Mélenchon, die LFIler und ihr Programm

Foto: The Left from 05.05.2022 on Flickr, CC BY-NC-ND 2.0
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Noch hoffen (und fürchten) manche, dass der linke Jean-Luc Mélenchon, Kandidat des „Aufsässigen Frankreichs“ (LFI) in die zweite Auswahlrunde der Präsidentschaftswahl gelangen könnte: es unterstützen immer weitere Menschen, Prominente, Aktivisten aus Gewerkschaften, Berufsverbänden und NGOs seine Kandidatur. Ihre Gesichter sind in den Medien präsent und in unzähligen Veranstaltungen treten sie gemeinsam mit den nunmehr bekannten Abgeordneten der LFI auf und auch ohne den Hauptkandidaten sind die Säle voll. Andere linke und grüne Formationen scheinen heute endgültig abgeschlagen und unter ihren Wählern werden sich manche finden, die sich für eine sogenannte „nützliche“ Wahl der LFI entscheiden. 

Rechts bleibt Le Pen zu überholen. Die besten Umfragewerte für Mélenchon liegen bei 18%. Die schlechtesten Werte Madame Le Pens liegen bei 21% , es ist also noch nichts entschieden. Präsident Macron wird mit großem Vorsprung auf den/die Zweitplatzierte(n) warten.  2017 war das Niveau der TV-Duelle zwischen Macron und Le Pen derart erbärmlich, dass dies zu Mélenchons Gunsten spielen könnte: mit ihm kann man „dynamischere“ Duelle erwarten, es ginge um die direkte Konfrontation zweier gänzlich unterschiedlicher gesellschaftlicher und damit politischer Modelle. Dies wäre ganz nach französischem Geschmack. Macron ist nicht auf den Mund gefallen und Mélenchon ist berühmt für seinen Humor, für seinen Sarkasmus und seine virtuose bis furiose Rhetorik. Darauf setzen die LFIler auch, wenn sie sagen: „Macron, das ist Neoliberalismus wie bei Le Pen plus Klassenverachtung und Le Pen, das ist Macrons Marktextremismus plus Rassenverachtung“. Erreicht Mélenchon die zweite Runde, geht man selbstbewusst von seinem dann denkbaren Sieg aus.

Aus vielen Gründen ist es falsch, die LFI als „linksextrem“ einzustufen, aber ihre Kritik des neoliberalen Turbokapitalismus, der in der Finanzblase 4000 mal mehr Geldwerte umsetzt als in der realen Wirtschaft, ist messerscharf. Der Kapitalismus wird als Organisator einer Mangelgesellschaft begriffen, Massenarmut, das ist ein Hauptsymptom dieser Mangelwirtschaft: allerdings wird der Mangel allein den ärmeren Schichten aufgebürdet, seien sie national oder international. Frankreich wird als ein von der Bourgeoisie beschlagnahmtes Land betrachtet und Macron als Klassenkämpfer von oben:  als den mit repressiven Gesetzen bewaffneten Arm der Reichen. Letztere sieht man als die eigentlichen Hilfsempfänger der Gesellschaft: „Sie kosten uns zu viel!“. Dass fünf Milliardäre in Frankreich mehr besitzen als 27 Millionen Franzosen, hat sich tief in das Bewusstsein eingeschrieben. Man vergisst nicht, mit welchen Maßnahmen man eher die Arbeitslosen bekämpft hat als die Arbeitslosigkeit, und mit welch unvorstellbarer Brutalität man auf die Gelbwesten eingeschlagen hat. 

In Zeiten, in denen ein Arbeiter drei mal mehr Reichtum produziert als vor 50 Jahren,  steht die Alternative: „Noch mehr arbeiten oder den erwirtschafteten Reichtum gerechter aufteilen?“. Die LFIler setzen nunmehr vor allem auf die sozialen Schwerpunkte ihres Programms, denn die verbliebenen Konkurrenten unterscheiden sich gerade darin von ihnen. Unmittelbar nach seiner derzeit hypothetischen Wahl, plant Mélenchon eine Reihe schneller Maßnahmen umzusetzen:

Die Blockierung des Benzinpreises auf 1,40 €, entsprechend dem Stand vor den spekulativen Erhöhungen ab letzten Herbst. Das soll zu Lasten der Treibstoff-Produzenten und Importeure gehen: kein Steuergeld soll in das Privatvermögen von Aktionären fließen. Privatkunden sollen kostenlos über erste Kubikmeter Gas und erste Stromeinheiten verfügen. Je nach der Höhe des weiteren Verbrauchs soll es dann exponentiell teurer werden. Eine recht lange Reihe von Preisen von Grundnahrungsmitteln, inklusive frischem Obst und Gemüse, soll ebenfalls blockiert werden. Dies ist nach französischem Handelsgesetz per einfachem Dekret möglich, sofern ein entsprechender Notstand vorliegt (bei acht Millionen Menschen, die auf Lebensmittelspenden angewiesen sind und weiteren Millionen, die ebenfalls kaum zurechtkommen, wird dieser Notstand als gegeben angesehen). Letzteres wird zu Lasten der Profite des Großhandels und der großen Supermärkte und nicht zu Lasten der bäuerlichen Produzenten gehen. Der LFI-Präsident wird die Festsetzung des Mindestlohnes auf 1.400,00 € netto verfügen. Erhöhungen weiterer Löhne bleiben den Verhandlungen der Sozialpartner vorbehalten. Eine Ausgleichskasse ist vorgesehen, in die alle Unternehmen einen Pflichtbeitrag einzuzahlen hätten, um bei Bedarf Lohnerhöhungen in kleinen und mittleren Betriebe aufzufangen. 

Die Mindestrente wird dem Mindestlohn angeglichen. Geringere Renten wegen kürzerer Beitragsdauer dürfen nicht unter die Armutsgrenze von 1.063,00€ fallen. Erbschaften sollen auf die Summe von maximal 12 Millionen Euro begrenzt werden, die so eingenommene Erbschaftssteuer wird an alle Studierenden und Auszubildenden in Form eines Autonomie-Stipendiums in Höhe von 1.063,00€ , weiter gegeben. Dies ist ein kleiner Auszug aus dem LFI-Programm, das insgesamt fast 700 Maßnahmen vorsieht. 

Eine große Dringlichkeit misst man der Friedensfrage bei.  Mélenchon gedenkt zwei außenpolitische Initiativen zu ergreifen: die sofortige Einberufung einer OSZE-Konferenz über strittige Grenzfragen (auch um damit nicht der NATO allein das Feld der Konflikt-Steuerung in Europa zu überlassen) und die Bereitstellung von Blauhelmen zum Schutz der ukrainischen AKWs. 

Heute heißt es mit mehreren Katastrophen zugleich umzugehen: Pandemien,  soziale und ökologische Verwüstung, Klimawandel, Kriege. Das zwingt Alle zu einer gründlichen Revision der Gesellschaften. Die Leitlinie der LFI fordert die Harmonie zwischen den Menschen und mit der Natur. Staatlich dirigistisch soll das nicht werden, es soll horizontal vorgegangen werden. Der unerlässliche ökologische Umbau wird planvoll in alle Lebens- und Arbeitsbereichen eingreifen, sei es durch Re-Industrialisierung und Re-Lokalisierung, sei es durch eine Erhöhung des Wachstums in einigen Bereichen und Wachstumsreduktion in anderen Bereichen und vieles andere mehr. Dieser umfassende Prozess wird mit protektionistischen Maßnahmen zu schützen sein und dies wird innereuropäische Konflikte generieren: so kündigt man bereits im Vorfeld etliche französische „Opt-outs“ an.

Die Finanzierung des Gesamtprogramms ist von einem großen Team von Wirtschaftswissenschaftlern errechnet und bestätigt worden. 

Dieser Finanzierungsplan wurde über drei Stunden detailliert der Öffentlichkeit bekannt gegeben und einem Stress-Test durch unabhängige Wirtschaftsjournalisten unterzogen.

Die LFI setzt auf die nach wie vor starke, linke Grundströmung in der französischen Gesellschaft und hat darauf eine der Gegenwart angemessene Programmatik aufgebaut. Manchmal trifft man auf Menschen, die sich selbst durchaus nicht als links bezeichnen würden und doch geben sie vieles in Gesprächen ein, das eindeutig links zu verorten ist. Bei diesem niemals endenden Kampf bleibt die Eroberung der kulturellen Hegemonie die wichtigste Voraussetzung für einen resilienten und damit dauerhaften Erfolg. Und das bedeutet Bildungsarbeit, Bildungsarbeit, Bildungsarbeit. Dazu zwingt schon allein die Analyse der meisten gescheiterten linken Projekte, die auf die Führung einer Avantgarde setzten, die im Verlauf der Ereignisse zwangsläufig der Verbindungen zu den wenn nicht verachteten, so doch missachteten „Massen“ verlustig gehen musste. Daraus folgt auch, dass die angestrebte zivilgesellschaftliche Revolution darauf angewiesen ist, von einer Mehrheit verstanden und getragen zu werden, und dass die großen Differenzen immer wieder neu mit demokratischem Mehrheitswahlrecht auszutragen wären. Nur so könnte Revolution gelingen, so wie die LFI sie versteht: wenn man sie eben nicht als gewalttätigen Umsturz begreift, sondern als ein in der Zeit gedehnter Prozess einer systemischen und systematischen Umgestaltung einer Gesellschaft (was die Gefahren opportunistischer Zielverluste mit sich bringt). Der Begriff Reform fasst das nicht, denn Reform bedeutet ja nur eine Veränderung innerhalb eines Systems. Die Zeit als so oft vernachlässigtes Element zu erwähnen, das erinnert an eine alte Geschichte von einem Indianer, der vor der Autobahn von einem rasenden Autofahrer mitgenommen wird. Nach einer Weile bittet der Fahrgast  einen Moment aussteigen zu dürfen. Als er gefragt wird, antwortet er:„Meine Seele muss nachkommen können, dann erst sollten wir weiterfahren“. 

Mélenchon stellt die Inkraftsetzung einer neuen Verfassung ins Zentrum seiner Politik, es ist eines der Kernstücke seiner Kampagne. Es geht um eine neu aufgestellte, demokratischer fundierte 6. Republik. Damit soll vor allem Schluss sein mit der präsidialen Monarchie. Gerade in Zeiten eines Macht-Zuwachses rechtsextremer Strömungen, ist die Vorstellung höchst beängstigend, die Republik fiele in die Hände kreuz-gefährlicher Personen, die dann im Rechtsrahmen der jetzigen Verfassung zu einer unangreifbaren, allmächtigen Präsidentschaft durchaus berechtigt sein würden. Um dem grundsätzlich entgegen zu treten, schlägt die LFI die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung vor, die zu einer  runderneuerten, demokratischeren Republik führen soll,  auf der Basis einer Machtbalance gegenseitiger Kontrolle. Die dafür gewählten Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung allerdings, sollen keine politischen Ämter jemals vorher inne gehabt haben, noch nachher jemals ein solches Mandat annehmen. Zweidrittel von ihnen sollen per Los gezogen werden. Alle Franzosen und Französinnen könnten einzeln oder kollektiv, Vorschläge für die Verfassung einreichen und unterbreiten. Der erarbeitete Verfassungsentwurf wird einem Volksentscheid unterzogen. Daher sagt man heute in der LFI nicht allzu viel über die Inhalte dieser neuen Verfassung, sollen diese doch in aller Freiheit im Kreis der dafür gewählten Vertreter der „Constituante“ entwickelt werden. Allerdings will man für eigene „Essentials“ im Rahmen der Versammlung argumentieren und kämpfen. Dazu gehört einiges, dass sie allerdings manchmal mit andere Formationen teilen: so das Referendum staatsbürgerlicher Initiativen (RIC), das die Eingabe von Gesetzesvorschlägen direkt aus der Bevölkerung heraus vorsieht. Man vertritt ein weiteres Referendum, das erlauben würde, alle gewählten Volksvertreter - vom Bürgermeister bis zum Präsidenten , zur Halbzeit ihres Mandats wegen Nichteinhaltung ihrer Wahlversprechen abzuwählen, vorausgesetzt genügend ihrer Wähler und Wählerinnen entschlössen sich dazu, ein solches Referendum zu organisieren und es dann auch mehrheitlich durchzusetzen. Fast amüsant ist es, dass Mélenchons häufige Deutschland-Kritik, ihn nicht daran hindert, etliche Elemente der deutschen Verfassung zu loben und auch in Erinnerung zu rufen, dass viele Antifaschisten an ihrer Formulierung gearbeitet haben. 

Blieben derartig grundsätzliche Debatten aber abgelöst vom realen und konkreten Leben der Menschen, so verharrte dies alles in des „Gedankens Blässe“. Die LFIler hat man inmitten aller Kämpfe gesehen: bei den Gelbwesten, den Streikenden, bei Entlassungen und Werkschließungen, Bauern-, Jugend- und Umweltaktionen,  Kämpfen in ländlichen und in Übersee-Gebieten, in verlassenen Gegenden und Banlieues. Man hat die Redeschlachten, die sie im Parlament geliefert haben, ebenso verfolgen können, wie ihre Medienauftritte, die mit zum Teil extrem harten journalistischen Bandagen ausgetragen wurden. 

Überdurchschnittlich viele Frauen sind in der LFI aktiv. Einer ihrer Slogans ist: „Befreie mich nicht, ich kümmere mich selbst drum!“ und genau das tun sie vielfach. Im Parlament sorgen sie dafür, dass dort von „Frauendingen“ gesprochen wird. Die Parlaments-Fraktion war trotz ihrer deutlichen Minderzahl erfolgreich mit ihrer feministischen Gesetzes-Initiativen, die Endometriose als Langzeit-Krankheit anzuerkennen (die Endometriose hält ja bis zur Menopause an und ist damit tatsächlich eine stark behindernde Langzeiterkrankung). Mit besonderem Vergnügen nehme ich zur Kenntnis, dass auch LFI-Männer im Hohen Hause mit größter Selbstverständlichkeit von einem Umsatzsteuernachlass für Binden und Tampons sprechen. Das verblüfft sowieso bei den LFI-Männern, dass sie sich ohne Zögern und kenntnisreich als Feministen outen. Es werden viele andere Frauen-zentrierte Themen nicht vergessen: darunter die Notwendigkeit einer umfassenden Fortbildungs-Initiative innerhalb der Polizei für die Bereiche der sexuellen und sexistischen Gewalttaten, oder die Forderung drastischer Maßnahmen, um in der Frage der Lohngleichheit für Frauen weiter zu kommen, Maßnahmen die mit der Auszahlung einer zusätzlichen monatlichen Pflichtprämie für alle weiblichen Arbeitnehmer beginnen sollen. 

Die Person Mélenchon scheint gereift und allemal gelassener zu sein. Sein früherer, taktischer (und medien-theoretisch fundierter) „Furor“ hat seinen Sinn erfüllt, indem er ihn in die Medien brachte, diesem wichtigsten Einfallstor in das politische Denken heutiger Menschen. Im Bedarfsfall ist er aber immer noch ein lautstarker, eindrucksvoller Tribun. Vor allem aber ist er ein Lehrer, davon überzeugt dass Bildung wesentlich und unverzichtbar zur Konstruktion der menschlichen Person beiträgt. Seine Wahlkampfreden gleichen einer Abfolge von Seminaren. Er hat Literatur und Philosophie studiert und er verlässt keines seiner Meetings ohne ein Gedicht oder ein Stück Literatur gelesen zu haben. 

Egal wie die Wahl ausgeht: zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts haben Mélenchon und seine Leute in der zweiten Nation Europas eine starke Linke aufgebaut.

 

Foto: The Left from 05.05.2022 on Flickr, CC BY-NC-ND 2.0

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