Aktham Suliman: Ausstieg bei Al-Jazeera

Aktham Suliman, ehemaliger Korrespondent des Senders Al-Jazeera, im Gespräch mit weltnetz.tv
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Weltnetz.tv-Korrespondentin Karin Leukefeld spricht mit dem ehemaligen Al-Jazeera-Journalisten Aktham Suliman über die Gründe für seinen Ausstieg bei dem arabischen Sender.

Das Gespräch wurde am 31. Mai 2013 in Berlin aufgezeichnet. Mit freundlicher Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

"Man war ursprünglich bei Al Jazeera, weil Al Jazeera freier war als andere arabische Medien. Weil Al Jazeera aktiver, professioneller war. Und plötzlich entdecken wir, daß die ganzen Krankeiten der arabischen Medien – vor allem der staatlichen arabischen Medien – bei Al Jazeera sehr präsent geworden sind. Und da haben wir – nicht nur ich, sondern viele Kollegen haben aufgehört – angefangen, uns zu fragen, was mache ich überhaupt noch hier. Dann blieb nur noch die eine Antwort: wegen des Geldes. Das war aber nicht der ursprüngliche Gedanke. Und so fand dann ein Prozess statt, in dem man versucht hatte, Diskussionen anzustoßen, Kritik auszuüben, die letzte Hoffnung vielleicht heraus zu zaubern. Aber da war nichts mehr! Es war ganz klar: wir sind ein staatlicher Sender geworden – von Katar. Und Katar betreibt eine ganz merkwürdige und umstrittene Politik in der Region im Zusammenhang mit anderen Akteuren weltweit. Und wir sind sozusagen die gekauften Journalisten, die die technische, die professionelle Arbeit zu erledigen haben, aber die Politik wird von oben aufgesetzt. Und das war dann genug. (Aktham Suliman)

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"Wir waren die Anti-Stimme und wurden zur Nato-Stimme"

Weltnetz.tv-Korrespondentin Karin Leukefeld spricht mit dem ehemaligen Al-Jazeera-Journalisten Aktham Suliman über die Gründe für seinen Ausstieg bei dem arabischen Sender.

Karin Leukefeld: Herr Suliman, Sie haben elf Jahre für den arabischen Nachrichtensender Al Jazeera gearbeitet. Im Herbst vergangenen Jahres 2012 haben Sie diese Zusammenarbeit von sich aus beendet. Warum haben Sie diesen Traumjob aufgegeben?

Aktham Suliman: Weil aus dem Traumjob ein Albtraumjob geworden ist. Man war ursprünglich bei Al Jazeera, weil Al Jazeera freier war als andere arabische Medien. Weil Al Jazeera aktiver, professioneller war. Und plötzlich entdecken wir, daß die ganzen Krankeiten der arabischen Medien – vor allem der staatlichen arabischen Medien – bei Al Jazeera sehr präsent geworden sind. Und da haben wir – nicht nur ich, sondern viele Kollegen haben aufgehört – angefangen, uns zu fragen, was mache ich überhaupt noch hier. Dann blieb nur noch die eine Antwort: wegen des Geldes. Das war aber nicht der ursprüngliche Gedanke. Und so fand dann ein Prozess statt, in dem man versucht hatte, Diskussionen anzustoßen, Kritik auszuüben, die letzte Hoffnung vielleicht heraus zu zaubern. Aber da war nichts mehr! Es war ganz klar: wir sind ein staatlicher Sender geworden – von Katar. Und Katar betreibt eine ganz merkwürdige und umstrittene Politik in der Region im Zusammenhang mit anderen Akteuren weltweit. Und wir sind sozusagen die gekauften Journalisten, die die technische, die professionelle Arbeit zu erledigen haben, aber die Politik wird von oben aufgesetzt. Und das war dann genug.

Karin Leukefeld: Sprechen wir nochmal über Al Jazeera zu Beginn, als Sie auch dort angefangen haben. Von diesem Sender ging eine Faszination aus. Man machte Werbung mit dem Slogan „Wir berichten die andere Seite der Dinge, die andere Sicht der Dinge...“. Was war das Faszinierende an Al Jazeera?

Aktham Suliman: Al Jazeera war der erste professionelle arabische Nachrichtensender im Fernsehbereich. Er war, wenn man das so nennen will, wirklich der arabische CNN oder BBC. Und insofern war es natürlich faszinierend, bei so einem Sender zu arbeiten. Nachrichten – professionell und glaubwürdig. Die Bindung an die arabische Welt, die mit einhergeht, ist eine Verlockung für jeden Journalisten, wenn man lange im Ausland gelebt hat. Der internationale Ruf von Al Jazeera damals als der Demokratisierungssender hat eine Rolle gespielt. Ein Sender, der wirklich die Stimme erhebt gegenüber arabischen Herrschern, gegenüber Weltmächten. Al Jazeera war für uns auch zum Teil die Stimme der Araber dieser Welt. Al Jazeera war unsere Genugtuung. Die Welt, vor allen Dingen die westliche Welt, ist der arabischen Welt in vielerlei Hinsicht überlegen, militärisch, wirtschaftlich und auf einmal kommt etwas aus dem Medienbereich, was sehr vergleichbar ist und über Zeitstrecken wahrscheinlich sogar besser war. Und das hat uns mit Stolz erfüllt, das war genau diese Genugtuung: „Jawoll!“. Wie eine Mannschaft, die ein Tor schießt in den letzten Sekunden. Oder die immer fertig gemacht wurde und zum ersten Mal sowas wie einen kleinen Sieg erlebt. Das alles war Al Jazeera für uns. Eine seelische, eine psychologische, eine idealistische Erscheinung. Von Anfang an. Bei Al Jazeera wurde am Anfang übrigens wurde sehr schlecht bezahlt. Ganz nach dem Motto: „Ihr Lohn ist, bei Al Jazeera zu arbeiten.“ Und wir waren sogar bereit zu zahlen, um da zu arbeiten. Nicht nur, wenig Geld zu verdienen, sondern auch wirklich zu zahlen, weil das damals die höchste Ebene arabischen Journalismus’ war.

Karin Leukefeld: Sie haben das jetzt aus Ihrer Sicht als Journalist beschrieben, der auch hier in Deutschland ausgebildet worden ist... Al Jazeera hatte natürlich auch eine ganz besondere Rolle für die Bevölkerung. Immer wieder wurde ja auch über die arabische Straße gesprochen, die großes Vertrauen gehabt hat in diesen Sender. Können Sie das so bestätigen?

Aktham Suliman: Auf jeden Fall! Man kennt den Witz aus den Siebzigern - aus einem syrischen Theaterstück - wo in einem syrischen Dorf Schüsse zu hören sind. Da sagt der eine Dorfbewohner zum anderen: „Mach BBC London an, damit wir wissen, was hier nebenan los ist.“ Das entsprach wirklich der medialen Landschaft in der arabischen Welt. Man mußte BBC London hören, damit man wußte, was nebenan los ist. Ansonsten gab es keine richtige Öffentlichkeit im professionellen Sinne. Staatliche Sender, die nur bestimmte Sachen im Zusammenhang mit dem Herrscherhaus oder mit dem Präsidenten oder mit dem, wer auch immer jetzt die politischen Strukturen in diesen Ländern waren, berichteten. Al Jazeera kam mit dem neuen Anspruch, professionell und öffentlichkeitsorientiert zu agieren, die großen Fragen anzusprechen, die die arabischen Massen bewegen. Das ist Palästina, danach Irak, Islamismus... Das alles hat Al Jazeera angepackt. Deswegen glaubten die Menschen an Al Jazeera. Für viele Menschen war Al Jazeera – für viele ist es dies immernoch übrigens – die glaubwürdigste Stimme überhaupt in der arabischen Welt. Weil man damals durch diese Reibung mit den Herrschern und den Regimen an Glaubwürdigkeit gewonnen hatte und weil man sich hier und da auch gegen die westliche Medienlandschaft gerichtet hatte - zum Beispiel in Zusammenhang mit Terrorthemen. Diese Glaubwürdigkeit hat eine sehr große Rolle auch insofern gespielt, als daß die arabischen Massen oft - in manchen Ländern zu 50 Prozent - Analphabeten sind. Das ist eher vergleichbar mit der amerikanischen Öffentlichkeit als mit der deutschen. Man liest nicht die Zeitung und hört Radio und dann guckt man Fernsehen am Abend – nein, man bleibt hängen beim Fernsehen. Insofern hatte Al Jazeera eine unglaubliche Wirkung, hat sie immernoch übrigens. Und Al Jazeera hatte auch jahrelang eine Alleinstellung. Das war unglaublich. Zwischen 1996 und 2003 war Al Jazeera der einzige arabische Nachrichtensender. 2003 kam Al Arabiya, dann kamen auch andere und dann hat BBC sich entschieden, den arabischen Dienst doch wiederzubeleben. Die Deutsche Welle kam hinzu, Russia Today wurde stärker... Diese Monopolstellung hat eine sehr große Rolle gespielt und das in Zeiten, wo bestimmt Themen eine große Rolle gespielt haben. Das ist die palästinensische Intifada, das ist der Irak-Krieg 2003, das sind die Anschläge vom 11. September. Also in dieser Atmosphäre hat Al Jazeera ein Kapital angesammelt, das jetzt momentan abnimmt, aber immernoch sehr stark ist. Das ist wirklich ein Sender, an dessen Informationen der Araber erst in allerletzter Sekunde zweifeln würde. Man würde an den Regierungen zweifeln, an anderen Medien und erst ganz zum Schluß an Al Jazeera. Momentan aber erlebt Al Jazeera genau diese Periode. Die Leute zweifeln, weil sie oft erleben, was Sache ist. Also die erleben das in Ägypten, die erleben das in Libyen, die erleben das in Tunesien, die erleben das in Syrien, in Jemen. In Ägypten ist Al Jazeera heutzutage ein Regierungssender. Sie berichten im Sinne der Muslimbrüder. In Tunesien ist Al Jazeera an achter Stelle. Während der tunesischen Revolution war es an erster Stelle, aber man hat gemerkt, daß die Zeit nach der Revolution, die auch mit vielen Problemen und Streiterein verbunden war, bei Al Jazeera kaum zu verifizieren, kaum zu sehen ist. Al Jazeera ergreift eher Partei. Man hat gesehen, was aus Libyen gemacht wurde. Das haben große Teile bei der Masse gesehen und das haben vor allem arabische Linksintellektuelle schnell gemerkt. Zum Beispiel As'ad AbuKhalil, ein Uniprofessor aus Kanada: immer, wenn Al Jazeera oder Al Arabiya schreiben, setzt er den Kommentar „Der Natosender“ hinzu. Und leider muß man sagen, über Strecken hat er recht. Wir waren die Anti-Stimme und wurden zur Nato-Stimme.

Karin Leukefeld: Wenn man heute mit Arabern spricht und sie nach ihrer Meinung zu Al Jazeera fragt, hört man sehr häufig, es ist eigentlich der Sender von USA und Israel....

Aktham Suliman: Lassen wir Israel beiseite, weil es nicht wirklich entscheidend im Fall von Al Jazeera ist. Israel ist für die arabische Welt ein klarer Fall und Al Jazeera hat Kapital geschlagen, indem es über den Palästina-Israel-Konflikt berichtet hatte. Problematisch wurde es erst, als die Schwierigkeiten zwischen Hamas und Fatah wuchsen und sich Al Jazeera mehr auf die Seite von Hamas, den Islamisten, geschlagen hatte. Da fing ein Nachdenkprozess an. Zu den USA muss man sagen: vorsichtig! Das Thema ist nicht so schnell anzupacken. USA ist nicht gleich USA. In den USA gibt es das Weiße Haus, das Außenministerium, die CIA, die US-Army. Man ist nicht nah an allem, aber ich behaupte wohl, wir sind bestimmten Stellen sehr nah. Denn die Politik von Al Jazeera, die Methoden, die inzwischen eingesetzt werden, die kommen nicht von den Machern von Al Jazeera. Das weiß ich. Das sehe ich. Ich kenne die Macher, ich kenne den Chefredakteur, ich kenne die Redakteure.. Es gibt Theorien und Ansätze, die da zur Geltung kommen, die wirklich höchster Ebene von Kommunikationswissenschaft und politischer Propaganda entsprechen. Das erfordert wirklich Profis, das erfordert Anweisung, das erfordert eine Gesamtbildsicht. Insofern, vom Ergebnis her, befindet sich Al Jazeera in einem Land namens Katar, das Land Katar ist mehr oder weniger eine Bank. Das ist ein Land mit vierhunderttausend  ursprünglichen Einwohnern. Die anderen sind Arbeiter und Zuarbeiter. Und das Land schuldet den USA die eigene Sicherheit. Das heißt, um die Macht in diesem Land zu erschüttern, bedarf es wirlich nur eines Anrufs aus Washington. Das ist keine Metapher, das ist leider eine Tatsache. Das heißt, Katar befindet sich international in diesem Geflecht, wo die USA sich auch befinden. Wichtig ist, am Ende der Tage, wenn es wirklich kracht, weiß man, Katar hängt an den USA, an westlicher Politik und Al Jazeera... in dem Moment, wo der Sender zum Instrument der Außenpolitik von Katar geworden ist, ist er automatisch auch in diesem Gesamtspiel. Das war früher nicht der Fall.

Karin Leukefeld: Sie sprechen in einem Beitrag für die Zeitschrift „zenith“ von einer Schattenredaktion, die es bei Al Jazeera gegeben hat oder gibt... Können Sie das erläutern?

Aktham Suliman: „Schattenredaktion“ ist nicht nur ein Wort, das man so sagt. Diese Schattenredaktion ist äußerst problematisch. Es ist fast wie ein Schattenehemann oder Schattenehefrau. Das gehört sich überhaupt nicht, weil redaktionelle Arbeit eine sehr transparente Atbeit sein sollte. Wir haben unsere Nachrichtenkriterien, wir haben unser Berufsethos, wir haben Methoden gelernt, wir haben Instrumente, um als Journalisten mit Themen umzugehen – auch mit schwierigen. Und die Redaktion ist klar; es gibt die Abteilung für Interview, die Abteilung für die Korrespondenten, die dritte für Dokumentationen, dann gibt es die Abteilung Chef und es gibt die Chefredaktion und Intendanz und so weiter. Wenn man aber auf einmal merkt, es gibt Stellen und Instanzen, die entweder nicht dazu gehören und trotzdem agieren oder von denen bestimmte Leute genau dort eingesetzt werden, wo die Macht auszuüben ist, dann fängt das Problem mit dieser Schattenredaktion an. Ein Beispiel: die Interviewabteilung. Was macht eine Interviewabteilung? Vor allem bei Al Jazeera? Die Mitarbeiter sitzen den ganzen Tag am Telefon und versuchen, Gäste – sehr viele Gäste, wir interviewen sehr viele Leute live bei unserern Nachrichtensendungen – zu besorgen. Sie haben alle ihre Datenbank und bekommen Anweisungen, z.B. „Ich brauche einen Gast, der die amerikanische Außenpolitik vertritt“ - das ist alles normal. In dem Moment, wo die Kollegen von der Interviewabteilung von „Fallschirm-Gästen“ sprechen, wird es problematisch. Ein „Fallschirm-Gast“, ist ein Gast, den man als Interviewjournalist nicht selber ausgesucht hat, sondern da kommt jemand mit einem Zettel und sagt: „Der könnte da passen, rufen Sie ihn an.“.

Karin Leukefeld: Und woher kommt dieser Zettel?

Aktham Suliman: Von mir nicht. Im Falle vom arabischen Frühling, versteckt man sich dahinter, dass klassische Interviewpartner bei so einer Lage nicht so helfen. Man braucht ja Leute vor Ort. Beteiligte, Augenzeugen usw. Doch auch, um an Augenzeugen heranzukommen, gibt es Kriterien, sonst kriegt man alles Mögliche erzählt. Und wenn man als Journalist schon das Gefühl hat, dass die Person, die diese Nummer gebracht hatte, in diesem Sender mächtig ist oder gute Beziehungen zu Mächtigen hat und weil die Arbeit auch so stressig ist – man kommt nicht so einfach an Augenzeugen, an Interviewpartner, man denkt immer an den nächsten Gast, wo man den ersten schon anruft – neigt man dazu zu sagen: wunderbar, dankeschön! Drei, vier solche Aktionen an einem Tag beflecken den ganzen Bildschirm. Ein anderes Beispiel. Eine Moderatorin hat jemanden „zu kritisch“ befragt, das heißt zu kritisch für den Geschmack der Chefredaktion. Vielleicht war sie auch ein bißchen unverschämt. Mit ihr wird ein ziemlich aggressives Gespräch geführt und ihr wird angedroht: „Wenn Sie so weitermachen, dürfen Sie nur noch die Nachtnachrichten moderieren.“. Das ist halb so schlimm. Damit kann man noch leben und behaupten, der Grund ist ihre fehlende Professionalität und Einfühlung gegenüber ihrem Interviewpartner. Aber wenn genauso - mit dem gleichem Ton, mit der gleichen Stimme, mit dem gleichen Fehler - ein Interview geführt wird mit einer anderen Seite und da wird nichts gesagt, dann weiß man: Aha, es liegt nicht an der Interviewtechnik; es liegt an dieser Seite oder an jener Seite. Die erste hat einen syrischen Oppositionellen auseinander genommen und bekam Ärger, die zweite hat einen regierungsnahen syrischen Experten, auseinander genommen. Und das war lobenswert. Und die Botschaft für alle ist ganz klar: Das ist die Richtung. Das ist sehr raffiniert. Und automatisch neigt der Mensch - der davon lebt und seine Heimat in Algerien, in Marokko, in Sudan, in Jemen verlassen hatte und bei Al Jazeera gelandet ist, wo man mindestens das Zwanzigfache monatlich an Geld verdient - dazu zu sagen: „Mein Gott, das hat bestimmt alles seinen Sinn.“. Hinzu kommt eine absurde revolutionäre Atmosphäre, die in der Redaktion künstlich produziert wird. Denn normalerweise kann man einen anständigen Journalisten nicht so einfach kaufen. Der braucht mehr als nur Geld. Geld bleibt natürlich im Hinterkopf, aber man braucht Ideale. Und wir sind alle für die Revolutionen, wir sind die Stimme des Volkes. Wir reden und wir berichten im Sinne des Volkes! Wenn da mal ein professioneller Fehler dazwischen kommt, meine Güte! Was ist das im Vergleich zum Schicksal eines Volkes! Und genau das wird da richtig betrieben, diese atmosphärische Herstellung von Sachen.

Karin Leukefeld: Es gab aber ja auch - unter den arabischen Journalisten im Jahre 2011 eigentlich schon, nach den Ereignissen auf dem Tahrir-Platz, wo Al Jazeera ja rund um die Uhr gesendet hat und auch mehrfach festgenommen worden ist - schon eine Diskussion darüber, ob nicht die Journalisten oder die Medien insgesamt zu sehr zu Aktivisten geworden sind, anstatt eben professionell über die verschiedenen Seiten eines Konfliktes zu berichten. Wie sehen Sie das?

Aktham Suliman: Ich war selber in Ägypten als Mubarak gestürzt wurde. Und mein Kameramann und ich wurden von Demonstranten auf den Schultern getragen. Sehr schmeichelhaft. In dem Moment hat man das Gefühl: „Hej, das ist ja meine Revolution! Hej, meine Rolle ist ja unglaublich!“ Doch das war nur Zufall. Die waren nur froh, daß sie von Journalisten gesehen wurden und daß sie dadurch von der Welt gesehen wurden. Und als Mubarak weg war, wollten sie uns feiern. Viele Kollegen glauben leider das Spiel. Das ist wie ein Arzt, der idiotischerweise glaubt, er ist Lebensretter und nicht Vertreter eines Berufsstandes. Dass dieser Beruf auch Lebensrettung beinhaltet, ist ein Teil seines Berufes, aber er ist kein Lebensretter, er kann auch Mörder sein. Wir haben es auch geglaubt. Wir haben es geglaubt, weil die Atmosphäre im Sender, aber auch außerhalb, sehr bewegend war. Das waren emotionale Momete, Enthusiasmus bis zum Gehtnichtmehr. Etwas, das man in der arabischen Welt bis dahin nie gesehen hatte. Aber natürlich merkte man ein Unbehagen dabei. Zumindest diejenigen von uns, die professionelle Journalisten sind, wissen im Hinterkopf schon, dass wir bestimmte Regeln einzuhalten haben. Und dass diese Regeln vermehrt fallengelassen werden. Am Anfang nimmt man durch den Enthusiasmus den einen oder anderen Moment, wo so eine Sache passiert, hin. Aber, wenn man merkt, es wird immer mehr und das Ganze hat ein System (Das ist wichtig. Man macht nicht nur Fehler, sondern die Fehler gehen vermehrt in eine Richtung durch diesen Mechanismus, den ich beschrieben hatte.), dann fängt natürlich die Debatte an. Was machen wir? Also, ich hatte schon in Ägypten, im Februar, als Mubarak nicht mehr an der Macht war, die erste heftige Debatte mit meiner Redaktion. Sie wollten unbedingt, dass ich meinen schon erledigten und sehr reichhaltigen Beitrag über den politischen Tag in Kairo fallenlasse und über den Besuch von Sheik Yusuf al-Qaradawi, einem islamisches Oberhaupt, der erst am nächsten Tag nach Ägypten kommen sollte, berichte. Hier war die Botschaft indirekt, er muss gefeiert werden. Und wir Journalisten sollten in dem Moment dann die Bauchtänzer sein, die die Feier zelebrieren. Das habe ich abgelehnt. Mein Thema war ein anderes und was morgen passiert und ob das mit dem Besuch so wichtig ist, muss man ja erst abwägen. Aber da war wirklich keine Toleranz, das war wie ein Befehl: Das hat so stattzufinden. Und ich musste Ägypten praktisch in kürzester Zeit verlassen, weil ich nicht mehr nach dieser Pfeife getanzt habe.

Karin Leukefeld: Die Erfolge des arabischen Frühlings feiern ja nicht wirklich die Leute, die damit begonnen haben, sondern Gruppierungen und Parteien, die eine ganz stark islamische, islamistische Ausrichtung haben, insbesondere die Muslimbruderschaft. Spielt die Muslimbruderschaft im Sender Al Jazeera eine bestimmt Rolle? Sie haben vorhin von einer Schattenredaktion gesprochen. Kann man sagen, dass die Muslimbruderschaft oder deren Interessen von Al Jazeera besonders aufmerksam verfolgt werden?

Aktham Suliman: Ich habe einen Artikel geschrieben, in dem ich die These verreten habe, dass Al Jazeera zum Instrument der katarischen Außenpolitik geworden ist und da schrieb mir ein Freund aus Russland, ein linker Ägypter: „Instrument von der katarischen Außenpolitik? Sag mal, spinnst Du? Du weißt doch ganz genau, Al Jazeera ist ein Instrument der Muslimbrüder!“ Das wäre eine Parallel-These sozusagen. Lassen Sie uns eine Synthese aus dem Ganzen machen. Ich glaube, dass nicht Al Jazeera die Muslimbrüdern beherrscht, auch nicht die Muslimbrüder Al Jazeera, dass nicht Katar die Muslimbrüder kontrolliert oder umgekehrt, sondern ich glaube, die Fäden laufen letztendlich alle in eine Hand. Es sind alles Spielgrößen; Katar, Al Jazeera, Muslimbrüder usw. und die Hände, die das alles bewegen, zumindest, die die auf die Bewegung achten, sind die gleichen. Aber nicht, dass direkt das eine das andere beherrscht. Es gab Zeiten, wo die Muslimbrüder in Al Jazeera eine übergestellte Position hatten. Das muss man sagen. Alleine, wenn man weiß, dass der Chef von al Jazeera aus dieser Ecke kommt. Bei einer opportunistischen Umgebung neigen die Menschen dazu, in die Richtung dann mitzugehen. Als unser Chef selber den Muslimbrüdern nahe stand, gab es folgenden Witz bei Al Jazeera: Wie weiß man, ob der Chef in der Zentrale in Doha ist oder sich im Ausland aufhält? Man schaut auf die Moschee vom Sender. Wenn davor sehr viele Schuhe stehen, dann ist er im Lande. Die beten alle mit. Wenn er im Ausland ist, dann beten nur ein paar Leute und der Rest sagt, dann muss ich heute nicht beten... Also Atmosphärenherstellung ist in dem Zusammenhang natürlich sehr einfach. Und der Staat Katar, der Emir von Katar, macht kein Geheimnis daraus, dass sie die Muslimbrüder unterstützen. Sheik al-Qaradawi, den ich erwähnt hatte, ist ja letztendlich ein geistliches Oberhaupt der Muslimbrüder, auch wenn er jetzt nicht unbedingt Mitglied in dieser Partei oder in dieser Gruppe ist. In Ägypten und in Tunesien wurden sie nach dem arabischen Frühling durch Gelder, durch Medien, allen voran Al Jazeera unterstützt. Der erste Außenminister von Tunesien nach der Revolution, war jahrelang der Chef von Al Jazeeras Forschungszentrum in Doha. Man hat ihn also praktisch da in den Kühlschrank gestellt, bis er eine andere Rolle bekommen hatte. Diese Beziehung gibt es schon. Aber gefährlich wird es, wenn man behauptet, dass diese Beziehungen eindimensional sind, ideologisch sind. Ich glaube schon, dass es komplizierter ist. Also die Beziehungen haben eine ideologische Seite, sie haben Instrumentalisierungseffekte hier und da, aber im Großen und Ganzen gibt es auch Schwankungen. Das heißt, wenn das Projekt, einen neuen Nahen Osten mit den Muslimbrüdern und Golfstaaten und diesen „moderneren Islamisten“ – so nennt man sie, weil sie an die Wahlen glauben – wenn das Projekt irgendwo nicht klappt, dann hat man kein Problem damit, sie zurück zu pfeifen. Das hat man im Falle Syrien gesehen. Am Anfang des Aufstandes in Syrien wurden die Muslimbrüder genauso wie in Tunesien und Ägypten auf Al Jazeera poliert, geputzt und zur Schau gestellt nach dem Motto, die sind Spezialisten für „Andere machen Revolution und ich reite drauf...“. Nach einer gewissen Zeit hat man gemerkt, Syrien, so wie das Land zusammengestellt ist, was Bevölkerungsgruppen, Religionen, laizistische Vergangenheit betrifft, kann nicht so beherrscht werden und schon wurden sie zurückgepfiffen. Und dann waren die Minderheiten und die Christen und die Laizisten auf Al Jazeera gefragt. Dann kam eine Zeit, wo die Muslimbrüder wiederkamen, jetzt gibt es gerade Streitereien innerhalb der syrischen Opposition, weil die Muslimbrüder nicht nachgeben wollen, was Machtpositionierung angeht. Und Katar steckt hinter denen. Die Türkei spielt eine große Rolle, Erdogan. Aber, wie gesagt, das wird mehr insrumentalisiert. Ich fand es jedenfalls sehr faszinierend, wie – ich weiß nicht, war es John McCain oder Joseph Lieberman bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2012 – gesagt hatte: „Für uns Amerikaner gibt es radikale Islamisten, das sind Al-Qaida und die Führung in Iran und es gibt die gemäßigten, demokratischen Islamisten, das sind die Muslimbrüder wie Herr Jebali.“ und zeigt auf den Ministerpräsidenten von Tunesien. Das zeigt schon ein Gesamtbild; das ist ein Konzept für eine Region. Jetzt werden die Muslimbrüder praktisch als Schauprodukt hingestellt. Natürlich werden sie demokratisch gewählt, also das ist ja nicht das Problem. Der Trick dabei ist, oft fragen die Leute zum Beispiel bei der syrischen Opposition, „Wer ist Muslimbruder und wer ist nicht Muslimbruder? Dann, wenn die Nicht-Muslimbrüder die Mehrheit sind, sagt man „Bitteschön, die Muslimbrüder haben keine Mehrheit.“ Falsche Frage! Man muss immer fragen, welche organisierte Kraft die größte unter dieser Opposition ist. Und dann merkt man, das sind die Muslimbrüder. Dass der Linke und der Liberale und der Laizist und der Konservative nicht Muslimbrüder sind, ist interessant, aber die sind kein Block. Die anderen sind ein Block. Und das ist genau der Punkt. Al Jazeera und vor allem Katar haben eine große Rolle gespielt in den letzten zehn Jahren, nicht erst seit dem arabischen Frühling, bei der Revidierung der negativen Sicht des Westens auf die Muslimbrüder. Das ist geschehen durch diese Konferenzen „Amerika und die islamische Welt“. Jahr für Jahr in Doha in Katar trinkt man zwar kein Bier zusammen, aber schon einen Tee und man lernt sich kennen, man kommt sich näher, redet über die Region... Diese Region im Nahen Osten ist momentan sehr problematisch von außen gesehen, aus der Sicht der Großmächte. Es gibt nicht mehr die Nationalisten, auf die man sich verlassen konnte bei allen Streitereien. Oder die Linke, die eine organisierte Kraft wäre. Es gibt nur noch diesen politischen Islam, weil die anderen über die Entwicklungen in den letzten 20, 30 Jahren ihre Rückschläge zu verzeichnen hatten. Und man arrangiert sich mit dem politischen Islam als Westen, warum nicht? Für den Westen ist es ja egal.

Karin Leukefeld: Kann man sagen, dass Al Jazeera als ein professioneller Sender die Öffentlichkeit mit dem Einsatz besonders moderner Medien dahingehend beeinflußt hat? Al Jazeera ist ja nicht nur Fernsehsender, sondern hat zum Beispiel die Social Media, die Sozialen Medien, in die Berichterstattung stark integriert. Man konnte bloggen, man konnte twittern, „der Aktivist“ oder „die Person vor Ort“ wurde eingeführt. Aber hat dies dazu gedient, die Öffentlichkeit in eine bestimmte Richtung zu bewegen also eigentlich zu manipulieren? Kann man so weit gehen?

Aktham Suliman: Also Manipulation bedarf Beweisführung und die hat man nicht wirklich. Man kann aber auf der Gefühlsebene oder auf der geistigen Ebene schon sagen: es galt, dieses Vakuum bei der arabischen öffentlichen Meinung zu füllen. Das hat man gefüllt. Mit Glaubwürdigkeit, mit Berichterstattung höchsten professionellen Grades, mit der Konzentration auf die Themen, die für alle Araber interessant sind. Palästina, Irakkrieg und Ähnliches. Das finde ich nicht so schlimm. Schlimm ist, daß man, nachdem dieses Vakuum beseitigt wurde, versucht hat, die Leute um 180 Grad zu bewegen. Das ist genau das, was geschehen ist. Auf der Bewußtseinsebene sage ich mal: die Kapazitäten wurden gefüllt und dann wurde bewußt damit hantiert. Das hat man vor allem im Falle Libyen gesehen.

Karin Leukefeld: Politik wurde damit gemacht...

Aktham Suliman: Politik. Weil, letztendlich, Revolution hin oder her, das Land wurde von der Nato bombardiert. Und es ist anzunehmen, dass der eine oder andere zufällig dabei gestorben ist. Wir hatten in Libyen Bombardement, das sehr ähnlich war wie in Irak 2003. Nur 2003 war man gegen dieses Bombardement und 2011 hatten die Massen beinahe geschrien: „Bitte schnell Bomben!“ Es konnte ihnen nicht schnell genug sein. Weil man aus Gadaffi den Hampelmann gemacht hat, der in diesem Land herrscht. Viele vergessen aber dabei, dass Muammar Gaddafi zwei, drei Jahre hintereinander unser Silvestergast auf Al Jazeera war. Jeder Sender auf der Welt überlegt sich, wen hole ich für die Silvesternacht, damit es überhaupt Hoffnung gibt auf Zuschauer. Al Jazeera hat sich Gadaffi geholt, weil er so unterhaltsam mit seinen Ansätzen ist. Das hat man aber vergessen. Das ist das Komische. Kollegen und Zuschauer haben vergessen, dass Al Jazeera Gaddafi zwei Jahre früher als Silvestergast hatte. Ich habe persönlich seinen Sohn, Saif al-Islam al-Gaddafi, der ehemalige Kronfolger von ihm, hier in Deutschland interviewt und hatte kein Problem, das Interview abzusetzen. Dann auf einmal war Gaddafi und seine Familie und sein ganzes Regime ein Nichts und galt als zu vernichten. Das ist ja nicht schlimm, es mag dafür ja auch Gründe geben. Aber dieser Sprung von einem Extrem zum anderen darf bei einem bewußten Zuschauer nicht stattfinden, darf bei einem kritischen Journalisten nicht so durchgehen.

Karin Leukefeld: Lassen Sie mich nochmal auf die Rolle der Sozialen Medien im Verhältnis zu den bisherigen Medien Fernsehen, Rundfunk, Zeitung kommen. Wie würden Sie das bewerten? Hat Al Jazeera da auch einen Bann gebrochen, diese Sozialen Medien mit zu integrieren?

Aktham Suliman: Al Jazeera hat selber, ab 2006 ungefähr, versucht, diese Aufnahmen eines „Bürgerjournalismus“ zu betonen. Man hatte eine extra Internetseite eingerichtet, die weder ein Teil von Al Jazeera ist, noch kein Teil von Al Jazeera ist. Es wußte keiner so genau, was das ist.

Karin Leukefeld: Genau dieser Bürgerjournalismus wird auch von unseren Medien und der Politik sehr stark betont. Dass sozusagen der Mensch von der Straße sich äußern kann und dass das nun ein Zeichen von Demokratie ist.

Aktham Suliman: Natürlich ist das ein Zeichen von Demokratie, aber auch diese Demokratiezeichen lassen sich sehr gut instrumentalisieren. Natürlich ist es super, wenn man eigene Aufnahmen, eigene Ansichten im Internet veröffentlicht. In dem Moment aber, wo, um jetzt bei Deutschland zu bleiben, ein ZDF dies übernimmt und ausstrahlt, fangen die Probleme an. „Wollte ich ein ZDF oder die Öffentlichkeit fragen? Und wenn ich ein ZDF fragen wollte, warum habe ich es dann nicht über das ZDF gemacht? Weil ich keine Chance über das ZDF hatte... Warum hatte ich keine Chance über das ZDF? Und welche Kriterien beherrschen die Arbeit von ZDF, so dass ich nicht reinkam. Und was hat sich geändert, dass ich auf einmal da bin?“. Das heißt nicht, dass man alles verdächtigen muss, aber das heißt, dass man über alles nachdenken muss. Der Bürgerjournalismus ist sehr gut, um Aufnahmen von z.B. Gewalttaten zu machen, aber er ist sehr schlecht darin, dies journalistisch zu verpacken und dem Ganzen einen Sinn zu geben. Das ist das Problem. Vor allem, wenn dieser Journalismus-Bürger als Beteiligter gilt, dann frage ich mich: wo bleibt hier die Wahrheit? Als man 2003 mit der US-Armee in den Irak einmarschierte, waren viele Journalisten, vor allem deutsche und arabische Kollegen und andere darauf aus zu betonen: „Wir sind mit den Amerikanern zusammen, das ist unsere Perspektive“ – ganz nach dem Motto: „Vorsicht, ich kann nicht alles sehen. Nicht die ganze Front. Wir sind gebunden an bestimmte Vorgaben, es gibt einen bestimmten Blickwinkel.“ Das Gleiche gilt auch für diese Bürger, die Journalismus betreiben. Das ist etwas, was wir nicht kontrollieren können. Und in dem Moment, wo es auf ZDF oder Al Jazeera oder ARD oder CNN ausgestrahlt wird, gewinnt das an Glaubwürdigkeit. Das ist eine Art Adoption. Auch wenn man sagt, „Für die Richtigkeit der Bilder können wir nicht garantieren“. In dem Moment, wo man das übernimmt, hat man einen Qualitätsstempel draufgeknallt. Es ist nicht so, dass diese Bilder nur im Internet kursieren. Die landen bei dem Sender. Die schwammige Herangehensweise, die durchlässigen Grenzen gilt es zumindest als kritisch zu betrachten. Also ich finde schon, dass Al Jazeera das aufs Schlimmste missbraucht hat – bis hin zum Inkaufnehmen, dass Menschen sterben. Es gab einen Aktivisten in Syrien, in Daraa, er hieß Muhammed al-Hourani. Er ist Aktivist, läuft mit den Rebellen rum, macht seine Aufnahmen und dient seiner Sache. Für ihn ist das die Dokumentation, von dem, was er glaubt. Man hat ihn für Al Jazeera engagiert. Engagiert heißt, nur Kontaktaufnehmen und die Bilder gehören uns und vielleicht ein bißchen zahlen... Und der hat dann ein Logo von Al Jazeera auf seinem Mikro. In dem Moment fragt man sich, ist er jetzt Al-Jazeera-Journalist, der zwischen den Fronten zu berichten hat oder ist er ein Aktivist? Und genau dieser Mensch wurde erschossen, als er mit dieser Freien Syrischen Armee unterwegs war. Er hatte keine Schutzweste, gar nichts. Und als er erschossen wurde, hieß es: erstens, er ist ist ein Märtyrer und ist im Paradies, zweitens, er ist ja nur ein freier Mitarbeiter. Aber hallo! Ich weiß nicht, ob er nicht durch dieses blaue Al-Jazeera-Mikro übermutig wurde. Ich weiß nicht, ob dieser Mensch, der ja nicht qualifiziert wurde für Medienarbeit, ob ihm das nicht in den Kopf gestiegen ist und er sich in Situationen begeben hatte, in die sich kein professioneller Journalist begeben würde. Politisch, technisch, militärisch. Ich weiß nicht, ob wir – Al Jazeera, meine ich – nicht auch Mitverantwortung haben für seinen Tod. Auf der anderen Seite: Nehmen Sie mal an, jetzt wird in Syrien Waffenstillstand erreicht, Al Jazeera darf wieder mit anderen Medien da rein, und ein Al-Jazeera-Mitarbeiter, ein professioneller Journalist aus der Zentrale, ist in Syrien und einer hält ihn für einen Beteiligten, weil man AktivistInnen benutzt hatte und ihm geschieht auch was. Diese Sache – Vermischung von Aktivist und Journalist – ist für beide Seiten sehr, sehr schlecht. Genauso gilt das für Ärzte und Soldaten. Rotes Kreuz ist Rotes Kreuz. Soldat ist Soldat. Das sind die Regeln, auf die wir uns geeinigt haben. Und die werden immer durchlässiger.

Karin Leukefeld: Lassen Sie mich noch eine Frage stellen zum Emir von Katar, der ja den Sender finanziert, der ihn aufgebaut hat, der ihn auch gegen heftige Kritik aus den USA verteidigt hat – während des Aufghanistan-Krieges, während des Irak-Krieges und sich damit natürlich für sich als Person, aber auch für den Sender Vertrauen erworben hat, indem er sozusagen auch die Interessen der kleinen Leute vertreten hat. Ist der Emir von Katar nun ein Vertreter der Interessen der arabischen Öffentlichkeit, indem er so einen Sender finanziert und auch verteidigt gegenüber Kritik?

Aktham Suliman: Lassen Sie uns die These aufstellen, er wäre dieser Vertreter. Biographisch. Wo kommt das her? Stellen Sie sich vor, wie ein Emir von Katar in seinem Werdegang zu seinem Posten kommt. Abgesehen von dem Putsch gegen den eigenen Vater. Davor Militärakademie in London, davor in Doha. Also, wo soll das herkommen? Wo soll diese öffentliche arabische Massen-Meinung überhaupt bei ihm durchsickern? Das geht ja gar nicht. Lassen Sie uns ehrlich sein: der ist ja nicht Nasser, der ist ja nicht Che Guevara, der mit dem Bauern im Dschungel gelebt hatte. Also kann das nur ein Bild sein. Also diese These kann sich nicht bestätigen. Er hat höchstens eine – sag ich mal – „Golfmentalität“ drauf. Das heißt, er versucht, mit Geld die Dinge zu erledigen, die Dinge einfacher zu sehen, vielleicht religiös angehaucht zu sein. Aber man kann nicht sagen, er könnte einen Nasser ersetzten. Nasser ist nicht nur der Mensch. Es war die historische Phase, Ägypten als Land, Nasser innerhalb Ägyptens... und dann erst kommt die Mischung zustande, wo man, wie man sagt, eine historische Rolle spielt. Der Emir von Katar hat Al Jazeera gekauft, hat also die Leute für Geld zu sich geholt... Der Emir von Katar ist jetzt vielleicht eine Ebene zu hoch für die Analyse. Nehmen Sie einen einfachen Journalisten, eine Moderatorin bei Al Jazeera, die vielleicht auf dem Bildschirm „Revolution“ ruft und richtig die Hölle brennen läßt. Was denken Sie, wenn sie nach Hause kommt – ob sie unterwegs einkauft? Was denken Sie, wo die Kinder sind? Die sind bei der Frau aus Bangladesch, aus Indien, die in einem kleinen Raum in der Wohnung lebt, die auf die Kinder aufpaßt, die Einkäufe erledigt, kocht, macht, tut. Man verdient gut bei Al Jazeera. Und das ist genau das, was es nie gab in der Weltgeschichte: Revolutionäre, die sechs-, sieben-, acht-, zehntausend Dollar im Monat verdienen, Anzüge anhaben, modernste Autos, ihre Kinder werden von Kindermädchen aufgezogen und am Ende des Tages sind sie revolutionär. So unwahr dieses Bild ist, so gekünstelt dieses Bild ist, so ist auch das ganze Land mitsamt dem Herrscher dieses Landes anzusehen.

Karin Leukefeld: Ist denn dann der arabische Frühling, den wir über Al Jazeera im Wesentlichen auch in den deutschen Medien berichtet bekommen haben, auch eine solche Chimäre, ein solches Trugbild?

Aktham Suliman: Hier muss man auch zwei Ebenen betrachten. Erstens: es gab den Aufstand. Und es gab ihn aus gutem Grund, der wirklich für die gesamte arabische Welt gilt. Es gab Unterdrückung, es gab Gewalt, es gab Willkür, es gab das alles. Also auf der Ebene müssen wir uns einig sein. Darüber hinaus, der Sprung zur Revolution – das ist genau der Trick, daraus eine Revolution zu machen oder einen „Frühling“ - das war das Werk von den Medien, allen voran Al Jazeera, der westlichen Welt usw. Hier fand die Manipulation, hier fand das Spiel statt. Explosionsstoff gab es genug, das wußten alle, aber die Folgen der Explosion in eine bestimmte Richtung zu lenken – genau das war das Spiel und das konnte nur funktionieren, wenn man jetzt von Frühling spricht, von Revolution. „Revolution, Revolution, Revolution! Wunderbar, Hauptsache, Mubarak ist weg, danach wird alles gut.“ Heute in Syrien: „Assad, warum geht er bloß nicht... Ein ganzes Land wartet nur darauf, dass ein Mensch weggeht, der soll endlich weggehen, dann ist ja gut!“ Keiner denkt wirklich nach...

Karin Leukefeld: Es gibt keine Analyse.

Aktham Suliman: Genau! Analysefähigkeit wird ausgeblendet. Alles muss schnell gehen. Deswegen: die Länder, in denen das schnell ging, die haben nicht die Chance nachzudenken – Ägypten, Tunesien. In Syrien dauert es schon mehr als zwei Jahre. Jetzt fängt man an zu denken: „Moment mal, aber wenn das gesamte Volk gegen diesen einen und seine Familie ist, dann kann das doch nicht zwei Jahre dauern, bis er weg ist!“ Dann überlegt man: “Wenn das Demokraten sind, warum hacken sie Köpfe ab? Oh, dann sind die vielleicht was anderes.“ Neulich der Sicherheitsrat, neue Resolution: Al-Nusra-Front in Syrien ist eine Terror-Organisation. „Toll, warum haben wir die zwei Jahre lang unterstützt?“ Verstehen Sie? Man bräuchte nur Zeit und Ruhe - um nicht jetzt unsere Herrscher in der arabischen Welt als toll zu empfinden. Die haben genug Zeit gehabt und haben es nicht geschafft, dass die Leute sie als toll empfinden! – aber um zu verstehen, was eine Revolution ist. Revolution ist immer etwas nach vorne Gerichtetes, ist eine Vorstellung von dem, was sein muss, nicht von dem, was weg muss. Das, was weg muss – da brauch ich keine Revolution dafür. Wenn ich einen Hund in den Hintern trete, dann bellt der Hund. Das ist noch keine Revolution. Wenn der Hund aber eine Vorstellung hat, wie eine Welt entstehen soll, in der die Hunde uns an die Leine nehmen, das ist dann die Revolution. Und genau das fand nicht statt. Und genau da hat Al Jazeera, haben viele politische Akteure dahingehend gwirkt, dass die Leute das Gefühl haben, es ist eine Revolution, ohne dass es eine Revolution ist.

Karin Leukefeld: Als Journalist, der so viele Jahre bei diesem Sender gearbeitet hat mit ihrer ganzen Einschätzung und ihrem Verstehen von dem, was in der arabischen Welt passiert ist und immernoch passiert... Was sind Ihre Schlüsse, die Sie aus der Arbeit bei Al Jazeera ziehen? Was sind Ihre Schlüsse aus der Medienberichterstattung in dieser Zeit überhaupt - für Sie beruflich und für die Zukunft?

Aktham Suliman: Es ist natürlich ernüchternd, wenn man so eine Erfahrung macht. Man will nicht daran eingehen, das ist klar. Aber ich bin umso skeptischer geworden gegenüber Fernsehen, gegenüber Nachrichtensendern und gegenüber mir selbst. Wenn man wirklich etwas verstehen will, muss man lesen. In Ruhe lesen und lange lesen. Mit einer schnelle Beschreibung „So fällt das Flugzeug aus dem Himmel“ erfahren Sie nie, wie ängstlich dieser Mensch war, der sich darin befunden hatte. Durch die schnelle Kriegsnachricht werden Sie nie dieses unbeschreibliche und nicht bildhaft darzustellende Unruhegefühl bei den Menschen, die Bomben hören, vestehen. Die ist höchstens gut, um eine Pizza am Abend zu essen, die schnell zu verschlucken wäre bevor sie kalt wird. Aber Journalismus in diesem hastigen Sinne, der muss auf jeden Fall durchdacht werden und deswegen habe ich keine wirkliche Lust mehr auf Nachrichtenbeiträge. Auf dieses: „Ich war der erste, der den interviewt hat. Ich war der erste, der das Bild geliefert hat.“ Das ist alles so lächerlich, wenn man es rückblickend sieht. Und zum Teil habe ich das gemacht, als Fernsehjournalist, als Nachrichtenjournalist... Ich bin eher scharf auf Dokumentationen, und darauf, dass ich beim Tun auch nachdenke. Ich will nachdenken, damit überhaupt mein Zuschauer noch nachdenken kann. Aber wenn nicht mal ich nachdenke, dann geschweige der, der das in seinem Wohnzimmer begleitet. Dann denkt man: „Ja, irgendwo in Mali da war irgendwas, Franzosen waren da, Al-Qaida ist auch da irgendwie, die Deutschen nicht ganz aber halb...“ Verstehen Sie, da geht es um Menschenleben, da geht es um die Zukunft von Ländern, um Weltentwürfe und wir beschäftigen uns mit Sachen, wo man am Abend denkt, man ist informiert und man ist tatsächlich total desinformiert. Ich will mit Folgendem abschließen: Ein kluger, iranischstämmiger Kollege hat vor einigen Jahren ein Buch geschrieben. Schön fand ich die Beschreibung: „Stellen Sie sich vor, der Dritte Weltkrieg bricht aus und Sie kriegen das gar nicht mit.“ Ich will nicht daran denken, was wir alles nicht mitkriegen durch unsere Informations- und Berichterstattung.

Karin Leukefeld: Herr, Suliman, vielen Dank für dieses Gespräch mit weltnetz.tv

Aktham Suliman im Gespräch mit weltnetz.tv
Aktham Suliman im Gespräch mit weltnetz.tv

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