Ist der Sahel ein zweites Afghanistan?

Ist der Sahel ein zweites Afghanistan?
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Dort wurden im August bei simultanen Anschlägen in vier Dörfern 51 Menschen ermordet. Das erklärt, weshalb viele Bewohner des Sahel nicht mehr auf Schutz durch offizielle Streitkräfte rechnen und diese auch nicht mehr im Kampf gegen zahlreiche Djihadistengruppen unterstützen, die sich teils Al Qaida, teils dem IS zurechnen. Einsichtig ist auch, dass viele Armeeangehörige nicht mehr kämpfen wollen, wenn sie den Rückhalt der Bevölkerung verloren haben und immer wieder schwere Verluste zu beklagen haben.  

 

Eine solche – auch aus Afghanistan bekannte – Dynamik macht sowohl Zivilisten als auch Militärs zu wohlfeilen Geiseln eines offensichtlich nicht mehr beherrschten Konfliktgeschehens. Wer überleben will, muss fatalistisch abwarten, was die Sieger irgendwann durchsetzen. Der gequälte Mensch dürstet nicht mehr nach Werten wie Freiheit oder Gleichberechtigung, sondern nur noch nach einem einigermaßen friedlichen Alltag.

 

In den letzten Jahren setzt der Terror auch den anderen Sahel-Staaten immer mehr zu: Um nur die letzten Gräuel zu erwähnen: Anfang Juni wurden im Dorf Solhan in Burkina Faso bis zu 160 Menschen von Islamisten getötet. Anfang August ereilte dreißig Menschen im Norden des Landes dasselbe Schicksal. In Niger wurden seit Jahresbeginn 420 Menschen Opfer von Djihadisten, allein im August waren es 37. Die Armee verlor dort kürzlich 21 Soldaten, sechs gelten noch als vermisst. Und im Tschad wurden Anfang August bei einem Scharmützel mit der Terrorgruppe Boko Haram 26 Soldaten getötet.  

 

Im Sahara-Sahel-Raum gibt es keine Trennlinie zwischen Djihadisten und kriminellen Banden – beide finanzieren sich mit Drogenhandel. Hinzu kommen zunehmende ethnische Konflikte. Im Tschad fand – ebenfalls Anfang August – eine Auseinandersetzung zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern statt, die mit 22 Toten und 18 Verletzten endete. Das komplexe und oft undurchsichtige Konfliktgeschehen offenbart chronische Schwäche, ja die Abwesenheit von staatlichen Strukturen in weiten, besonders den ländlichen Bereichen.     

   

Seit 2013 versuchen internationale Militärmissionen den Djihadismus im Sahel zurückzudrängen. Mit anderen europäischen Staaten ist die Bundeswehr in der European Union Training Mission (EUTM) an der Ausbildung der Armeen Malis und Nigers beteiligt. Außerdem ist sie Teil der United Nations Multidimensional Integrated Stabilisation Mission (MINUSMA). Und sie ist – mit anderen EU-Staaten auch Partnerin der G5 – Staaten: Mali, Niger, Tschad, Burkina Faso und Mauretanien. Deren von der Afrikanischen Union mandatierte Armeen wollen gemeinsam die Sicherheit ihrer Länder wieder herstellen. 2020 fanden im südfranzösischen Pau und im Februar diesen Jahres in N`Djamena, der Hautptstadt des Tschad, strategietreffen zwischen den G5 und der Europäischen Union statt. Die dort gezogenen positiven Bilanzen und die in Aussicht gestellten künftigen Erfolge erscheinen nicht nur durch das Desaster in Afghanistan zweifelhaft, sondern auch durch die letzten Entwicklungen in der Region selbst. In Mali kam es zu aufeinanderfolgenden Putschen, von denen die am meisten dort engagierte  EU-Kraft – nämlich Frankreich – nicht vorinformiert war und im Tschad geschah dasselbe. Obwohl Präsident Macron noch im Februar verkündete, die insbesondere den Maliern inzwischen verhasste Mission Berkhane aufrechtzuerhalten, vollzog er im Juli eine Kehrtwende und verkündete, das Ende dieses Einsatzes einzuleiten und die französischen Streitkräfte im Sahel insgesamt zu verringern. 

 

Da verwundert es nicht, dass die Regierung des Tschad am 21. August bekannt gab, von ihren 1200, im besonders unruhigen Grenzgebiet zwischen Mali, Niger und Burkina Faso stationierten Truppen 600 Mann abzuziehen, weil sie nicht die zur Verfolgung von Djihadisten nötigen beweglichen Ausrüstungen hätten. Bekannt wurde auch, dass unter den Soldaten Unruhe wegen schlechter Versorgung ausgebrochen waren.  

 

Während es den westlichen Truppen in Afghanistan noch gelang, die eigenen Stützpunkte zu schützen, sind diese im Sahel gefährdet. Ende Juli wurden Bundeswehrsoldaten in einer «Wagenburg» in Mali mitten in der Nacht überraschend angegriffen. Drei wurden schwer verwundet, neun weitere und ein Belgier leichter verletzt.

 

Trotz Ähnlichkeit mit der Entwicklung in Afghanistan, erscheint die Lage im Sahel noch komplizierter. Die Djihadisten führen in den von ihr kontrollierten Gebieten die Scharia ein, sind aber nicht in der Lage, ein einheitliches Kalifat zu errichten. Da sie vor allem am Drogen- und Menschenhandel verdienen, ist ihr Ziel, die eigene Bewegungsfreiheit in den menschenarmen Räumen zu sichern. Städte können sie infiltrieren, aber kaum dauerhaft erobern. Um weiteren Zerfall der Staaten zu verhindern, ist eine international koordinierte Perspektive zur sozialen Entwicklung erforderlich. 

 

* Dieser Artikel erschien unter dem Titel Wird der Sahel ein zweites Afghanistan ? In Der Freitag no. 34 v. 26. 8. 2021, S. 10.

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