Bei seiner Vereidigung am 20. Mai 2019 nannte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi Israel als Vorbild im Hinblick auf die Verteidigung der Ukraine – was in Tel Aviv und Jerusalem für Schlagzeilen sorgte.
Selenskyj ist 1978 als Sohn jüdischer Eltern in der südukrainischen Stadt Kriwoj Rog geboren. (Die Industriestadt ist im deutschsprachigen Raum bekannt geworden durch den Roman „Die Fahne von Kriwoj Rog“ von Otto Gotsche und den gleichnamigen Defa-Film von Kurt Maetzig.) Selenskyi beschwört oftmals in seinen Ansprachen die historische Verbundenheit von Juden und Ukrainern sowie die Parallelen zwischen den Staaten Israel und der Ukraine. „Wir wissen, wie es ist, keinen eigenen Staat zu haben. Wir wissen, was es bedeutet, den eigenen Staat und das eigene Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, selbst um den Preis des eigenen Lebens. Ukrainer wie Juden schätzen die Freiheit, und sie arbeiten gleichermaßen daran, dass die Zukunft unserer Staaten nach unseren Vorstellungen gestaltet wird und nicht nach denen, die andere für uns wollen. Israel ist für die Ukraine oft ein Vorbild.“ Er wünsche sich, so Selenksy, dass die Ukrainer schnell zu einer „selbstbewussten Nation“ zusammen geschmiedet werden – so schnell und so erfolgreich wie Israel. Bewundernd blicke man, so heißt es in dem Bericht von „Quantara“, darauf, wie es den Juden gelungen sei, eine moderne Nation und einen modernen Staat aufzubauen.
Inzwischen, so der Bericht von „Quantara“, widmen sich mehrere vom Westen unterstützte Nichtregierungsorganisationen und Denkfabriken in der Ukraine diesem Thema. Nämlich was die Ukraine vom Zionismus und von Israel lernen könnte und sollte.
- 2016 veröffentlichte das von der EU-Kommission mitfinanzierte Kiewer „Zentrum für sozialökonomische Forschung“ (CASE Ukraine) einen Bericht mit dem Titel „Einige Lehren aus Israel für die Ukraine“. In diesem Papier heißt es einleitend, man solle sich an Israel allein schon deshalb ein Beispiel nehmen, weil das Land in einen langjährigen militärischen Konflikt mit dem Donbass verwickelt sei. Man bewundere die Juden, weil und wie es ihnen gelungen sei, „eine moderne Nation und einen modernen Staat aufzubauen“.
- 2018 veranstaltete die Kiewer Denkfabrik „New Europe Center“, die sich mit der ukrainischen Außen- und Sicherheitspolitik befasst und auch vom deutschen Auswärtigen Amt unterstützt wird, die Konferenz „Die Erfahrung der israelischen Staatsbildung: Lehren für die Ukraine“.
- In der Organisation „Ukrainian Jewish Encounter“ bemühe man sich seit Jahren um die Annäherung von Juden und Ukrainern. Im Beratergremium der Organisation sind so bekannte Historiker vertreten wie Timothy Garton Ash, Timothy Snyder und Omer Bartov. Snyder gelte als der wohl prominenteste gelehrte Fürsprecher des ukrainischen Nationalismus in der westlichen Welt.
Interessant ist aber auch, was in dem „Quantara“-Artikel nicht zur Sprache kommt. Nämlich die heute gern verschwiegene Tatsache, dass rechtsgerichtete ukrainische Nationalisten direkt am Holocaust und an Massakern an der polnischen Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkrieges beteiligt waren. Und dass sie einen ukrainischen Staat proklamierten, der von Juden, Polen und Russen entsprechend der faschistischen Ideologie gesäubert werden müsse.
Was ist also heute mit den ultrarechten und traditionell faschistischen und antisemitischen Kreisen, auf die sich Selenskyi bezieht? Was ist aus ihrem traditionellen Antisemitismus geworden? Offenbar hat hier eine völlige Verkehrung stattgefunden. Heute bewundern die Rechtsextremisten (wie in Deutschland und den USA bekanntlich ebenfalls!) den Judenstaat und stimmen einen Lobgesang auf das rassistische israelische Nationalitätsgesetz an.
In diesem ideologischen Mischmasch spielt der „Führer“ (Prowidnyk) Stepan Bandera eine herausragende Rolle. Er schloss sich schon 1929 der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) an und wurde 1933 zu deren Providnyk gewählt. Die OUN suchte und fand die Verbindung zu den anderen faschistischen Bewegungen in Europa: zu Mussolini, der kroatischen Ustascha und den deutschen Nationalsozialisten.
Während des Maidan-Putsches 2014 in Kiew wurde Bandera zur Identifikationsfigur. Für ihn wurden in der Westukraine als dem Vorkämpfer der Freiheit in den letzten Jahren Denkmäler und Museen errichtet. In der Ost- und Zentralukraine allerdings ist die Erinnerung an die 30er und 40er Jahre noch lebendig, und Bandera wird hier eher als Verräter, Massenmörder und Faschist wahrgenommen. Diesen gegensätzlichen Erinnerungen liegen sowohl die nicht aufgearbeitete Geschichte der Stalin-Zeit, des Holocausts und des Faschismus als auch der seit 2014 andauernde Konflikt mit Russland zugrunde.
Der am 15. Oktober 1959 in München ermordete Stepan Bandera ist offenbar eine komplexe historische Figur. Auf Wikipedia und in dem Essay von Grzegorz Rossolinski-Liebe („Stepan Bandera und die gespaltene Erinnerung an die Gewalt in der Ukraine“) auf Seniora.org kann man viele weitere Informationen und differenzierte Einschätzungen finden.
Sympathien genießt in den rechten Kreisen der Ukraine auch der Anführer der revisionistischen Zionisten Vladimir (Zeev) Jabotinsky. Wie Quantara v. 08.03.2022 berichtete, stammt Jabotinsky aus der Ukraine und sei in jungen Jahren ein glühender ukrainischer Patriot und entschiedener Gegner einer Russifizierung des Landes gewesen. Aus Jabotinskys revisionistischer Bewegung sei später in Israel die Likud-Partei hervorgegangen, deren langjähriger Vorsitzender Netanjahu sich als Ministerpräsident energisch für die Festigung der israelisch-ukrainischen Beziehungen eingesetzt habe.
Der ukrainische Präsident Selenskyi allerdings ist unzufrieden mit der Unterstützung durch die jetzige israelische Regierung. Israel verfolge leider einen Zick-Zack-Kurs. Im UN-Sicherheitsrat habe es nicht für die Resolution gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine gestimmt, sondern sich der Stimme enthalten. In der UN-Vollversammlung habe Israel dann aber für eine Verurteilung Russlands votiert. Der Grund für die vorsichtige Zurückhaltung Israels liege begründet in der teilweisen Zusammenarbeit zwischen Israel und Russland in Syrien.
Der jetzige israelische Premierminister Naftali Bennet hat nun einen in Israel umstrittenen Vermittlungsversuch gestartet. Er ist am 5. März 2022 erst nach Moskau und dann nach Berlin geflogen, hat mit Wladimir Putin und mit Olaf Scholz gesprochen sowie anschließend mit Emmanuel Macron und Joe Biden telefoniert. Wie Richard C. Schneider, der angesehene ehemalige ARD-Korrespondent in Israel, im Spiegel v. 11.03.2022 zu berichten wusste, habe sowohl Putin ein Angebot gemacht als auch Selenskyi mögliche Zugeständnisse angedeutet. „Man wolle neutral bleiben und keine Nato-Mitgliedschaft anstreben, auch mit Blick auf den Status der separatistischen ‚Volksrepubliken‘ von Donezk und Luhansk deutete er Kompromissbereitschaft an.“ Das würde natürlich den russischen Vorstellung schon sehr nahe kommen und ein Verhandlungskompromiss in greifbare Nähe rücken. Aber wie es aussieht, hat der Westen zur Zeit jedenfalls kein Interesse an Kompromissen.
Erschienen auf: http://nahost-forum-bremen.de/?p=11157
Foto: wikimedia commons. Ukrinform TV
Präsident Wolodymyr Selenskytepan
Foto: Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication
Bandera Torchlight procession 2020 in Kiew