Die Westsahara

Bild: Treffen der Polisario zum 30. Jahrestag der Befreiung westsaharischer Territorien. Foto: Jaysen Naidoo/Flickr (https://flic.kr/p/aQF6R), Lizenz: cc-by-sa 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)

 

Im Einklang mit dem Internationalen Gerichtshof und den Statuten der EU betrachtet der Europäische Gerichtshof seit 1975 – und zuletzt im November 2021 – den völkerrechtlichen Status der Westsahra als von Marokko getrenntes „Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung“. Deshalb konnte die Europäische Union Donald Trumps Anerkennung der marokkanischen Annexion der Westsahara nicht folgen. Das erzürnte Marokko dermaßen, dass es im März 2021 die diplomatischen Beziehungen zu mehreren europäischen Ländern einfror, darunter auch die zur Bundesrepublik. Die Presseerklärung über eine Korrespondenz zwischen Bundespräsident Frank Walter Steinmeier und König Mohamed VI. im Januar bestätigte jedoch „das große beiderseitige Interesse an engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern“ und den beiderseitigen Willen, „Missverständnisse zu überwinden“. Deutlicher äußerte sich Mitte März Spaniens sozialistischer Premier Pedro Sanchez, der die marokkanische Position, die Westsahara als autonome Region in das Königreich einzugliedern als „ernstzunehmendste, realistischste und glaubwürdigste Basis“ für die Lösung des Konflikts bezeichnete. Sofort kam es in Madrid zu Gegendemonstrationen mehrerer tausend Menschen, da in Spanien, der ehemaligen Kolonialmacht, viele Sahrauis leben. Sanchez` Vorstoß fand weder Unterstützung bei seiner noch bei anderen Parteien. Aber er war ein Zeichen, dass die EU die marokkanische Annexion der Westsahara – ähnlich wie die Besiedlung palästinensischer Terroritorien durch Israel – zwar nicht offiziell, aber faktisch anerkennt. Der erneute Austausch von Botschaftern verdeutlicht, dass diesbezügliche „Missverständnisse“ aus dem Weg geräumt sind. 

 

Nadjat Hamdi, die Vertreterin der sahrauischen Befreiungsfront, Frente Polisario in Deutschland, sagte, dass die Autonomie für die Sahrauis durchaus eine Option sei – allerdings nur, wenn sie selbst Gelegenheit bekämen, darüber abzustimmen und mehrere Optionen zur Wahl stünden. Marokko beharrt jedoch darauf, die mittlerweile in der Westsahara angesiedelten Marokkaner mit abstimmen zu lassen. Das widerspricht Beschlüssen der UNO, die sich – vor allem wegen langjährigen Drucks aus den USA – als unfähig erwies, sie durchzusetzen. 

Für die USA stellt Marokko eine wichtige Militärbasis dar. Ihre Bedeutung hat noch zugenommen, seit die europäischen Militärmissionen im benachbarten Sahel scheiterten und dort russischer Einfluss wächst. Im Juni 2021 luden die USA und Marokko 7800 Soldaten aus neun Ländern zum  Militärmanöver African Lion ein, das größtenteils in der Westsahara stattfand.      

Marokkaner, die sich in den besetzten Gebieten niederlassen, zahlen weder Mehrwert- noch Einkommenssteuer. Welche enorme wirtschaftliche Bedeutung die Ausbeutung der westsaharischen Ressourcen mittlerweile sowohl für Marokko als für die EU hat, belegt ein 2021 beim Verlag regiospectra erschienener Konferenzband ´Westsahara: Afrikas letzte Kolonie`. Europäische Firmen sind in hohem Maßstab am Ausbau der zivilen und wirtschaftlichen Infrastruktur der besetzten Gebiete beteiligt. Dabei geht es nicht mehr nur um Phosphat und Agrarprodukte, sondern auch um etliche andere Ressourcen, z. B. um die Entwicklung der enormen westsaharischen Potentiale an Sonnenenergie, wo Siemens stark engagiert ist. Für den Bau der Siedlungen und die das besetzte Gebiet eingrenzende 2700 km lange Mauer, liefert eine Heidelberger Firma Zement. Im Zuge eines 2017 ausgehandelten Fischereiabkommens überweist die EU jährlich ca, 148 Millionen Euro an die Allgemeine Schatzkammer des Königreichs. Ungeachtet der klaren Position des EUGH, wonach  Vertreter der westsaharische Bevölkerung allein berechtigt sind, Handelsverträge mit der EU abzuschließen, beziehen deren Verträge mit Marokko aber die Produkte ein, die in der Westsahara und ihren Gewässern erzeugt wurden.  

Außerhalb der EU haben Gerichtsurteile echte Erfolge für die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) erbracht. In Südafrika gelang es ihr 2017 als Klägerin, die Konfiszierung eines Schiffs durchzusetzen, das Phosphat nach Neuseeland transportierte. Einen Teilerfolg erreichte die DARS mit der Anfechtung „ethischer Investitionen“ eines neuseeländischen Pensionsfonds 2019-2021 in der Westsahara, der zwar nicht aufgelöst, dem aber bescheinigt wurde, dass die Weiterführung des Fonds seinem Ansehen schaden werde. In Großbritannien erreichten Unterstützer-NGOs bereits in zwei Verfahren, dass Produkte aus der Westsahara nicht wie Produkte aus Marokko verzollt werden dürfen. 

Mehrere Beiträge im Westsahara-Konferenzband konstatieren, dass sich die DARS mit solchen, die illegale Handelspolitik Marokkos betreffenden Prozessen, aber auch mit in Spanien erfolgreich geführten Verfahren wegen Menschenrechtsverbrechen marokkanischer Ordnungskräfte gegen Sahrauis neue Möglichkeiten bieten, die Westsahara-Frage auf der internationalen Agenda zu halten. Da die Anrufung des Völkerrechts durch Russlands Ukraine-Feldzug in Europa künftig  schwieriger wird, kommt es nun darauf an, dass es in anderen Teilen der Welt um so energischer verteidigt wird.    

Weil man jedoch auch in Europa nicht gänzlich von den EUGH-Urteilen absehen kann, werden in mit dem Königreich geschlossene Handelsverträge neuerdings Formulierungen aufgenommen, wonach sie nicht nur dem marokkanischen Staat, sondern auch der ansässigen Bevölkerung zugute kommen müssen. Der Konferenzband belegt, dass davon nur die in den besetzten Gebieten lebenden Siedler profitieren. Die dort lebenden Sahrauis sind arm und unterprivilegiert. Aber trotz brutaler Unterdrückung haben sie beeindruckenden Strukturen gewaltlosen zivilen Widerstands entwickelt.  

Durch das über Spanien mögliche Reisen und digitale Kommunikation bestehen heute stabile Verbindungen zwischen den Sahrauis in Marokko und denen, die seit 1975 in der algerischen Sahara leben. Hier war es möglich, eigene Verwaltungsstrukturen aufzubauen, die die Basis für den künftigen Staat darstellen. Anders als allgemein angenommen, hängen diese Sahrauis wirtschaftlich nicht nur von Algerien und zahlreichen internationalen NGOs ab, sondern haben – nicht zuletzt durch Investitionen ihrer in Spanien lebenden Landsleute – auch eigene Geschäftszweige entwickelt. In der Corona-Krise blieben viele Hilfslieferungen aus, weshalb die Selbstorganisation der Lager sowohl für die medizinische Versorgung als auch für die Verteilung knapper Nahrungsmittel eine wichtige Rolle spielte.  

Dass Marokko 2021 wieder verstärkt den algerischen Nachbarn provoziert und im November den seit 1991 mit der POLISARIO abgeschlossenen Waffenstillstand brach, hängt sicher mit den geopolitischen Veränderungen im Sahel zusammen. Angesichts wenig attraktiver Zukunftsaussichten zeigte sich allerdings auch die in den algerischen Lagern geborene sahrauische Jugend rasch bereit, ebenfalls zu den Waffen zu greifen. Seitdem findet ein Krieg niederer Intensität statt. Aber er kann sich schnell zu einem größeren Konflikt zwischen Marokko und Algerien auswachsen.      

Westsahara : Afrikas letzte Kolonie hrsg. v. Judit Tavakoli, Manfred O. Hinz, Werner Ruf und Leonie Gaiser, regiospectra Verlag, Berlin 1921

*Die Rezension erschien unter dem Titel Afrikas letzte Kolonie. Die EU neigt dazu, die Annexion durch Marokko anzuerkennen. In: Der Freitag no. 17 v. 28. 4. 2022, S. 9.