Protestwelle im Iran

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Schon seit fast zwei Wochen kommt es im Iran wieder zu gewaltigen Massendemonstrationen. Auslöser war der Tod der zweiundzwanzigjährigen Mahsa Amini am 16. September. Wegen lässlichem Tragen des allen Frauen staatlich verordneten Schleiers war die junge Kurdin drei Tage zuvor von der Teheraner Sittenpolizei der Revolutionsgarden festgenommen und so stark misshandelt worden, dass sie ihre schweren Kopfverletzungen nicht überlebte. Der Widerstand gegen die islamistischen Beschränkungen der individuellen Freiheiten, die sich ganz besonders gegen eine umfassende Emanzipation der Frauen richtet, ist nicht neu, sondern existierte von Anbeginn der Mullah-Herrschaft. Die Regierung hat eine Untersuchung der Umstände versprochen, die zum Tod von Mahsa Amini geführt haben. Aber längst erschöpfen sich die Proteste nicht mehr nur in von jungen Frauen iniziierten öffentlichen Schleierverbrennungen, denen junge Männer applaudieren. In den Demonstrationen entlädt sich auch die schon lange schwelende Unzufriedenheit über die für viele Iraner äußerst schwierigen Lebensbedingungen. Unter dem Druck starker Inflation leben nicht nur die Unter-, sondern auch Teile der Mittelschichten in Armut. Wegen umfassender Sanktionen macht sich sogar Frustration unter den Begüterten breit, die auf Importe westlicher Waren verzichten müssen. 

Diese Zustände sind nicht nur der archaischen Herrschaftsideologie der Mullahs geschuldet oder auch der von ihnen favorisierten neoliberalen Wirtschaftspolitik. Nicht Unrecht hat jener Teil der Protestierenden, der dafür auch die kostspielige politische Rolle verantwortlich macht, die der Iran in zahlreichen Konfliktherden des Mittleren Ostens spielt: im Libanon, in Syrien, im Jemen – um nur die wichtigsten zu nennen. So schwer die Iraner unter diesem Engagement stöhnen, eine Mehrheit wäre wohl nicht bereit, es aufzugeben. Was man für paradox halten kann, hat der Westen selbst verursacht: Zu tief verankert sind die Erfahrungen von imperialistischer Ausbeutung, Einmischung und Boykotten, die dieses Land in seiner Geschichte machte und immer noch macht.     

Die Proteste haben sich inzwischen auf alle Landesteile ausgeweitet und bereits Dutzende Todesopfer sowohl auf Seiten der Demonstranten als auch bei den Sicherheitskräften gefordert. Ob sie – wie westliche Medien zu hoffen scheinen – das Regime zu Fall bringen, ist eher nicht anzunehmen. Von ähnlichen, sich über Wochen hinziehenden Protestwellen ist der Iran schon mehrfach erschüttert worden. Wahrscheinlicher ist eine Rückkehr zu dem tristen Ausnahmezustand, der für das Land seit Jahrzehnten Normalität bedeutet. Das mutet zwar pessimistisch an, aber die  iranische Gesellschaft beweist gerade durch ihre starken Protestbewegungen ihre Fähigkeit, dass sie auch eine ausgewogenere Moderne gestalten könnte. Es war Jamal Kaschoggi, der 2018 auf Befehl seines Königshauses ermordete saudische Journalist, der in einem Artikel für die Washington Post zu damals im Iran stattfindenden Massendemonstrationen feststellte, seine Landsleute wären froh, wenn sie es wagen könnten, überhaupt Protestkultur zu entwickeln. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerechnet bei Kronprinz Mohamed Bin Salman um Gaslieferungen nachsuchte, die zunächst nur in kleinen Mengen zur Verfügung stehen, sollte uns in Erinnerung rufen, dass auch der Iran Gas liefern könnte, würden wir ihn nicht boykottieren. 


Dieser Kommentar erschien unter dem Titel "Es lebe Mahsa Amini!" Die Demos zeigen: Der Iran könnte ein modernes Land sein in Der Freitag v. 29. 9. 2022, S. 1.