NATO-Beitritt von Finnland und Schweden: Verhängnisvolle Kettenreaktion möglich

Ausgerechnet die PKK könnte nun die Ursache dafür sein, dass dem Aufnahmeantrag Schwedens und Finnlands in die Nato die nötige Einstimmigkeit versagt bleibt – oder die Entscheidung über diesen zumindest verzögert wird. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan will sein Einverständnis verweigern. Grund: Beide Länder seien zum „Gästehaus für Terrororganisationen“ geworden, das heißt zum Zufluchtsort für Mitglieder der PKK, die Erdoğan im eigenen Land, in Syrien und im Irak energisch bekämpfen lässt.

Erst Mitte April eröffnete seine Armee eine Boden-Luft-Offensive auf Verbände der PKK in den nordirakischen Regionen Metina, Zap und Awaschin-Basjan. Im Unterschied zu Deutschland und anderen EU-Ländern haben Schweden und Finnland die PKK nicht als terroristische Vereinigung verboten.

Verstärkte Reisediplomatie, die Regierungsvertreter der EU und der USA gegenwärtig in Länder betreiben, deren Führungen sich – wie im Falle Indiens und Brasiliens – bislang nicht vom Neutralitätskurs im Ukraine-Krieg abbringen ließen, würde ihn nicht zum Umschwenken bewegen, versichert Erdoğan. Ob man ihm dies abkaufen kann, sei dahingestellt. Denn die Türkei sieht ihren Einfluss sowohl im Mittleren Osten als auch im turksprachigen Asien in starker Abhängigkeit von seinen Beziehungen zu Moskau. Deshalb strebt sie eine Vermittlerrolle im Ukraine-Krieg an.

Im Ernstfall haben sich Finnland und Schweden stets gegen Russland entschieden

Dass Schweden und Finnland sich seit dem Angriff Russlands bedroht fühlen und unter das Dach der Nato streben, ist keine wirkliche Überraschung. Ein enges Zusammenwirken besteht seit Langem. Schließlich genießen beide Länder durch die 2009 im Vertrag von Lissabon vereinbarte Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) bereits Beistandsschutz der anderen EU-Mitglieder. Da diese auch Nato-Länder sind, könnte das jetzt schon eine verhängnisvolle Kettenreaktion auslösen, wie sie auch infolge eines EU-Beitritts der Ukraine möglich wäre.

Hinsichtlich ihrer militärischen Ausrüstung und bereits erfolgter Kooperationserfahrungen sind beide Beitrittskandidaten bestens auf die Nato-Mitgliedschaft vorbereitet: Sie sind unter anderem Teilnehmer der European Union Training Mission (EUTM) in Mali. Vor allem aber gehörten sie zu den International Security Assistance Forces (ISAF) in Afghanistan, die seit 2003 unter Nato-Oberbefehl standen.

So segensreich die Neutralität Schwedens und Finnlands im Kalten Krieg war – im Ernstfall haben sich beide Staaten stets gegen Russland entschieden. Schweden lieferte Deutschland bis fast zum Ende des Zweiten Weltkriegs sein wertvolles Eisenerz. Finnland musste sein Bündnis mit Hitler bitter bezahlen: unter anderem mit der heute wenig bekannten, im Winterkrieg 1939/40 erfolgten Bombardierung Helsinkis durch die noch schwache und sonst nirgendwo eingesetzte sowjetischen Luftwaffe sowie mit dem Verlust großer Teile Kareliens.

Dafür beteiligte sich Finnland an Seiten der Wehrmacht unter anderem an der Hungerblockade Leningrads, heute Petersburg. Auch wenn ähnliche Szenarien sich nicht sofort wiederholen sollten, wird wohl der schon zu Zeiten der Sowjetunion bestehende kleine Grenzverkehr zwischen beiden Ländern Geschichte sein: tragisch für viele, besonders in beiden Teilen Kareliens bestehende Verwandtschaftsbeziehungen. Ein Abbruch der Handelsbeziehungen kann die finnische Wirtschaft ähnlich schädigen wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Im Original erschienen im "der Freitag" Ausgabe 20/2022

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