Am 10. März 2015 nahm Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras vor dem Parlament in Athen zu den Forderungen nach Reparationen an die deutsche Regierung Stellung. In seiner Rede geht der linksgerichtete Politiker auch auf die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ein, darunter die Londoner Schuldenkonferenz, einseitige Entschädigungszahlungen von Deutschland an Griechenland im Jahr 1960 und den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990.
Transkript der Rede:
Sehr geehrte Frau Präsidentin,
Meine Damen und Herren Abgeordnete,
Dass ich mich in dieser historischen Sitzung an Sie wende, hat nicht nur symbolische sondern auch substantielle Gründe. In erster Linie, um der Opfer des Zweiten Weltkrieges zu gedenken. Aber auch, um alle jene Kämpfer in der ganzen Welt zu ehren, die ihr Leben für die Freiheit ihrer Heimat opferten. Die ihr Leben gaben, um den Nazismus zu besiegen, der die Welt mit seinem Schatten verdunkelte.
Ich stehe heute auch vor Ihnen, um die Soldaten des nationalen griechischen Widerstands zu ehren, die ihr Leben gaben, um der Besatzung und den Gräueltaten der Nazis ein Ende zu setzen.
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Damit wir heute in einem freien und souveränen Land leben können.
Einige mögen sagen, es gibt keinen Grund in die Vergangenheit zu blicken – nur in die Zukunft.
Aber wie kann ein Land und sein Volk in die Zukunft blicken ohne die Vergangenheit anzuerkennen?
Wie kann ein Land vorankommen, wenn es seine kollektive Erinnerung auslöscht und seine historischen Opfer und Kämpfe ignoriert?
Schließlich ist das alles noch nicht so lange her.
Die Generation, die die Nazi Besatzung und den nationalen Widerstand durchlebt hat, ist noch am Leben.
Die Folterungen und Hinrichtungen, die in Distomo und Kessariani, in Kalavryta und Viannos stattfanden, sind noch frisch im kollektiven Gedächtnis unseres Volkes, ebenso die Verbrechen und Zerstörungen, die die Truppen des Dritten Reichs ganz Griechenland und Europa zugefügt haben.
Diese Erinnerungen müssen für die jüngeren Generationen wach gehalten werden.
Es ist unsere historische, politische und moralische Pflicht diese Erinnerungen zu bewahren.
Wir tun dies, nicht um Argwohn und Feindschaft zwischen unseren Völkern zu säen, sondern damit wir die Verwüstungen nicht vergessen, die der Nazismus und Faschismus angerichtet haben.
Wir tun dies, um uns daran zu erinnern: Wenn Solidarität, Freundschaft, Kooperation und Dialog ersetzt werden durch ein Gefühl der Überlegenheit und historischen Bestimmung, wenn Respekt ersetzt wird durch rassistische oder soziale Intoleranz, dann obsiegt der Krieg und die Finsternis.
Und Europa hat diese Finsternis durchlebt.
Es hat sie erlebt und zu hassen gelernt.
Dies ist einer der Hauptgründe, warum die europäischen Länder 1957 Verfahren eingeleitet haben, damit niemals mehr die Sirenen des Krieges erklingen.
Wir sollten nicht vergessen, dass auch das deutsche Volk unter den Nazis gelitten hat. Und dass der Nazismus in Deutschland triumphierte, weil das deutsche Volk davor gedemütigt worden war.
Das soll natürlich nichts entschuldigen, aber es soll erklären.
Eine Lektion aus dem 20. Jahrhundert – eine, die uns an Eric Hobsbawm erinnert.
Nach dem Ersten Weltkrieg herrschten Hass und Revanchismus, und es war kurzsichtig zu denken, der Verlierer müsse für seine Vergehen gedemütigt werden, und ein ganzes Volk wegen seiner Niederlage Demütigung und Elend erfahren.
Dieses Denken hatte dazu geführt, dass so viele junge Menschen auf der ganzen Welt und auch in Deutschland ihr Blut vergossen.
Die Völker Europas und ihre Führer sollten sich erinnern und Konsequenzen aus der jüngsten europäischen Geschichte ziehen.
Europa darf die gleichen Fehler nicht wiederholen.
Meine Damen und Herren Abgeordnete,
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurden Lehren aus der Geschichte gezogen.
Trotz der Verbrechen des Dritten Reiches und der massiven Zerstörungen durch Hitlers Soldaten, trotz des ungeheueren Verbrechens des Holocaust, wurde Deutschland die Möglichkeit gegeben – und das zu Recht – von einer Reihe von Maßnahmen zu profitieren.
Die wichtigsten waren: Erlass der Schulden aus dem 1. Weltkrieg, das Londoner Schuldenabkommen von 1953 und natürlich auch die enormen Summen, die die Alliierten Deutschland für seinen Wideraufbau zukommen ließen.
Das Londoner Schuldenabkommen jedoch erkennt die letzten deutschen Reparationen aus dem 2. Weltkrieg an, die durch einen endgültigen Friedensvertrag geregelt werden sollten. Eine Friedensregelung wurde wegen der deutschen Teilung erst 1990 unterschrieben.
Die deutsche Wiedervereinigung schuf die notwendigen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen um das Problem zu lösen. Doch alle deutschen Regierungen entschieden sich zu schweigen, juristische Spitzfindigkeiten zu nutzen, zu verzögern, zu vertagen.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren Abgeordnete
Ist dies wirklich eine moralische Haltung?
Da ich mich auf juristische Spitzfindigkeiten bezog und da diese Fragen von entscheidender Bedeutung sind, möchte ich ausführlich erklären was ich meine um Missverständnisse zu vermeiden.
Wenn Deutschland akzeptiert zumindest Stellung zu beziehen zur Frage seiner Schulden gegenüber Griechenland aus dem 2. Weltkrieg, dann erinnert es an unser bilaterales Abkommen von 1960. Als es freiwillig 115 Millionen Mark Wiedergutmachung zahlte und das damalige Königreich Griechenland zustimmte, keine weiteren relevanten Ansprüche zu stellen.
Diese Vereinbarung war allerdings nur eine Entschädigung für die griechischen Nazi-Opfer und nicht für die Schäden, die dem Land selbst zugefügt wurden.
Und natürlich bezog sich das auch nicht auf die Zwangsanleihe oder Entschädigung für Kriegsverbrechen, als Folge der fast vollständigen Zerstörung der griechischen Infrastruktur und des wirtschaftlichen Niedergangs während des Krieges und der Besatzung.
Ich bin mir bewusst, dass es hier um sehr technische und sensible Themen geht und dies vielleicht nicht das beste Forum oder der beste Augenblick für weitere Ausführungen ist.
Die notwendige Klärung und fachliche Arbeit werde nicht ich sondern Experten leisten. Juristen und Historiker.
Ich möchte dem griechischen und dem deutschen Volk versichern, dass wir uns diesem Thema mit der erforderlichen Sensibilität widmen werden, mit Verantwortungsbewusstsein und Ehrlichkeit, mit einer Haltung, die Verständigung und Dialog fördert.
Wir erwarten jedoch das Gleiche von der deutschen Regierung.
Aus politischen, historischen, symbolischen und moralischen Gründen.
Meine Damen und Herren Abgeordnete,
Angesichts der moralischen Töne, die in den letzten Jahren den öffentlichen Diskurs in Europa prägten, werden wir uns weder wie ein Student verhalten, der seinen Blick senkt, wenn er vor dem moralisierenden Lehrer steht, noch werden wir zum Moralprediger, der mit erhobenem Zeigefinger dem vermeintlichen Sünder droht und von ihm verlangt für seine Sünden zu zahlen.
Im Gegenteil, wir entscheiden uns für den Weg der Verhandlung und des Dialog, des gegenseitigen Verständnisses und der Gerechtigkeit.
Wir sind weder daran interessiert einen göttlichen Tadel auszusprechen, noch unsere unveräußerlichen Ansprüche aufzugeben.
Es geht hier nicht um eine Lektion in Moral, weder um seine Erteilung, noch um seine Hinnahme.
Seit einiger Zeit mussten wir uns eine Reihe bösartige Aussagen von ausländischen Politikern anhören. Das erinnert uns an eine Passage in der Bergpredigt von Jesus: Sie sehen den Splitter im Auge des Bruders aber nicht den Balken in den eigenen.
Meine Damen und Herren Abgeordnete, Frau Präsidentin,
Zum Abschluss meiner kurzen Rede, möchte ich Ihnen versichern, dass die griechische Regierung sich unermüdlich bemühen wird, um durch Dialog und ernsthafte Verhandlungen Lösungen für die komplexen Probleme zu finden mit denen Europa konfrontiert ist.
Wir arbeiten, um unseren Verpflichtungen in vollem Umfang zu erfüllen.
Gleichzeitig aber setzen wir uns dafür ein, dass alle nicht eingelösten Verpflichtungen gegenüber Griechenland und seinem Volk erfüllt werden.
So wie wir uns engagieren unsere Verpflichtungen zu erfüllen, so erwarten wir diese Haltung auch von allen anderen.
Moralische Maßstäbe kann man nicht nach Gutdünken einsetzen, je nach den Umständen.
Die neue griechische Regierung wird uneingeschränkt die Initiative unterstützen, um das Komitee für Kriegsentschädigungen durch Deutschland wieder zu beleben und es mit größeren Kompetenzen auszustatten.
Wir werden es ehrlich und substantiell unterstützen und nicht zu Kommunikationszwecken nutzen.
Wir sind bereit jede politische und juristische Unterstützung zu leisten, damit die Bemühungen des Komitees Früchte tragen und im Rahmen seines Mandats substantielle Ergebnisse vorweisen kann.
Um eine Lösung zu finden.
Um die nicht eingelöste moralische, materielle und historische Schuld zu ahnden, eine Schuld nicht gegenüber den Griechen sondern gegenüber allen in Europa, die im Kampf ihr Blut vergossen und den Nazismus besiegt haben.
Wir schulden es unserer Geschichte.
Wir schulden es den Widerstandskämpfern.
Wir schulden es den Opfern des 2. Weltkriegs.
Wir schulden es Europa und seinen Völkern, die das Recht haben ihre Geschichte zu bewahren und eine Zukunft zu erstreben, frei von jeglichem Totalitarismus.
Ich danke Ihnen.
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