projektion von historisch Unbewältigtem auf den Islam oder von der Rationalisierung einer ohnehin bereits vorwaltenden Islamophobie mittels einer ideologisch konsensfähigen "Solidarität mit den Juden".

Die geschichtlich solcherart generierte deutsche Islamophobie findet ihre strukturelle Entsprechung in europäischen Ländern mit einer satteren Kolonialvergangenheit. Selten, wenn überhaupt, wird reflektiert, daß die Emigration von Moslems nach Ländern wie Frankreich oder England etwas mit der historischen Kolonialzeit dieser Länder zu tun hat, und zwar nicht nur im Hinblick auf den real entstandenen Nexus zwischen ihnen und ihren ehemaligen Kolonien (die Geister, die sie kolonialistisch riefen, werden sie gleichsam nicht mehr los), sondern auch in Hinsicht auf das, was sich u.a. an Haß-, Ressentiment- und Feindseligkeitspotentialen bei den ehemals Kolonisierten den vergangenen Kolonialherren gegenüber angestaut hat. Daß man den Haß der einst Unterdrückten nun essentialistisch als Wesenszug islamischer Religion und Kultur umzudeuten trachtet, mithin in den Vorwurf des Islamofaschismus gleiten läßt, mag dabei etwas mit der eigenen unbewältigten Vergangeneheit zu tun haben, namentlich mit dem bösen Geschichtsgewissen darüber, nicht nur unterdrückt und ausgebeutet, sondern sich auch der White-man's-burden-Ideologie herrenmenschlich verschrieben zu haben. Darauf, daß der auf den Kolonialismus der Neuzeit im 20. Jahrhundert folgende (kapitalistische) Imperialismus und der ihm verschwisterte Faschismus genuine Erzeugnisse der westliche Politgeschichte darstellen (also nicht nur der Republikanismus und die Demokratie, die man sich zugute hält und in deren Namen man auszieht, um die islamische Welt staatspolitisch umzuerziehen), wird gar nicht erst eingegangen. Wozu auch, wenn das, woran man einst schuldig geworden ist, nunmehr auf das projizierbar ist, was zum zentralen Kriterium der Absetzung von der "westlichen Kultur" (und ihrer "jüdisch-christlichen Tradition") erhoben wird?

Was die Instrumentalisierung der europäischen, vor allem deutschen Vergangenheit zur Desavouierung von Arabern (und mutatis mutandis des Islams) anbelangt, darf Israel durchaus eine Vorreiterrolle beanspruchen. Das ist kaum überraschend, wenn man bedenkt, wie wirkmächtig die Instrumentalisierung der Shoah-Erinnerung zu fremdbestimmten Zwecken Israels politische Kultur von Anbeginn affizierte. Daß die heteronome Funktionalisierung der jüdischen Geschichtskatastrophe dabei nicht nur auf nichtjüdische Kollektive gerichtet war (und noch immer ist), sondern auch auf jüdische, ja selbst auf israelische, ist mittlerweile zum selbstverständlichen Ärgernis geronnen. Als etwa im Januar 2005 israelische Siedler aus dem Gazastreifen sich bei einer ihrer Protestaktionen gegen die von der israelischen Regierung beschlossene Räumung ihres Siedlungsgebiets einen orangenen (die Farbe dieses Gebiets symbolisierenden) Judenstern an ihre Kleidung hefteten, sich teilweise auch nicht entblödeten, dem Stern einen Streifen mit dem Akronym DP (Displaced Person) beizufügen, war klar, daß es sich zwar um eine wohl orchestrierte Politkampagne, zugleich aber auch um die Ausreizung des wohl allerempfindlichsten Punktes israelischer Kollektivneuralgien handelte. Nicht, daß die Instrumentalisierung der Shoah-Erinnerung der israelischen politischen Kultur, wie gesagt, fremd wäre; ganz im Gegenteil haben sich ihre rechten Träger seit Jahrzehnten gerade darin besonders effektiv geübt. Während aber die ideologische Manipulation der Gedenkkodierungen in der Vergangenheit stets gegen Israelgegner und -feinde in der arabischen Welt und in Europa, die Selbstviktimisierung "Israels" mithin "nach außen" gerichtet war, vereinnahmte die politische Aktion diesmal das Grauen jüdischer Erfahrung im 20. Jahrhundert für "nach innen" gesteuerte Zwecke. Zwar haben Siedler israelische Grenzschutzpolizisten und Soldaten öfter schon im Eifer kleiner, wiewohl stets medienwirksamer Räumungsgefechte als "Nazis" und "SS" beschimpft, aber eine solche bewußt eingesetzte Taktik, eine derart sich gegen die Regierung richtende, mithin sich von der Staatsräson rigoros absetzende Kampagne, bei der die Selbststilisierung als Opfer die "Regierungstäter" unverkennbar in den historischen Vergleich mit den Nazis und die Siedler selbst in den mit entwurzelten Shoah-Überlebenden katapultierte, war neu. Der öffentliche Aufschrei gegen diese Gleichsetzungen ließ denn auch nicht lange auf sich warten; die Kampagne wurde einige Tage nach ihrem Start wieder eingestellt – nicht zuletzt freilich deshalb, weil ihre Initiatoren das deutliche Gefühl hatten, die erwünschte Wirkung öffentlicher Aufmerksamkeit bereits erzielt zu haben. Das ist freilich nur ein Beispiel, das stellvertretend für zahllose andere steht. Jüngst erst erschienen ultraorthodoxe Juden bei einer Auseinandersetzung mit israelischen Polizeikräften im Rahmen einer Gegendemonstration zu Protesten, die von säkularer Seite gegen ihre religiösen Gepflogenheiten Frauen gegenüber veranstaltet worden waren, in Kleidung von KZ-Insassen mit einem angehefteten gelben Judenstern und der Aufschrift "Jude" darauf. Es gab wieder einen öffentlichen Aufschrei ob solcher Instrumentalisierungspraxis. Die Verkleidung wurde zurückgezogen – bis zum nächsten Mal, welches freilich ganz gewiß kommen wird.

Und wenn sich schon der innerjüdische Shoah-Instrumentalisierungsdiskurs solcherart auszutoben pflegt, kann man sich gut vorstellen, was sich in dieser Hinsicht Israels Feinden gegenüber, Palästinensern, ihren Führern, Arabern überhaupt und Islamisten insbesondere, abspielt. Für Premierminister Menachem Begin war der im 1982er Libanonkrieg von israelischen Streitkräften in Beirut eingekesselte Yassir Arafat nicht weniger als der 1945 in seinem Berliner Bunker gefangene Adolf Hitler. Nicht nur Hans Magnus Enzensberger galt Saddam Hussein im 1991er Golfkrieg als "Hitlers Wiedergänger": Ganz Israel war angesichts des Beschusses von Tel-Aviv und Haifa mit irakischen Scud-Raketen von einer Holocaust-Hysterie erfaßt, bei der "deutsches Gas" und der bagdadische "Hitler" als zentrale Protagonisten fungierten. Ariel Sharon erklärte lapidar, daß aus Europa kommende Israelkritik zwangsläufig antisemitisch sei, was auch erkläre, wie es im alten Kontinent hatte zur Shoah kommen können, und aus gleichem Geiste sei auch die anti-israelische Propaganda arabischer Länder geboren. Entsprechend gelten palästinensische Terroristen vielen in Israel als Nazis und SS-Schergen. Daß Irans Achmadinedschad kraft künftiger Nuklearbewaffnung den nächsten jüdischen Holocaust, diesmal in Israel, zu bewerkstelligen gedenkt, gilt fast schon als Gemeinplatz (wobei nie mitreflektiert wird, ob dies Selbstverständliche als triftig zu erachten ist, wenn man bedenkt, daß die reale Bedrohung der Existenz Israels die massive Verwüstung Irans zur Folge haben werde). Es wäre nun müßig, im hier vorgegebenen begrenzten Rahmen weitere Beispiele anzuführen – es sind ihrer Legion. Stattdessen ist es angeraten, die geschichtlichen und sozialen Quellen solch eklatant perpetuierter Strukturen ideologisierenden Ressentiments zu reflektieren. Dazu einige Anmerkungen.

Die Vision der Errichtung eines Judenstaates gründete im grassierenden Judenhaß. Die Gründung Israels vollzog sich in einem haßerfüllten regionalen Umfeld. Beides stimmt – und suggeriert doch einen unzulässigen Nexus. Denn während der moderne Antisemitismus von Anbeginn auf einer ahistorischen Wesensbestimmung "des Juden" basierte, während er sein Judenbild in einer Weise ideologisch reproduzierte, die es ihm immer wieder ermöglichte, sich in seinem prästabilisierten Widerwillen ihm gegenüber bestärkt zu sehen, erwuchs der arabische Haß auf das zionistische Projekt allgemein und auf die Errichtung des Staates Israel im besonderen aus konkreten historisch-politischen Motiven: Im Gegensatz zum Antisemitismus, geschichtliche Spätfolge eines jahrhundertealten abendländischen, zunächst primär religiös begründeten Ressentiments gegenüber den Juden, war die islamische Welt vor dem 20. Jahrhundert keineswegs judenfeindlich geprägt; das diasporische Dasein der Juden in den arabischen Ländern zeichnete sich gemeinhin eher durch Integration als durch sozialen Ausschluß und Verfolgung aus. Erst mit dem Beginn der zionistischen Bewegung, vor allem aber der von ihr inspirierten jüdischen Ansiedlung in Palästina samt expansiver Landnahme, entfalteten sich massive feindselige Gefühle der Araber Juden gegenüber, die sich nach und nach zu manifestem Haß steigerten. Wenn man heute also von islamistischem Antisemitismus spricht, vom palästinensischen zumal, muß man ihn in einem ganz bestimmten Kontext begreifen: Bei den Haßtiraden in den islamischen Ländern handelt es sich im allgemeinen um die Instrumentalisierung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu demgogisch-fremdbestimmten Zwecken, die zumeist die inneren Probleme des jeweiligen Landes belangen, wobei ein durch postkoloniale Ohnmacht aufgeladenes Ressentiment "dem Westen" – mithin den USA und ihrem Verbündeten Israel – gegenüber im Zuge eines gesteigerten Affekts gegen den globalisierten Kapitalismus, dessen Hauptopfer Länder der sogenannten dritten und vierten Welt sind, bedient wird. Der palästinensische Haß gründet hingegen in dem, was als das vom Zionismus mit der schieren Gründung des Judenstaates an den Palästinensern begangene historische Unrecht angesehen wird, vor allem aber in den über Jahrzehnte erlittenen Repressionserfahrungen infolge des 1967er Krieges und des aus ihm hervorgegangenen Okkupationsregimes. Daß dabei die Reaktion auf die reale Leiderfahrung in reaktionäre Ideologie umschlagen kann, versteht sich von selbst. Denn der Haß (wie der Opferwille) nährt sich, Walter Benjamin zufolge, am "Bild der geknechteten Vorfahren" wie denn an der eigenen Knechtung; zugleich macht er aber auch blind für den bekämpften Gegner und den Feind, zeitigt mitunter verblendete Dämonisierung und unrealistische Manichäisierung des gerechten Emanzipationskampfes. Spätestens wenn die Siedler in den besetzten Gebieten von den Palästinensern zur Verkörperung alles Jüdischen, die manifestierte Repression im konkreten Kontext also zum Wesen des Jüdischen erhoben wird, schlägt der an sich vollkommen begreifliche Antizionismus der Palästinenser in Antisemitismus um, dabei den – islamistisch aufgeladenen – Haß in exzessive, ideologisch verfestigte Vernichtungsphantasien treibend.

Nicht minder komplex erweist sich indes die Genese des Araberhasses auf der jüdisch-israelischen Seite. Denn zum einen schärft(e) er sich an der jahrzehntelangen Erfahrung arabischer Gewaltanwendung, welche zumindest in der Zeit der großen regionalen Kriege etwas Existenzbedohendes fürs israelische Kollektiv hatte, aber auch noch im heutigen Zustand eines eher begrenzten Guerillakampfes und punktuell praktizierten Terrors eine latente, selbst in Phasen relativer Ruhe fortwährende allgemeine Verunsicherung des israelischen Alltags bewirkt. Daß man sich im Laufe der Zeit an diesen Grundzustand "gewöhnte", macht u.a. seinen Ideologiecharakter aus. Denn kaum je wird von einem Gros der jüdischen Bevölkerung Israels der Anteil der israelischen Politik an der Perpetuierung ebendieser Gewalt reflektiert, kaum je wird darüber nachgedacht, was es damit auf sich habe, daß man offenbar viel eher bereit ist, in der Perspektivlosigkeit lähmender Stagnation zu verharren, als diese mutig zu durchbrechen. Stattdessen ist man ganz leicht bei der Hand mit den längst zu unhinterfragbaren Ideologemen verfestigten Einsichten, daß die Araber "nur die Sprache der Gewalt" verstehen, weil dies eben ihre "Mentalität" sei; daß die Israelis immer nur den Frieden erstrebt hätten, jedoch auf taube Ohren aufseiten de Araber gestoßen seien, weshalb man denn verurteilt sei, sich für immer "auf das Schwert" zu verlassen und in zäher Wehrhaftigkeit im Ozean des nahöstlichen Judenhasses zu behaupten.

Zum anderen fußt der grassierende Araberhaß breiter Teile der jüdischen Bevölkerung Israels in einem ganz anderen ideologischen Bereich, dessen Wurzeln sich bis in die Anfänge des politischen Zionismus zurückverfolgen lassen. Interessant dabei, daß die Mitglieder der im Jahre 1909 gegründeten Wehrorganisation "Ha'schomer", die es sich zur Aufgabe machte, jüdische Ortschaften im Norden Palästinas vor arabischem Diebstahl bewachend zu schützen, mithin die Gestalt eines neuen (des Pferderitts und des Waffengebrauchs kundigen) Juden vor Augen hatte, hohe Wertschätzung für den bodenständigen, um sein Land mutig kämpfenden Araber hegten – sie lernten Arabisch, kleideten sich oft wie Araber an und pflegten (pseudo)arabische Rituale. Erwähnenswert ist dieses Detail der zionistischen Frühgeschichte in Palästina, weil es mit einem bestimmten, freilich seitlichen Aspekt der Wahrnehmung alteingesessener Araber durch die zionistischen Siedler korrespondiert: der Romantisierung der Gestalt des "authentischen", in seinem stolzen Äußeren etwas von der Altehrwürdigkeit längst vergangener biblischer Zeiten wahrenden Arabers. Daß Orientalistische, mithin von westlich-projektivem Herrschaftsblick Getragene dieser partenalistischen "Bewunderung" wird erst sehr viel später zum Thema kritischer Reflexion erhoben werden. Aber schon in diesem Blick schlug sich nieder, was späterhin die Tragödie der fern-nahen Nachbarschaft von Juden und Arabern in Israel-Palästina ausmachen sollte.

Denn parallel zu solch romantisierender Wahrnehmung "des Orientalen" wurde das Verhältnis der auf Landnahme und eigener sozial-ökonomischer wie kultureller Expansion ausgerichteten jüdischen Siedler zu den arabischen Bewohnern des Landes durch eine Leere des Blicks, durch dezidierte Nichtwahrnehmung der in Palästina bereits existierenden arabischen Lebenswelten bestimmt. Dabei vermengten sich die Ideologie des abstrakten zionistischen Anspruchs "Land ohne Volk für ein Volk ohne Land" mit der westlichen Überheblichkeit der in die Levante immigrierten Europäer, die als Fremde kamen, um zu bleiben, ihr Fremdes in der vorgefundenen "Einöde" aber zugleich auch als Kulturkapital und (jüdischen) Zivilisationsauftrag begriffen. In der Geschichtsschreibung des Zionismus wird seit etwa anderthalb Jahrzehnten darüber gestritten, ob der Zionismus dem Kolonialismus zuzurechnen sei. Ohne sich auf diese Debatte einlassen zu wollen, kann mit Gewißheit behauptet werden, daß zumindest die Wahrnehmung der autochthonen Bevölkerung Palästinas durch die "aus dem Westen" Kommenden, die sich bald genug zu realen Beherrschern des Landes aufschwingen sollten, kolonialistische Züge trug. Daß dabei die in der Tat schweren Lebensbedingungen der Einwandernden sowie ihre sich durch eine Geschichte von Ausgrenzung und Verfolgung gezeichnete osteuropäische Herkunft nicht gerade dazu angelegt war, das "Herrschaftliche" dieser aus der Fremde kommenden Siedler zu nähren, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihr Selbstverständnis als Pioniere, die gekommen waren, um die "Wüste zum Erblühen zu bringen", wie auch das reale westliche Bildungs- und technologische Kapital, dessen sie sich habhaft wußten, sehr wohl dazu beitrugen, die herablassende Verachtung den "primitiven Orientalen" gegenüber zur arroganten Überlegenheitsideologie (und Matrix sozial-psychischer Selbstvergewisseung) heranwachsen zu lassen.

Und als dann die schon im Kern feindseligen Beziehungen in zunehmende Gewalt umschlugen, die Bewohner des Landes sich mithin als nicht gerade "zahm" erwiesen, bildeten sich nach und nach auch Strukturen von Verachtung, Ressentiment und blankem Haß heraus. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, wie sich das innerisraelische Verhältnis von aschkenasischen und orientalischen Juden auf die Beziehung zu Arabern auswirkte. Denn während die aschkenasische, also europäisch-westliche, Wahrnehmung alles Arabischen , wie gesagt, durch Fremdheit und eine von dieser genuin sich ableitende Distanz (und ideologisierte Distanziertheit) vorgeprägt wurde, waren arabische Sprache und Kultur, arabische Lebenswelten, Sitten und Gebräuche den in den 1950er Jahren aus dem Jemen, aus Maokko und dem Irak in den jüngst errichteten Staat Israel einwandernden Juden mitnichten fremd – ganz im Gegenteil bildeten sie einen organisch-integralen Bestandteil ihrer Lebensgeschichte, ihrer gesellschaftlichen Sozialisation und kulturellen Identität. Da nun aber "die Araber", mithin ihr "Arabisches", als feindliches Gegenbild zum Zionismus, also zum Selbstverständnis der jüdischen Bürger Israels, auftraten und als solches auch ideologisiert wurden, sahen sich die orientalischen Juden vor dem Problem gestellt, sich von ihrer eigenen sozial-kulturellen Herkunft distanzieren zu sollen. Das galt zwar für alle jüdischen Einwanderungswellen in Palästina und Israel im Verlauf der gesamten zionistischen Geschichte; aber während die Entfernung der aschkenasischen Juden von ihrer europäischen Herkunft in ihrer neuen levantinischen Heimat quasi räumlich (mit)bestimmt wurde, sahen sich die orientalischen Juden in der Region ihrer Herkunft zur proklamierten Absage an all das, was sie in ebendieser Region geprägt hatte, gezwungen – wobei sie sich freilich in der neuen Heimat zumindest insofern fremd fühlen mußten, als diese sich europäisch gerierte: Durch die Chronik der jüdischen Einwanderungswellen bedingt, war das Land, in welches die orientalischen Juden in den 1950er Jahren immigrierten, bereits aschkenasisch hegemonisiert. Aschkenasische Juden, die schon während der Yishuv-Zeit ins Land gekommen bzw. in diesem geboren wurden, mithin maßgeblich an der Herausbildung der prästaatlichen Infrastruktur des Landes beteiligt gewesen waren, beherrschten die politischen, ökonomischen und kulturellen Sphären und Institutionen Israels. Sie waren es, die die Eliten bildeten, die Prädispositionen für die Entfaltung des konsensuell abgesegneten politischen Selbstverständnisses sowie einer israelischen Hoch- und Populärkultur schufen und im Geiste ebendieses Hegemonialdenkens die Richtlinien und Maßstäbe für adäquate Integration und staatsbürgerliche Anpassung stellten.

Es ist nun diesem strukturellen Grundumstand zuzuschreiben, daß sich unter den orientalischen Juden Israels ein spesifisches Ressentiment "den Arabern" gegenüber herausbildete: Da "die Araber" als Feinde, die sie in der Tat waren, galten, sahen sich die ihren Gesellschaften und Kulturen entstammenden, ihnen in lebensweltlicher Hinsicht eher ähnelnden orientalischen Juden in besonderer Weise genötigt, sich von ihnen zu distanzieren, ja ihre Ausgrenzung innerhalb Israels mit eigentümlicher Emphase zu ideologisieren. Diese Feststellung ist pauschal; sie wird bewußt in idealtypisierendem Sinne vorgenommen. Indes, vergleichbar mit dem Ressentiment, das säkulare aschkenasische Zionisten orthodoxen Juden osteuropäischer Provenienz gegenüber entwickelten, weil diese sie offenbar deutlich an ihre eigene diasporische Herkunft gemahnten (und im Grunde noch immer gemahnen), bildete sich in Israel die Abneigung orientalischer Juden gegenüber Arabern heraus, weil gerade diese ihnen – gleichsam lebensweltlich plastisch – widerspiegelten, woher sie kamen, zugleich aber auch, warum sie in Israel, trotz aller Ideologie ethnisch-religiös begründeter Gleichheit und jüdischer Zusammengehörigkeit, großteils zu sozialen, wirtschftlichen und kulturellen "Verlierern" geworden und im israelisch-jüdischen Spektrum bis zum heutigen Tage geblieben sind. Die ressentimentgeladene Abgrenzung von den in der Sozialschichtung und politischen Ideologie "unten" angesiedelten Arabern diente den orientalischen Juden beim Prozeß ihrer israelischen Integration als probates Mittel einer – wie immer verblendeten – "Erhöhung" ihres sozialen Status.

Wenn nun seit Mitte der 1990er Jahre die jüdisch-orientalische Intelligenz, welche sich inzwischen herausgebildet hat, kritisch beklagt, man habe die orientalischen Juden ihrer ursprünglichen (also arabischen) kulturellen Identität beraubt; wenn der 1930 im Irak geborene Schriftsteller Shimon Ballas sich selbst – für zionistische Ohren nachgerade unerträglich – als "jüdischen Araber" apostrophiert; wenn darüber hinaus der sogenannte "orientalische Gesag" (semer misrachi) in Israels Populärkultur sich dezidiert an arabischen Musikformen orientiert, dann hat dies zum einen mit einer mehr oder minder reflektierten, dabei freilich durchaus affektgeladenen Kritik an der in Israel immer noch vorwaltenden aschkenasischen Hegemonie zu tun, zugleich ist darin aber auch die historische Verschwisterung von Ressentiment, Haß, Gewalt und Ideologie im Verhältnis von Juden und Arabern, jedoch auch im an sich problemdurchwirkten Verhältnis von aschkenasischen und orientalischen Juden zueinander sedimentiert.

Es bedarf keiner Absage an einer berechtigten Kritik des Islamismus, um sich klar darüber zu werden, daß die Art und Weise, wie sie heute vielerorts in der westlichen Welt betrieben wird, primär ideologischer Natur ist. Nicht nur hat der christliche Religionsfundamentalismus, wie er etwa in den USA virulent kursiert, oder auch der jüdische, wie er vor allem in Israel zum reaktionären politischen Faktor geronnen ist, dem islamischen Fundamentalismus nichts vor, sondern es ist stets notwendig, den historischen und gesellschaftlichen Entstehungskontext solcher Fundamentalismen kritisch zu durchleuchten, ehe man sich zu panischen Pauschalisierungen hinreißen läßt. Vor allem aber reflektiere man, was es damit auf sich haben könnte, daß ein im Orient generierter Religionsfundamentalismus einer genuin im Europa der Moderne entstandenen Regimeform, die Schrecklichstes in menschheitsgeschichtlichem Maßstab gezeitigt hat, mir nichts, die nichts verschwistert wird. Besorgniserregend ist dabei weniger die Frage der Stichhaltigkeit dieser Begriffsfusion per se, als vielmehr die ideologische Unbekümmertheit, mit der sie in den letzten Jahren zu heteronomen Zwecken inflationär verwendet wird. Die Begriffsbildung "Islamofaschismus" sagt, so besehen, über die ideologischen Platzhalter dieses Begriffs nicht weniger aus als über den von ihnen als solchen attackierten Islamismus.

 

* Die erste Version des Artikels erschien englisch: ´Islamofascism. Remarks on a Current Ideologeme in: Die Welt des Islams, 25 (2012), S. 351-369

** Seit Erscheinen des Artikels (2012) sehen sich Palästinenser in Israel weiteren Diskriminierungen ausgesetzt, u. a. durch das 2018 verabschiedete Nationalstaatsgesetz. Es schrieb Israel als Staat des jüdischen Volkes fest und entzog dem Arabischen den Status der zweiten Amtssprache. 

Islamofaschismus