Am 13. Juli 2024 hat die Palästinensische Gemeinde in Bremen und Umgebung die 43. "Free-Gaza! Free Palestine!"-Demonstration, wieder mit großer Beteiligung, organisiert. In seiner Rede ging Prof. Dr. Sönke Hundt vom Bremer Friedensforum auf ein besonderes Thema ein: dem Vorwurf des "cultural genocide", des kulturellen Völkermords in Gaza.
Der Redetext von Prof. Dr. Sönke Hundt hier als PDF abrufbar
Die Zerstörung des kulturellen Erbes in Gaza
Sönke Hundt, 13.07.2024
Im Juni in diesem Jahr fand die Jahrestagung der Deutsch-Palästinensischen
Gesellschaft im Kloster Höxter statt. Zugeschaltet war per Zoom Hamdan
Taha. Er war Generaldirektor der palästinensischen Antikenbehörde und
zuletzt stellvertretender Minister des Ministeriums für Tourismus und
Altertümer. Sein Thema: Die Zerstörung des kulturellen Erbes in Gaza. Auch
veröffentlicht im letzten Palästina-Journal.
Hat mich sehr bewegt. Es ist unfassbar und unfassbar barbarisch, was da
geschieht. Nicht nur Leben und Gesundheit werden in Gaza zerstört, sondern
auch die Kultur der Palästinenser. Es ist die geplante und systematisch
durchgeführte Zerstörung ihrer Identität.
Ich habe auch die Anklageschrift der Republik Südafrika gegen Israel vor
dem IGH, dem Internationalen Gerichtshof der UNO, dem sogenannten
"Weltkrieg" gelesen. Das ist die gründlichste und systematischste
Zusammenstellung aller Anklagepunkte der Anklage: Völkermord. Dem
schlimmsten Verbrechen im Internationalen Recht. Das Urteil ist zwar noch
nicht gesprochen und auch unsicher. Aber die Anklageschrift hat es in sich.
Dazu muss man vielleicht folgendes in Erinnerung rufen.
Die kulturelle Geschichte der Levante, also der Länder und Gebiete an der
Ostküste des Mittelmeers, ist mehr als 6000 Jahre alt. Hier beginnt in der
frühen Bronzezeit die Entwicklung der westlichen Welt. Über die
Jahrtausende entwickeln die Sumerer, die Hethiter, die Phönizier, die
Babylonier, die Ägypter, die Perser, dann die Griechen, die Römer und zuletzt
die Araber die Sprache, die Buchstabenschrift, die Zahlen, die Religionen mit
ihren vielen und unterschiedlichen Göttern, weiter die Landwirtschaft, das
Handwerk, den Handel, der bald bis nach China reicht, die Literatur, das
Theater, die bildende Kunst, die Bildhauerei, die Architektur, dann die
Wissenschaften, die Medizin, die Mathematik, die Astronomie - und
schließlich auch die Geschichtsschreibung. Ich nenne mal ein paar der alten
Städte aus dem Nahen Osten: Jerusalem, Bagdad, Riad, Kairo, Alexandria,
Teheran, Damaskus, Aleppo, Homs, Mossul, Isfahan, Jazd, Schiraz, Beirut,
Akko, Jaffa, Haifa, Aschdod, Hebron, Jericho, Bethlehem, Beirut, Byzanz
oder Konstantinopel oder Istanbul, und schließlich Gaza, Rafah, Khan
Junis.
Alle Völker oder Stämme oder Staaten waren in Palästina, also auch im
Gazastreifen, zugegen. Gaza wird in den ältesten Zeugnissen im
Jemen, in Ägypten und im Alten Testament genannt.
Was ich damit sagen will: sie alle hinterließen ihre Spuren. Die
Archäologen versuchen oder versuchten in großen archäologischen
Ausgrabungsfeldern diese alten Kulturen zu rekonstruieren und zu
interpretieren. Am Strand war es nicht selten, dass Kinder alte Münzen
aus uralten Zeiten gefunden haben. In den Städten und Ortschaften
sind bzw. waren die steinernen Zeugnisse aus den vergangenen
Jahrtausenden in großer Zahl zu finden.
- Alexander der Große verlor 332 v. Chr. fast sein Leben in Kämpfen an der Stadtmauer von Gaza
- In Gaza starb der Großvater des Propheten Mohammed Hashim ibn Abd Manaf und wurde auch dort beerdigt. Bremen ist ja auch eine sehr alte in Deutschland. Aber hier beginnt die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung viele Tausend Jahre später.
Den Dom zu bauen beginnt man um das Jahr 1000 n. Chr., das Rathaus wird im 12. und 13. Jahrhundert gebaut. Wir können uns ja mal vorstellen, wie der Dom, das Rathaus, die Stepahni-Kirche, die MartiniKirche, die Kirche Unser Lieben Frauen, die Kunsthalle, die Schlachte, der Schnoor, der Marktplatz, die Handelskammer von Raketen, Granaten, Panzerbeschuss und Bomben in eine Trümmerlandschaft verwandelt wird.
Die Zerstörungen der kulturellen Stätten in Gaza sind unfassbar. Zwei Beispiele:
• Die St. Porphyrius-Kirche in Gaza-Stadt ist die drittälteste der Welt. Sie ist benannt nach dem Bischof Porphyrius von Gaza, der als Heiliger heute noch von der orthodoxen christlichen Kirche verehrt wird und an den der Apostel Paulus, wie im Neuen Testament berichtet, einige seiner berühmten Briefe schrieb. 2023 Zerstört durch Luftangriffe.
• Die große berühmte Moschee mitten in der Altstadt von Gaza, die Omar-Moschee. Architektonische sehr unregelmäßig gebaut wegen ihrer bewegten Geschichte. In kanaanäischer Zeit ein Tempel, dem Gott Dagan gewidmet, in byzantinischer Zeit eine große Kirche, zerstört durch die Sassaniden (aus Persien), von den Kreuzfahrern wieder erbaut als eine Kathedrale, nach der Rückeroberung durch Saladin wieder in eine Moschee umgewandelt. Unfassbar schön und reich. 2023 zerbombt durch Luftangriffe. Nur das Minarett steht noch.
Ich zitiere aus der Anklageschrift der Regierung Südafrikas.
Zerstört wurden
• Das Zentralarchiv der Stadt Gaza mit tausenden von historischen Dokumenten
• Das Zentrum für Manuskripte und antike Dokumente
• das orthodoxe Kulturzentrum
• das Al-Quarara-Kulturmuseum
• das Rafah-Museum
• das sogenannte neue Museum mit hunderten von kulturellen und archäologischen Artefakten
• acht archäologische Ausgrabungsstätten
• die wichtigste Bibliothek
• alle vier Universitäten angegriffen
• alle Schulen angegriffen
• insgesamt wurden schätzungsweise 318 muslimische und christliche religiöse Stätten
Plünderungen
Natürlich wurde von diesen Schätzen auch geplündert. Es wurde in die
Lagerhäuser der Altertumsbehörde von Gaza eingebrochen, in denen
zehntausende von archäologischen Gegenständen aufbewahrt werden.
Figuren, Keramikgefäße, Glas- und Metallgegenstände, Münzen.
Israel hat seit langem in Palästina Kunstwerke ausgegraben und ins
eigene Land geschafft. Über 30.000 Artefakte sollen sich in israelischen
Museen befinden, vor allem im Israel Museum in Jerusalem befinden.
• Frankfurter Rundschau v. 2.2.2019 über die Ausstellung in
Oldenburg.
Die Frage ist, ob diese Zerstörungen systematisch erfolgt sind?
Mit dem Ziel, die kulturelle Identität der Palästinenser zu zerstören.
Ist die Antwort ja, ist es ein Teil des Völkermords, ist der kulturelle
Völkermord, der cultural genocide.
• In der Anklageschrift der südafrikanischen Regierung ist der
Vorwurf enthalten. Ja, die Zerstörungen sind nicht zufällige
Kriegsereignisse, sozusagen Kollateralschäden. Ja, die
Zerstörungen sind systematisch. Zitat: "Das kulturelle Erbe wurde
systematisch zerstört und ausgelöscht, mit dem Ziel, die
physische und geistig/spirituelle Welt des palästinensischen
Volkes unter dem Vorwand der Selbstverteidigung zu zerstören."
• Ich zitiere Hamdan Taha, der wohl den besten Überblick hat: "Die
aktuellen Bilder der archäologischen Stätten und historischen
Gebäude im Gazastreifen lassen auf die systematische
Zerstörung eines kulturellen Erbes schließen, das sich über einen
Zeitraum von etwa fünftausend Jahren gebildet hat und heute nur
noch ein Haufen Schutt ist.".
Das alles geschah und geschieht jeden Tag vor den Augen und Ohren
der Weltöffentlichkeit. Vielfach gefilmt, fotografiert, beschrieben und
dokumentiert. Die israelische Armee antwortet stereotyp auf Anfrage:
Israel verteidigt sich gegen die Angriffe der Hamas. Es ist
Selbstverteidigung.
Wir wissen, dass die Zerstörungen Teil der kolonialen Praxis sind.
• Am 18. Januar 2024 sprengte das israelische Militär gezielt die AlIsraa Universität und das Nationalmuseum, welches über 3000
archäologische Artefakte beherbergte. Es gibt zwei Screenshots
von Instagram Stories, getätigt vom Direktor der Israeli Antiquities
Authoriy, Eli Ekozido persönlich. Das erste zeigt IDF-Soldaten
plündernd im archäologischen Depot des Museums und der
zweite eine Vitrine in der Knesset, wo die geraubten Teile
ausgestellt werden.
• Süddeutsche Zeitung v. 25. April 2024 zitiert Amichai
Eliayahu. Amihai Ben-Eliyahu ist ein israelischer Politiker der
rechtsextremen Partei Otzma Jehudit und seit 2022 Minister für
religiöses und kulturelles Erbe im Kabinett Netanjahu Eliyahu ist
Spross einer ultrarechten Rabbinerdynastie. Dieser Politiker
schreibt am 1. November 2023 auf facebook: "Der Norden des
Gazastreifens ist schöner denn je. Alles ist gesprengt und
plattgewalzt, eine Augenweide." Später brachte er in einem
Interview die Option ins Spiel, eine Atombombe auf den
Gazastreifen zu werfen.
Die Zerstörungen des kulturellen Erbes des palästinensischen Volkes
sind ungeheuerlich, sie sind Teil der Genozids. Ungeheuerlich ist nicht
weniger, dass die Medien des werteorientierten Westens diese wahrhaft
barbarischen Zerstörungen bis auf wenige Ausnahmen nicht zur
Kenntnis nimmt. Man erinnere sich: was gab es für einen Aufschrei der
Empörung in unseren ach so kulturbeflissenen Medien wie die Zeit, die
Welt, die Süddeutsche Zeit, die Frankfurter Allgemeine, der Spiegel, die
Kulturmagazine des Fernsehens usw. usf., als die Taliban in
Afghanistan die großen Buddhastatuen gesprengt haben. Die Bilder
wurden wieder und wieder gezeigt. Wo bleiben die Bilder heute.
Solange Israel auf eine Generalamnestie seitens des werteorientierten
Westens für all seine Verbrechen rechnen kann, wird sich daran nichts
ändern. Ich hoffe, dass die Stimmen aus den Ländern des globalen
Südens, lauter und lauter werden. Die 84seitige Anklageschrift der
Republik Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof ist dafür ein
guter Anfang und ein gutes Beispiel
Am 23. September wird Prof. Dr. Detlev Quintern, ein ausgewiesener
Fachmann und zur Zeit an der Universität in Istanbul beschäftigt, nach
Bremen kommen zu einem Vortrag über genau dieses Thema.
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