Bekannte aus dem Schuldienst berichteten mir schon am ersten Kriegstag besorgt, bereits seit längerer Zeit mit handfesten Auseinandersetzungen zwischen ukrainischen und russischen Kindern konfrontiert zu sein. Aber dass nicht nur in der Bundesrepublik arbeitenden Künstlern und Wissenschaftlern Lippenbekenntnisse abgefordert werden, sondern soetwas – vereinzelt – auch von russisch sprechenden Kindern verlangt wird, obwohl Lehrer zu strikter Neutralität verpflichtet sind, verschlägt mir den Atem. Mittlerweile fanden sogar mehrere Brandanschläge gegen die Internationale Lomonossow-Schule in Berlin statt, die von Kindern aus 20 Nationen besucht wird. Solche Brutalitäten sind als Folge mediale Kriegsrhetorik zu verstehen. Und wenn Tschaikowski aus Konzertprogrammen und Tolstoi aus dem Lesekanon gestrichen werden, offenbart sich, dass hier dumpfer, aus dem Zweiten Weltkrieg und der Adenauer-Zeit ererbter Russenhass explodiert, der auch vor der Annullierung historischer Schuld nicht halt macht. Katrin Lange, Europaministerin in Brandenburg verkündete, dass die Beisetzung sterblicher Überreste von 50 bis 60 sowjetischen Soldaten, die alljährlich noch in diesem Bundesland aufgefunden und auf dem Soldatenfriedhof in Lebus begraben werden, künftig nicht mehr unter Anwesenheit von Angehörigen der russischen Botschaft stattfinden solle: Entweder wüssten diese nicht, «was im Kreml los ist, dann wäre das Zeitverschwendung – oder sie belügen und betrügen uns.» Auch zur Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald 77 Jahren am 12. April wurden keine offiziellen Teilnehmer der Russischen Föderation eingeladen.
Beim Russenhass gibt es graduelle Unterschiede zwischen Ost und West. Zu den ostdeutschen Erfahrungen gehört die Zeit der sowjetischen Besatzung. Wirklich akzeptiert wurde sie von einer Minderheit. Aber jeder bekam mit, dass sich die unter strengem Regime gehaltenen, zwischen 350.000 bis 500.000 ständig stationierten Soldaten auch diszipliniert verhalten konnten. Ob freiwillig oder nicht, man kam in Berührung mit russischer Kultur, was langfristig das Feindbild relativierte: Völlig ohne Zivilisation war der Russe nicht. In Literatur und Film konnte er sogar allgemeinmenschliche Probleme bewegend darstellen. Und trotz Zensur taten sich immer wieder Dissidenten hervor. Der Ostdeutsche lernte, sich mit „dem Russen“ ins Benehmen zu setzen. Man musste ihn nicht lieben, aber zuhören und feststellen, dass auch er Traumata und Ängste hat.
Wer durch die Westalliierten vom Faschismus befreit, rasch entnazifiziert und mit einem Wirtschaftswunder beglückt wurde, das „der Russe“ den Brüdern und Schwestern im Osten vorenthielt, hatte wenig Grund, das überkommene Feindbild zu hinterfragen. In seiner aktualisierten Variante gibt es nur den Unterschied, dass damals die Ukrainer mit eingebunden waren. Nun wird suggeriert, sie seien seit Jahrhunderten dem westlichen Europa verbunden, die Russen aber barbarische Asiaten geblieben. Mit dem angeblich größenwahnsinnigen Wladimir Putin personalisiert die Propaganda die ganze Russische Föderation – und schon erübrigt sich die Frage, ob ihre Sicherheitsbedürfnisse genauso ernst zu nehmen sind wie die der Ukrainer.
Da wird historische Kontinuität suggeriert, die beim Zaren Nikolas II. beginnt, der übrigens mehr westeuropäisches Blut in den Adern hatte als russisches. « Oligarch » Putin gilt auch als Nachfolger der Kommunisten Lenin und Stalin, von denen man nur weiß, dass sie sich ganz Europa untertan machen wollten. In dieser Geschichtsklitterung hat unsere historische Schuldenlast keinen Platz. Und die NATO erscheint den Jüngeren, die nicht einmal Wehrpflicht fürchten müssen, als Papiertiger. So nannte Mao Zedong einmal die Atombombe, um die Sowjetunion zu mehr Konfrontation mit dem Westen zu drängen. Und Wolodymyr Selenskyj behauptet ebenfalls, dass wir Putins Atomraketen nicht fürchten müssen.
Der Russenhass führt sogar zur Schlachtung der heiligsten Kuh der freien Welt: die Unverletzlichkeit des Eigentums. Ob es rechtmäßig erworben wurde, wird in anderen Fällen kaum untersucht. Jetzt wird nicht ohne Hintersinn enteignet: Wenn es russische Oligarchen trifft, kann bei Restlinken gepunktet werden.
Russland wird zurecht vorgeworfen, den Einfluss unabhängiger und ausländischer Medien immer mehr einzuschränken. Mit dem Abschalten von Russia Today taten wir aber dasselbe. Und hiesigen Medien fällt es nicht ein, außer dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnik einmal den russischen Emissär Sergej Netschajew zum Talk zu bitten. Dass in der Bundesrepublik – wie in der Endphase der DDR – nun auch der Sputnik verboten ist, erkennen nur Ältere als bösen Witz. Das gleichnamige Vakzin als gewünschte Alternative bislang Impfunwilliger zu erwähnen, wagte nur der tapfere Jan Böhmermann.
Im landäufigen Sinn ist deutschen Medien das Prädikat „unabhängig“ nicht abzusprechen. Sie arbeiten nicht auf Anordnung „von oben“, sondern frei nach eigenem Gewissen. Welches meist das eines global aufgestellten Großkonzerns wie Springer, Bertelsmann oder Google ist, in deren Natur es liegt, sich auszudehnen. Öffentliche Medien schwimmen in deren philosophischem Schlepptau. Kanzler Scholz vergleichsweise sachliches Wording, wird ihm als politische Feigheit ausgelegt. Ex-Bundeskanzlerin Merkel soll für Versäumnisse in der Russlandpolitik zu Kreuze kriechen. Außenministerin Baerbock, Neuling in der großen Politik, lässt sich von den Medien inspirieren. In Deutschland herrscht Medienfreiheit in tiefsten Sinne des Wortes. Nicht die Politik treibt die Medien an – Es ist umgekehrt.
Das Ende der sowjetischen Besatzung wurde 1994 selbstverständlich mit Erleichterung begrüßt. Dennoch blieben die in das westliche Modell von Wirtschaft, Demokratie und Freiheit gesetzten Hoffnungen erheblich hinter den Erwartungen vieler Völker zurück. Sie wären auch in Deutschland erledigt, sollte sich der unselige Krieg in der Ukraine zum Krieg zwischen Russland und der NATO auswachsen. Oder bereits, wenn wir – wie Alterspräsident Joachim Gauck – orakelte, tatsächlich für unsere Freiheit frieren oder wirklich mal an Öl und Mehl sparen müssten.
Das wieder „auf ewig“ gesetzte Feindbild Russland sollten wir vermeiden, weil der Ukraine-Krieg nicht dauern und ausufern darf. Und weil wir nur in besonnener Partnerschaft mit Russland die Herausforderungen der Klimakrise angehen können. Im Geist von Willy Brandt und Egon Bahr hieße das, den gegenseitigen Interessenausgleich zu suchen: die Anerkennung der Sicherheitsbedürfnisse sowohl der Ukrainer wie der Russen.
Foto: pix-4-2-day from 26.02.2022 on Flickr, CC BY-NC-ND 2.0