Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,
wir leben in extrem gefährlichen Zeiten. Die Weltordnung steckt mitten in dramatischen Umbrüchen. Wir stehen am Kreuzungspunkt mehrerer Prozesse von historischer Tragweite. Alle haben sie Konsequenzen für das Thema Krieg und Frieden.
Da ist zuerst der Krieg in der Ukraine. Die Zahl der toten Soldaten liegt nach drei Jahren weit über Hunderttausend. Über 13.000 Zivilisten haben nach UNO-Angaben ihr Leben verloren, darunter fast 700 Kinder. Die Zerstörungen in der Ukraine, die wirtschaftliche Verelendung und das demographische Ausbluten nehmen immer schrecklicher Formen an.
Da ist zweitens die fürchterliche Tragödie in Gaza. Sie hat solche Ausmaße angenommen, dass der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl gegen den israelischen Staatschef wegen Verdachts auf Völkermord gestellt hat. Nach dem Terrorüberfall der Hamas im Oktober 2023, sind in Gaza über 60.000 Zivilisten den israelischen Bomben zum Opfer gefallen, darunter 70 Prozent Frauen und Kinder.
Drittens ist da der Bruch im transatlantischen Verhältnis. Der Westen, der seit 80 Jahren den Gang der Weltgeschichte maßgeblich geprägt hat, ist gespalten und stark geschwächt. Donald Trump hat das 80-jährige Vasallenverhältnis zu Europa aufgekündigt. EU-Europa ist jetzt allein zuhause! Auch das ist ein Epochenbruch.
Der trifft viertens auf eine tektonische Verschiebung im internationalen System: der Aufstieg von Schwellenländern des globalen Südens, vorneweg China und in Ansätzen auch Indien. Außerdem ist da noch das Comeback Russlands als Großmacht. Zusammen mit anderen - Brasilien, Indonesien, Südafrika etc. - vernetzen sie sich in Plattformen wie den BRICS. Ihr Hauptziel ist eine multipolare Weltordnung auf der Basis der UN-Charta.
Das bedeutet das Ende der 500-jährigen Epoche von Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus. Die Zeiten sind vorbei in denen der Weiße Mann und - hallo Annalena - auch die weiße Frau, dem „Rest der Welt“ erklärten konnte, wo es lang geht. Und das ist gut so.
Das ist zwar noch nicht die Verwirklichung der Utopie einer sozialistischen Weltrepublik. Auch die multipolare Welt ist kein Ponyhof. Aber für den Globalen Süden, also für 85 Prozent der Menschheit, ist das ein Fortschritt, den wir von einem internationalistischen Standpunkt aus begrüßen.
Liebe Freundinnen und Freunde,
am härtesten treffen die Umbrüche die EU und ihre Mitgliedsstaaten. Sie kommen in einem denkbar ungünstigen Augenblick: Die EU steckt nämlich seit Jahren in einer ökonomischen Strukturkrise. Der Report des ehemaligen Chefs der EZB, Mario Draghi, spricht von einer „existentiellen Herausforderung“, die einen „radikalen Wandel“ erfordert, andernfalls würde die EU „ihre Existenzberechtigung verlieren“. Und seine Nachfolgerin in der EZB, Lagarde, stellt lapidar fest: „Es ist eine Tatsache, dass Europa abgehängt ist.“
Das trifft in besonderem Maße auf Deutschland zu. Der Automobil- und Maschinenbau oder die Chemie, waren Spitzentechnologien des 20. Jahrhunderts. Im 21. Jahrhundert sind Digitalisierung und Künstliche Intelligenz angesagt. Die Abkopplung vom russischen Erdgas und die Rückschlagswirkung der Sanktionen haben die Wettbewerbsfähigkeit zusätzlich geschwächt. Die deutsche Wirtschaft schrumpft. Jetzt kommt sie durch Trumps Zollkrieg noch mehr unter Druck.
Wie aber reagiert die Bundesregierung – die alte wie die neue - auf das Problemknäuel? Es fällt ihnen nichts bessres ein, als das Land kriegstüchtig zu machen! Ein Land, in dem schon in Friedenszeiten Brücken von alleine zusammenfallen und kein Zug mehr pünktlich fährt. Die hohe Bevölkerungsdichte und die Verdichtung der Infrastruktur, machen Deutschland derart verwundbar, dass Kriegführung hier einfach nur heller Wahnsinn ist. Da genügen schon ein paar Hyperschallraketen auf die wichtigsten Infrastrukturknoten, und die Lichter gehen aus.
Für ihre Kriegstüchtigkeit hat die Ampel 100 Mrd. für die Bundeswehr bereits verpulvert. Vor einem Monat wurde per Verfassungsänderung auch noch ein Freibrief für die Steigerung der Militärausgaben in unbegrenzter Höhe beschlossen. Und im neuen Koalitionsprogramm liest sich die Passage zur Außen- und Sicherheitspolitik wie aus einem Gruselroman.
Die EU ist kein Deut besser. Schon im strategischen Kompass der letzten Kommission geht es darum, alle Politikfelder durch die geopolitische Brille zu sehen und „die volle Bandbreite der EU-Politik und ihre Hebel als Machtinstrumente zu nutzen“. Dazu sollen Großprojekte der Rüstungsindustrie kommen und massive Investitionen in Aufrüstung und militärische Infrastruktur im Umfang von 800 Mrd. Euro.
Außenpolitik wird in Brüssel wie Berlin alternativlos nur noch in militärischen Kategorien verstanden. Diplomatie, Verhandlungen, politische Konfliktlösung, wie sie die UN-Charta und übrigens auch die Resolutionen der UNO-Vollversammlung zum Ukrainekrieg fordern, kommen nicht mal mehr vor. Alles was sie anfassen, wird ihnen zu Militärischem. Es ist wie im antiken Mythos von König Midas, dem alles, was er anfasste, zu Gold wurde. Allerdings: als der seine Pizza und seine Cola anfasste, wurden auch die zu Gold, so dass er verdurstet und verhungert wäre, wenn die Götter kein Erbarmen mit ihm gehabt hätten.
Heute braucht es keine Götter, sondern eine starke Friedensbewegung, die die Herrschenden unserer Tage von ihrer manischen Fixierung auf Kriegstüchtigkeit abbringen.
Liebe Freundinnen und Freunde,
besonders krass tritt das militaristische Schrumpfdenken gegenüber den Verhandlungen über den Ukrainekriegs zutage. Die USA wollen aus dem Stellvertreterkrieg aussteigen. Aber statt froh darüber zu sein, und den Verhandlungen mit eigenen diplomatischen Initiativen beizuspringen, reagieren die Europäer wieder nur militärisch. Der Krieg wird mit immer neuen Waffenlieferungen verlängert. Die sog. Außenbeauftragte der EU, Kaja Kallas, eine fanatische Russenhasserin, träumt sogar immer noch von einem militärischen Sieg Kiews. Wirkliche Solidarität mit der Ukraine sieht anders aus.
Jetzt wird versucht, eine „Koalition der Willigen“ zusammenzuzimmern. die, für den Fall, dass die Waffen schweigen, eine militärische Präsenz aus europäischen NATO-Staaten in der Ukraine etablieren. Schon der Name weckt unschöne Erinnerungen. 2003 gab es unter Führung der USA schon einmal eine „Koalition der Willigen“ aus 36 Ländern, die – um mal den modischen Sound unserer Tage aufzugreifen – einen verbrecherischen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak führte. Übrigens, wusstet Ihr, dass die Ukraine in dieser Koalition der Willigen mit 1.600 Mann das sechstgrößte Kontingent stellte?
In der Sache läuft diese neue Koalition der Willigen auf eine NATO-light hinaus. Dabei sollte sich doch herumgesprochen haben, dass die NATO-Osterweiterung und hier vor allem eine Mitgliedschaft der Ukraine das Hauptmotiv für den russische Einmarsch war.
Der war natürlich ebenfalls ein gravierender Bruch des Völkerrechts und eine neue Qualität in einer langen Eskalationsgeschichte. Aber wenn man die Eskalationsspirale endlich stoppen will, sind NATO-Truppen in der Ukraine für Russland eine weitere Provokation - mit der Garantie einer entsprechenden Reaktion.
Für Russland ist zudem noch immer die vorletzte Osterweiterung ein kollektives Trauma. Die ging bekanntlich bis an die Wolga bei Stalingrad. Das betrifft selbst Putin ganz persönlich, denn seine älteren Brüder kamen bei der Belagerung Leningrads durch die Vorgänger der Bundeswehr ums Leben.
Wenn jetzt die Deutschen, die sich ja selbst für Weltmeister der Erinnerungskultur halten, beim 80. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus keine Russen bei Gedenkveranstaltungen dabei haben wollen, dann ist das Ausdruck einer politisch-moralischen Verkommenheit sondergleichen.
Liebe Freundinnen und Freunde,
parallel zu den Plänen für die Hochrüstung schwappt eine Welle mentaler Militarisierung durch das Land. Da rollen Straßenbahnen mit Werbung für die Bundeswehr durch unserer Städte. Universitäten, Krankenhäuser, Schulen und selbst Kindergärten sollen mit sog. Zivilschutzmaßnahmen ebenfalls kriegstüchtig gemacht werden. Damit werden die gleichen lächerlichen Illusionen verbreitet, wie schon zu meiner Schulzeit im Kalten Krieg. Damals sollten wir bei einem sowjetischen Atomangriff den Ranzen über den Kopf ziehen und uns unter den Tisch verkriechen.
In dieses Bild passt, dass in den großen Medien mit wenigen Ausnahmen totaler Propagandakrieg herrscht. Das öffentlich rechtliche Fernsehen und andere staatstragende Medien führen sich auf, als ob sie die Heimatfront der ukrainischen Truppen wären. Die mediale Gesinnungsmassage hat mit pluraler Demokratie und Meinungsvielfalt nichts mehr zu tun.
Aber Krieg wird auch in den Köpfen schon lange vor dem ersten Schuss vorbereitet. Ohne Feindbild funktioniert kein Krieg. Die antirussische Feindbildproduktion hat daher lange vor dem Krieg eingesetzt. Ein repräsentatives Beispiel ist ein Artikel vom November 2020 in der Tageszeitung DIE WELT. Dort heißt es im Zusammenhang mit russischem Impfstoff: „Auch wenn ein russisches Produkt im internationalen Wettbewerb mithalten kann, der Stempel des Russischen ist und bleibt ein Makel.“ Da nässt wieder die alte dünkelhafte Geringschätzung der wilhelminischen Ostlandreiter, und ihrer noch schlimmeren Nachfolger für alles Russische durch.
Das Feindbild ist auch das Fundament für die Behauptung einer militärischen Bedrohung durch Russland. Eine nüchterne Analyse der konventionellen Kräfteverhältnisse und der russischen Interessen zeigt, dass die Bedrohungsbehauptung substanzlos ist und nur als propagandistisches Feigenblatt zur Rechtfertigung der eigenen Aufrüstung dient.
Natürlich gibt es keinen Grund, besondere Sympathie für den russischen Kapitalismus und sein politisches System zu haben. Aber es gibt eben auch keinen Grund, eine besondere Antipathie zu pflegen, oder das Land gar in primitiver Schwarz-Weiß-Malerei zum Reich der Finsternis zu erklären.
Derzeit scheint sich die Russophobie sogar noch zu steigern. Hintergrund ist offenbar, dass die Ukraine dabei ist, den Krieg zu verlieren. Und da macht sich Panik breit. Deshalb wohl die verantwortungslose Drohung von Friedrich Merz mit der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern, mit dem dezenten Hinweis, dass damit die Krim-Brücke zerstört werden kann. Was wenn, eine solche Eskalation dann mit einer russischen Rakete auf die Fehmarnbrücke beantwortet wird?
Liebe Freundinnen und Freunde,
der neudeutsche Militarismus ist ein regelrechter zivilisatorischer Rückfall. Wie immer verursacht er auch innenpolitische Kollateralschäden. Unter der Kanzlerschaft des ehemaligen Black Rock-Managers Merz werden wir wieder die alte Maxime „Kanonen statt Butter“ zu spüren bekommen. Es ist pure Illusion, dass eine Blüte der Rüstungsindustrie - der berüchtigte Kriegskeynesianismus - den wirtschaftlichen Niedergang des Standorts Deutschland kompensieren könnte.
Auch die Demokratie wird in Zeiten von Konfrontation und Kriegsvorbereitung eingeschränkt. Die vor einem Monat im Hauruck-Verfahren durchgepeitschte Verfassungsänderung durch den eigentlich schon abgewählten Bundestag ist unter Demokratiegesichtspunkten äußerst problematisch. Auch die Kriminalisierung von radikaler Kritik an den Menschen- und Völkerrechtsverletzungen durch Israel in Gaza, im Libanon und in Syrien ist ein Symptom dafür. Und wenn dann Friedrich Merz, Netanjahu nach Deutschland einlädt und dabei ausdrücklich den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof ignorieren will, bekommt man den Eindruck, die handeln inzwischen nach der alten Sponti-Parole: legal – illegal -scheißegal!
Ebensowenig demokratisch ist die Entscheidung, Tomahawk Marschflugkörper, SM 6 Flugabwehrraketen und die Hyperschallwaffe Dark Eagle auf deutschem Boden zu stationieren, ohne dass auch nur irgendein deutsches Gremium je damit befasst worden wäre.
Dabei ist das Projekt brandgefährlich und kann schicksalhafte Bedeutung für uns annehmen. Denn es gilt die Regel: Raketen wirken als Magneten, d.h. sie werden in der russischen Gegenstrategie zur Zielscheibe. Tomahawk und Dark Eagle können sowohl konventionell als auch atomar bestückt werden. Sie haben eine Reichweite in den ganzen europäischen Teil Russlands hinein, und verändern so das strategische Gleichgewicht zu Ungunsten Russlands. Mit ihren zielgenauen und bunkerbrechenden Sprengköpfen verfügen sie auch über das Potential zum Enthauptungsschlag.
Solche einseitigen Veränderungen des status quo ignorieren das fundamentale Völkerrechtsprinzip der ungeteilten Sicherheit, d.h. dass keine Seite ihre Sicherheit zu Lasten der anderen Seite erhöhen darf. Missachtet man das, darf man sich nicht wundern, wenn Putin mit dem Argument, das sei wie ein Messer am Hals, entsprechend reagiert.
An den wechselseitigen Schuldzuweisungen wird einmal mehr die Logik der Abschreckung kenntlich: die eigenen Maßnahmen werden immer als Verteidigung ausgegeben, die der anderen Seite als aggressive Drohung. Heraus kommt endlose Zunahme der Spannungen und Unsicherheit. Deshalb sind Verhandlungen mindestens über Rüstungskontrolle wenn nicht über Abrüstung auf beiden Seiten dringend nötig. Es gibt mehrere Initiativen aus der Friedensbewegung dazu, darunter der Berliner Appell, für den Unterschriften gegen die Raketen gesammelt werden.
Liebe Freundinnen und Freunde,
die Umbrüche und bedrohlichen Entwicklungen stellen neue und hohe Anforderungen an die Friedensbewegung. Vor allem aber müssen wir viel stärker werden und Differenzen, die es legitimerweise gibt, nicht zu unüberwindlichen Hindernissen für Zusammenarbeit machen.
Neben vielem Neuen, gibt es aber auch alt Bewährtes, an dem wir festhalten, wie:
- Konflikte müssen politisch gelöst werden, durch Diplomatie, Verhandlungen und Kompromisse,
- wir setzen auf die UN-Charta und auf die Stärke des Rechts, statt auf das Recht des Stärkeren,
- wenn man den Frieden will, muss man den Frieden vorbereiten, nicht den Krieg,
- Entspannung, Kooperation und friedliche Koexistenz sind ohne Alternative im Zeitalter der Atombombe und angesichts der Risiken revolutionärer Technologien, und deren militärischer Anwendung.
Es liegt ein langer Weg vor uns. Aber kurzfristig haben Priorität:
- die Verhandlungslösung für den Ukrainekrieg,
- Frieden im Nahen Osten,
- Keine Mittelstreckenwaffen in Europa - weder amerikanische noch russische.
Packen wir’s an!
Peter Wahl ist Publizist, Autor und Gründungsmitglied attac.

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