24. Juni 2022: Walther Rathenau vor 100 Jahren ermordet.

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Der liberale jüdische Industrielle und Politiker Walther Rathenau hatte als deutscher Außenminister 1922 den Vertrag von Rapallo verhandelt, mit dem die Weimarer Republik als erster westlicher Staat die Sowjetunion anerkannte, um eine Ära der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu eröffnen. Beschlossen wurde außerdem, gegenseitig auf Reparationen zu verzichten. Als Jude, der mit dem Bolschewismus Verträge schloss, wurde Rathenau zum Angriffsziel der extremen deutschen Rechten. Am 24. Juni 2022 wurde er im Auftrag der Organisation Consul erschossen. Eine Million Menschen folgten dem Trauerzug.
Anstelle der geplanten weit gesteckten wirtschaftlichen Zusammenarbeit kam es nur zu zweifelhaften militärischen Kooperationen, womit sich das durch den Versailler Vertrag gedemütigte deutsche Heer geheime Trainingsmöglichkeiten sicherte.
Walther Rathenaus Geist scheint im Berliner Walther Rathenau-Gymnasium lebendig geblieben zu sein – was was ein Hauptsache Frieden betitelter Artikel  von Jan Rübel in der Zeit vom 21. April 2022 dankenswerter Weise wiedergab. An Stellwänden können die Schüler ihre Emotionen kundtun. „Beendet überall den Krieg !“ „Haltet durch“ und „Nicht alle Russen wollen Krieg“, „Krieg ist blöd“. Und immer wieder „Pray for Ukraine“. 
Umgetrieben von der Sorge, dass sich in ihrer Schule Ukrainer und Russen „verbal an die Gurgel gehen“ könnten – was in anderen Schulen durchaus geschehen ist – lud Rektorin Solveig Knobelsdorf die Osteuropexpertinnen Corinna Kuhr-Korolev und Kateryna Chernii vom Leibnitz-Zentrum für zeithistorische Forschung ein, um mit Abiturienten über den Krieg in der Ukraine zu sprechen. Nachdem die beiden Wissenschaftlerinnen eine historische Einführung über den Zusammenbruch der Sowjetunion und die selbständig gewordenen Republiken gegeben hatten, warfen die Schüler erstaunliche Fragen auf, die ihnen unter den Nägeln brannten. 
Wieso Abkömmlinge von Russen und Ukrainern und Mädchen generell zögerten, das Wort zu ergreifen, ist unklar. Hinsichtlich der Russen vermutet die Rektorin, dass sie „zwischen der Propaganda im russischen Staatsfernsehen“ und „all dem, was draußen auf sie eindringt“ hin- und hergerissen seien. Immerhin äußerte eine Syrerin, dass ukrainische Flüchtlinge besser behandelt würden als ihre Landsleute im Jahr 2015.
Vor allem Schüler mit deutschem Hintergrund wagten sich vor. Gefragt wurde, „ob das nun der dritte Weltkrieg“ sei und: „Ist das auch ein Krieg zwischen Russland und den USA?“ Frau Kuhr-Korelev konterte : „Zuerst ist anzuerkennen, dass es ein Krieg gegen ukrainische Truppen und gegen die Bevölkerung ist.“ Und : „Russland will seine ehemalige Stellung wiederhaben, auch gegenüber Amerika.“
Auf die Frage „Schaden die Sanktionen nicht eher uns ?“ kam die Antwort, dass Russland schon jetzt sehr darunter leide. Und – wenig beruhigend für die Schüler: „Es wird in Deutschland eine Kostenexplosion geben. Aber ich bin der Meinung, dass wir diesen Preis bezahlen müssen – auf die Erpressungspolitik des Kremls sollten wir uns nicht einlassen.“
Die Teenager wollten auch wissen, « was passieren würde, sollte Russland den Krieg gewinnen?“ Gäbe es keine Wege, ihn friedlich zu beenden? Welche Rolle spiele China? Und  „Länder wie Amerika haben auch Kriege begonnen und dafür keine Sanktionen erhalten. Warum nicht ?“ Darauf kann Frau Kuhr-Korelev nur seufzen: „Offenbar funktioniert die globale Sicherheitsarchitektur nicht gut. Da geht nicht immer alles gerecht zu.“ Schließlich gibt sie zu, dass sie „als Osteuropahistorikerin überfragt“ sei. Ein Eingeständnis, dass die eigene Wissenschaft nicht mehr als einen Tunnelblick bietet. 
Ein Schüler wirft ein: „Die Sanktionen sind doch gegen unsere Sicherheit, weil Putin Konsequenzen angedroht hat.“
Der für den Artikel zeichnende Journalist beobachtete einen mit „jeder Minute“ wachsenden „Abstand zwischen den Jugendlichen und den beiden Expertinnen“. Ein Schüler wagte sogar, die Idee eines raschen Kriegsendes durch Nachgeben der Kiewer Regierung in Erwägung zu ziehen: „Warum stimmt die Ukraine nicht einfach zu und gibt das Land im Osten ab?“ Kateryna Chernii, die um ukrainische Verwandte bangen muss, kann nur nervös antworten: „Solchen Regimen wie Russland reicht es nie. Wenn wir jetzt nachgeben, wollen sie immer mehr.“ Der Schüler hakt jedoch nach: „Aber besser, als Menschen sterben zu lassen.“
Weil die Diskussion zu entgleisen droht, versucht Frau Chernii, die Emotionen der Schüler mit dem Zitat der ersten Zeile der ukrainischen Nationalhymne zu wecken: « Noch sind wir nicht gestorben ». Dann behauptet sie, Russland sei immer der Aggressor gewesen, gegen den jetzt antifaschistischer Widerstand mobilisiert werden müsse: Wenn sich hierzulande Nazis „an die Macht putschen würden, würden dann viele Deutsche sich damit abfinden und nichts unternehmen? »
Später ziehen die beiden Expertinnen bei der Rektorin eine ernüchterte Abschlussbilanz. Frau Chernii kam sich manchmal vor „wie in einer russischen Klasse“. Und auch sie beharrt darauf, dass der Krieg in ihrer Heimat nicht im Zusammenhang mit geopolitischen Konstellationen beurteilt werden dürfe: „Was können wir für all die Verbrechen, die auf der Welt begangen werden.“
Frau Kuhr-Korelev, die einen russischen Ehemann und lange in Russland gelebt hat, zeigte mehr Verständnis für die Schüler, denn in der Gesellschaft wäre die Ansicht verbreitet, dass sich „Russland von der NATO bedroht“ fühle. Außerdem gäbe es „eine grundsätzliche Abneigung gegenüber den USA“.
Dass Rektorin Knobelsdorf die Meinungsfreiheit der Schüler mit dem Argument verteidigte, hier wirke ein „Erbe der Friedensbewegung“ nach, ist eine Haltung, die nicht an allen deutschen Schulen herrscht und deshalb lebhaft zu begrüßen ist.
Leider sagte der Artikel in der Zeit kein Wort über Walther Rathenau und die Hintergründe seiner Ermordung. Ernst von Salomon, ein an den Mordvorbereitungen wesentlich beteiligter Aktivist der Organisation Consul hat später bestätigt, dass Antisemitismus nicht das Hauptmotiv des Attentats war, sondern die sich nach Sowjetrussland ausrichtende Politik der Regierung Joseph Wirths.
Nicht nur hier, sondern im Mediendjungel überhaupt, bleibt auch unerwähnt, dass in den zwei Jahren vor dem Rapallo-Vertrag Marschall Jósef Piłsudski im polnisch-sowjetischen Krieg das heutige Gebiet der Westukraine eroberte. Es gehörte zwar einst zur polnisch-litauischen Adelsrepublik, war aber nach dem 1. Weltkrieg Sowjetrussland zugesprochen worden (siehe:  https://de.wikipedia.org/wiki/Curzon-Linie), weil die große Bevölkerungsmehrheit dort nicht aus Polen, sondern aus Ukrainern bestand. Analog zum ´Frieden von Brest-Litowsk` verzichtete die Sowjetunion im ´Frieden von Riga` 1921 auf das Gebiet.
Im Zwischenkriegspolen waren die Ukrainer eine stark unterdrückte Bevölkerungsgruppe, der – anders als Deutschen und Juden – keine kulturellen Minderheitenrechte zugestanden wurden und die in bitterer Armut lebte. Deshalb entwickelte sich dort bereits die auch mit terroristischen Mitteln arbeitende Unabhängigkeitsbewegung des Stepan Bandera. Weil er an der Ermordung des polnischen Außenministers Pieracki beteiligt war, saß er seit 1934 im Gefängnis. Die 1939 einmarschierende Wehrmacht befreite Bandera, um ihn für den antibolschewistischen Kampf zu konditionieren.                     
Im ´Deutsch-sowjetischen Freundschaftsvertrag` von 1939 hatte Stalin die Westukraine als Einflusszone gesichert und besetzte sie zwei Wochen nach dem Einfall der Wehrmacht in Polen. Mit wenigen Abweichungen stellt die 1919 in internationaler Übereinkunft ausgehandelte Curzon-Linie  seitdem die anerkannte Westgrenze der Ukraine, Weißrusslands und Litauens dar.   
Möge der Meinungsstreit an der Walther-Rathenau-Schule weiter gewaltfrei vor sich zu gehen. 

*Der Artikel erschien in kürzerer Form unter dem Titel Kindermund tut Wahrheit kund in Ossietzky v. 14. 5. 2022.