Die letzte Schlacht

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Ein Hintergrund zu Syrien und der Tankerkrieg im Mittelmeer

 

Kaum ein Tag vergeht, an dem in hiesigen Medien nicht etwas über neue Katastrophen in der nordwestsyrischen Provinz Idlib steht. Zuletzt titelte die Deutsche Presseagentur (dpa): „UN: Regierungsoffensive in Syrien vertreibt mehr als 400.000 Menschen.“ Die Botschaft ist klar: Zivilbevölkerung und „Rebellen“ werden von der syrischen Armee niedergemacht.

Die Agentur beruft sich auf den UN-Vertreter in Damaskus, der zum monatlichen Bericht des UN-Büros für Nothilfe (OCHA) Stellung bezog. Zitiert wird auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, die am Freitag der syrischen Regierung und ihren Verbündeten (Russland, Iran, kl) vorwarf, Kliniken, Schulen und andere zivile Infrastruktur anzugreifen. Weil das so häufig geschehe, seien die Angriffe kein Zufall und damit Kriegsverbrechen, so Bachelet. Auf die wiederholten Reaktionen Russlands zu den Vorwürfen, ging sie nicht ein1, 2.

 

Dem Bericht wurde eine Liste von Angriffen zwischen dem 16. und 25. Juli beigefügt, die ausschließlich das Gebiet der Al-Qaida-nahen Organisation Hayat Tahrir al Sham (HTS) und mit dieser verbündeten Kampfverbänden trafen. Diese Gruppe, die von der UNO als Terrororganisation gelistet ist, wird von der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte nicht erwähnt. Immerhin hatte schon der frühere US-Beauftragte für den Anti-IS-Kampf Brett McGurk 2017 darauf hingewiesen, dass vor den Toren der Türkei in Idlib ein „Sicherer Hafen für Al Qaida“ entstanden sei, siehe auch weiter unten.

 

Auf die Opfer jenseits der HTS-Gebiete geht Bachelet in einem Nebensatz ein. Ihr lägen Informationen von drei Angriffen vor, bei denen 11 Zivilisten getötet wurden, die zwischen dem 21. und 23. Juli von „nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen in dem von der Regierung kontrollierten Gebiet“ verübt worden seien. Trotz einer Deeskalationsvereinbarung 2017 und einer vereinbarten entmilitarisierten Zone 2018 seien Idlib und die umliegenden Gebiete einer „schweren militärischen Eskalation“ ausgesetzt.

 

Das ist richtig, doch jeder Journalist und jede Journalistin müssen sich angesichts einer solchen Erklärung fragen, was ist da los? Warum funktioniert die Deeskalation nicht, warum wird in der entmilitarisierten Pufferzone um Idlib herum so schwer gekämpft? Worum geht es, wurde etwas getan, um die Zivilbevölkerung zu schützen? Was sagt die syrische Armee, was ihre Verbündeten zu den Vorwürfen?

Der folgende Text geht auf die Hintergründe, Entwicklungen und Stellungnahmen ein.

 

Warum gibt es Krieg in Idlib?

 

Mitte der Woche zeigte sich die Bundesregierung „sehr besorgt“ über das Geschehen in der nordwestsyrischen Provinz Idlib. Es habe die „schlimmsten Luftangriffe des syrischen Regimes und seiner Verbündeten auf von Zivilisten bevölkerte Gebiete seit Beginn der Offensive vor drei Monaten“ gegeben, hieß es in einer Erklärung des Auswärtigen Amtes in Berlin3.

 

Dabei sei am vergangenen Montag ein Markt in Maarat al-Numan getroffen worden. Nach Angaben der Vereinten Nationen seien dabei mindestens 59 Zivilisten getötet und weit über 100 Personen verletzt worden. Man fordere „alle Konfliktparteien, insbesondere das syrische Regime und seine Verbündeten, mit Nachdruck dazu auf, alle Angriffe sofort zu unterlassen“, so die Erklärung des Auswärtigen Amtes weiter. Man solle sich an die Waffenstillstandsvereinbarung von September 2018 halten und den „Schutz der Zivilbevölkerung sowie von humanitären Helfern (…) garantieren“. Man verurteile gezielte Angriffe „auf die Zivilbevölkerung sowie auf medizinische Einrichtungen und humanitäre Helfer (…) aufs Schärfste“.

 

Die Erklärung von Mark Cutts, dem Stellvertretenden Regionaldirektor des UN-Büros für die Koordinierung Humanitärer Hilfe (OCHA) in Gaziantep (Türkei) fällt differenzierter aus4.

 

Danach gab es an besagtem Montag „tödliche Luftangriffe an verschiedenen Orten“ im Süden der Provinz Idlib. Auf dem Markt in Maarat al Numan seien „mindestens 39 Personen“ getötet worden, „darunter acht Frauen und fünf Kinder“. Ein weiteres Ziel sei ein Markt in Sarakeb gewesen, dort seien acht Personen getötet worden, darunter eine Frau und vier Kinder. In Wohnvierteln der nordsyrischen Stadt Aleppo seien zudem sieben Personen durch den Beschuss von Mörsergranaten getötet worden.

 

Erst vor einer Woche sei in Maar Shurin, einem Ort unweit von Maarat al-Numan ein Markt angegriffen worden, wobei 12 Personen starben und 20 verletzt wurden, so der OCHA-Regionaldirektor weiter. Es gäbe Angriffe auf wichtige zivile Infrastruktur, die UNO habe seit Beginn der Kämpfe Anfang Mai den Tod von mehr als 400 Zivilisten dokumentiert. „Der Alptraum in Idlib wird schlimmer“, so Cutts und verwies auf drei Millionen Zivilisten in Idlib, die „nirgendwohin gehen“ könnten: „Mehr als eine Millionen von ihnen sind Kinder.“ Alle Kriegsparteien müssten ihren Verpflichtungen nachkommen und das „humanitäre Völkerrecht achten“, so der OCHA-Vertreter. „Zivilisten müssen geschützt und die Arbeit der humanitären Helfer möglich gemacht werden.“

 

Was in der Auflistung des UN-Nothilfekoordinators fehlte, waren die Angriffe der Terrorgruppen um Hayat Tahrir al-Sham (HTS), der Al Qaida-nahen Allianz zur Befreiung Syriens, auf die Zivilbevölkerung, die in Dörfern unweit der Provinzgrenze Idlib/Hama lebt. In Nour Jourin und Suqailabiya starben sieben Personen, darunter zwei Schülerinnen, eine unbekannte Zahl von Personen wurde verletzt.

 

Die syrische Nachrichtenagentur SANA berichtete, dass die Menschen getötet wurden, als eine Rakete ihren Kleinbus traf. Abgefeuert wurden demnach die Raketen in Al Habbit, einem Ort im Süden der Provinz Idlib und auch in Kafr Zeta, einem Ort im Norden der Provinz Hama. Die syrische Armee habe daraufhin die beiden Orte unter heftigen Beschuss genommen und „viele Terroristen getötet“. SANA berichtete auch über die sieben getöteten Zivilisten in Aleppo. Konkret starben sie in den Stadtvierteln Al Hamadaniyah und Jamiliya, die im Westen von Aleppo liegen. Terrorgruppen, die sich westlich von Aleppo in Al Rashideen aufhielten, hätten Raketen auf die beiden Wohnviertel gefeuert5.

 

Um seiner Sorge über Idlib Ausdruck zu verleihen, schickte auch Papst Franziskus einen Emissär nach Damaskus, wie Vatikansprecher Matteo Bruni mitteilte. Kardinal Peter Turkson habe dem syrischen Präsidenten Bashar al-Assad einen Brief des Papstes überreicht, in dem dieser seine „tiefe Besorgnis über die humanitäre Lage in Syrien“ zum Ausdruck gebracht habe, insbesondere in Idlib6.

 

Der Brief enthalte eine lange Liste mit konkreten Forderungen an Präsident Assad:

„Schutz des zivilen Lebens, Beendigung der humanitären Katastrophe in der Region Idlib, konkrete Initiativen für die sichere Rückkehr von Vertriebenen, Freilassung von Häftlingen und Zugang von Familien zu Informationen über ihre Angehörigen, humanitäre Bedingungen für politische Häftlinge.“

Außerdem habe Franziskus zur „Wiederaufnahme des Dialogs und der Verhandlungen unter Beteiligung der internationalen Gemeinschaft“ aufgerufen.

 

Bashar al-Assad betonte, dass aus den Gebieten, die von Terrororganisationen kontrolliert würden, Verbrechen und Angriffe auf die Bevölkerung verübt würden, berichtete die syrische Nachrichtenagentur SANA. Das treffe vor allem für Idlib zu, so Assad, der darauf hinwies, dass einige dieser Organisationen von regionalen und westlichen Staaten unterstützt würden. Um den politischen Prozess zu fördern, sei es vor allem wichtig, dass die ausländische Unterstützung für diese Terrororganisationen eingestellt werde, so Assad. Die Unterstützung verlängere den Krieg ebenso wie die Sanktionen, die diese Staaten gegen Syrien verhängt hätten. Wenn sie ihr Verhalten änderten, könne das Frieden und Stabilität in Syrien fördern7.

 

Der Franziskanerpater Firas Lutfi aus Aleppo bedankte sich für den Papst-Brief. In einem Interview mit Vatican News hob er die „direkte Art“ des Papstes hervor, „den Dialog zu suchen“8.

 

In Idlib sei die „Präsenz ausländischer Dschihadisten ungebrochen“, so Pater Lutfi. Dort seien bis zu 100.000 Kämpfer, die täglich Menschenrechtsverletzungen begingen: „Vor einer Woche wurde eine Lehrerin von sechs Dschihadisten entführt, vergewaltigt und am Schluss gesteinigt. Die Lage ist wirklich ernst.” Der Krieg in Syrien sei längst „ein internationaler Krieg“ geworden, so Lutfi. Nach Angaben des Nuntius in Damaskus, Kardinal Mario Zenari, seien „mehr als 60 verschiedene Truppen auf syrischem Gebiet“.

 

Bruch des Völkerrechts

 

Gemeint sind internationale Truppen, die im Rahmen der US-geführten „Anti-IS-Allianz“, genannt „Inherent Resolve“, zu Deutsch: Innere Entschlossenheit, in und im Luftraum über Syrien operieren. Tatsächlich vereint diese Allianz 70 Staaten und vier internationale Organisationen unter ihrem Kommando: Arabische Liga, Europäische Union, Interpool und die NATO9.

 

Der Einsatz ist völkerrechtswidrig, ein Mandat des UN-Sicherheitsrates gibt es nicht.

 

Das ist in Syrien — und aktuell auch in Idlib — für diese selbst ernannten „Freunde Syriens“ kein Problem1011.

 

Sie führen Interessen der eigenen, nationalen Sicherheit ins Feld und warnen vor dem Einsatz chemischer Waffen durch die syrischen Streitkräfte. Die syrische Regierung hat den Vorwurf vom ersten Tag an dementiert und alle chemischen Waffenbestände unter internationaler Kontrolle nachweislich vernichtet. Die „Freunde Syriens“ klagen Russland an, gemeinsame Entscheidungen des UN-Sicherheitsrates zu blockieren, darum sei eine eigene Streitmacht installiert worden.

 

Zu den Ereignissen in Idlib äußerte sich entsprechend auch die „Nationale Koalition der oppositionellen und revolutionären Kräfte Syriens“, Etilaf, mit Sitz in Istanbul und einem Verbindungsbüro in Berlin. Deren ehemaliger Generalsekretär Nasser al-Hariri rief die internationale Gemeinschaft auf, eine „Allianz außerhalb des UN-Sicherheitsrates“ zu etablieren. Um die Bevölkerung zu schützen, seien „Erklärungen“ nicht ausreichend. Al-Hariri ist seit der 4. Runde der UN-geführten Genfer Syriengespräche der Chefunterhändler für die syrische Opposition, die von den westlichen und Golfstaaten und der Türkei anerkannt und unterstützt wird.

 

Die „Nationale Koalition der oppositionellen und revolutionären Kräfte Syriens“ installierte 2013 eine Übergangsregierung, die auch von Deutschland anerkannt wird. Deren „Stabilisierungsprojekte“ in Idlib werden auch von Berlin finanziell unterstützt. Das sind Krankenhäuser, medizinische Zentren, Hilfsorganisationen wie die „Weißhelme“ und Projekte zum Aufbau von Verwaltungsstrukturen12.

 

Von Fakten und Fake News

 

Angriffe auf zivile Infrastruktur sind nach dem humanitären Völkerrecht verboten. Russland hat wiederholt die Vorwürfe zurückgewiesen, zivile Einrichtungen bombardiert und aktuell einen Marktplatz in Maarat al-Numan bombardiert zu haben, so ein russischer Militärsprecher in Moskau noch am gleichen Tag13.

 

Die russische Luftwaffe sei in dem Gebiet nicht im Einsatz gewesen, so das russische Verteidigungsministerium. Die Erklärungen über den angeblichen Angriff russischer Kampfjets stammten von „anonymen Vertretern der Weißhelme, die von den USA und Großbritannien (und Deutschland, kl) finanziert werden, es sei eine „fake news Geschichte“.

 

Nur wenige Tage zuvor, am 18. Juli 2019 wurde — auf Antrag Deutschlands, Belgiens und Kuwaits — beim UN-Sicherheitsrat hinter verschlossenen Türen darüber gesprochen, dass Krankenhäuser und zivile Infrastruktur in Idlib absichtlich angegriffen würden. Anschließend erklärte der russische UN-Botschafter Vasily Nebenzya vor Journalisten:

„Sie beschuldigen uns, ein Krankenhaus bombardiert zu haben. Ich habe die Informationen unseres Verteidigungsministeriums vorgelegt.“ Damit habe er, so Nebensya laut der russischen Nachrichtenagentur TASS „bei ihnen einige Samen des Zweifels gesät“.

Die UN-Vertreter Großbritanniens und Kuwaits sagten anschließend, die angeblichen Luftangriffe müssten genau untersucht werden.

 

Wiederholt hatte UN-Botschafter Nebenzya gesagt, die Darstellung der Lage in Idlib durch die westlichen Staaten entspräche nicht den Realitäten. Tatsächlich nutzen HTS und mit ihr verbündete Kampfgruppen zivile Infrastruktur wie Schulen und Krankenhäuser als Unterkunft oder Kommandozentralen oder um ihre Kämpfer medizinisch zu versorgen.

 

Das den syrischen Oppositionellen nahe stehende Videomagazin Step News veröffentlichte am 17. Juli Aufnahmen von einem Trainingslager der Gruppe „Jaisch al Issa“ in Idlib, die mit der Al Qaida-nahen Hayat Tahrir al-Sham (HTS), ehemals Nusra Front verbündet ist. Zu sehen ist, dass das Trainingslager unmittelbar neben einem Flüchtlingslager liegt. Kinder stehen am Rand und sehen den Kriegsspielen zu.

 

Warum gibt es Krieg im Deeskalationsgebiet?

 

Der Kampf um die nordwestsyrische Provinz Idlib nimmt an Intensität zu. Die syrischen Streitkräfte rücken mit Unterstützung der russischen Luftwaffe in die Pufferzone vor, die in einem Abkommen der Astana-Staaten (Russland, Iran, Türkei) im September 2018 beschlossen worden war und eigentlich der Deeskalation dienen sollte.

 

Die bis zu 20 km breite Pufferzone liegt am Rande der Provinz Idlib und grenzt an die Provinzen Aleppo, Hama und Latakia. Vereinbart worden war ein Waffenstillstand, der Rückzug der Kämpfer, die ihre schweren Waffen abgeben sollten. Dabei sollte die Türkei dafür sorgen, dass die so genannten „moderaten Rebellen“ der „Freien Syrischen Armee“, die sich in „Nationale Befreiungsfront/-armee“ umbenannt hat, sich von der Allianz zur Befreiung von Syrien, Hayat Tahrir al-Scham (HTS) trennen.

 

HTS ist international als Terrororganisation gelistet und soll etwa 30.000 Kämpfer in Idlib haben. Die Gruppe hat die Vereinbarung über die Deeskalationszone von Anfang an nicht akzeptiert. Diejenigen, die die Vereinbarung umsetzen wollten, wurden von HTS bedroht und bekämpft. Selbst die türkischen Truppen, die die Umsetzung in Idlib kontrollieren sollten, waren vor den Dschihadisten nicht sicher. Inzwischen kontrolliert HTS mehr als 60 Prozent der Provinz Idlib und hat sich mit schweren Waffen — GRAD Raketen, TOW-Panzerabwehrraketen — in der Pufferzone eingegraben. Die als „moderat“ geltenden Kämpfer haben sich entweder aufgelöst oder sie haben sich HTS angeschlossen.

 

Täglich geraten die Wohnorte unter Beschuss, die entlang der Pufferzone in Latakia, Hama und Idlib liegen und unter Regierungskontrolle stehen. Mitte Juli starteten HTS und ihre Unterstützer eine Offensive auf Gebiete in Latakia. Auch die dort liegende russische Militärbasis Hmeimin wurde von Kampfdrohnen angegriffen. Die russische Flugabwehr schoss die Flugobjekte ab. Und obwohl die Türkei die mit ihr verbündeten Kampfgruppen ermächtigt hat, mit den HTS-Truppen gegen die syrischen Streitkräfte vorzugehen, geriet Mitte Juni 2019 sogar ein türkischer Kontrollposten unter HTS-Feuer. Die Türkei bat Russland um Luftunterstützung gegen die Kämpfer.

 

Unbestätigten Meldungen zufolge sollen bisher bis zu 700 Zivilisten auf beiden Seiten getötet worden sein. Rund 300.000 Menschen sind nach UN-Angaben vor den Kämpfen in Richtung der türkischen Grenze geflohen. Die Türkei hat die Grenze geschlossen.

 

Die Jihadisierung von Idlib — eine kurze Chronologie

 

Um eine Lösung für Idlib zu finden, müssen die Realitäten anerkannt werden. Es gibt dort rund 3 Millionen Zivilisten, etwa die Hälfte von ihnen sind Inlandsvertriebene. Doch rund 100.000 von ihnen sind gut ausgerüstete Kämpfer, die eine extremistische Ideologie des politischen Islam vertreten.

 

„Die Provinz Idlib ist der größte sichere Hafen für Al Qaida (…)“, warnte der US-Diplomat Brett McGurk vor drei Jahren, am 31. Juli 2017, bei einem Vortrag in der US-Denkfabrik Middle East Institute. Idlib sei ein riesiges Problem, so McGurk: „Ein sicher Hafen für Al Qaida direkt an der Grenze zur Türkei“, darüber werde man mit Ankara sprechen müssen1415.

 

McGurk wusste genau, wie die Al Qaida-Terroristen und andere Dschihadisten nach Idlib gelangt waren. Gezielte Angriffe von Dschihadisten auf syrische Militär- und Sicherheitskräfte in Jisr as-Shoughur im Norden von Idlib waren 2011 nur der Anfang.

 

2011: Die syrisch-türkische Grenze war durchlässig wie ein Schweizer Käse, Kämpfer aus aller Welt und Waffen wurden aus der Türkei nach Syrien geschmuggelt. Bald folgten ihnen Journalisten aus aller Welt, die für ihren illegalen Transfer teuer bezahlten. Dann folgten humanitäre Helfer, um den „Rebellen“ zur Seite zu stehen, als die syrische Armee sich zur Wehr setzte. Reyhanli, ein türkischer Ort unweit der Grenze, wurde zum Umschlagplatz für Kämpfer, Waffen und Hilfsgüter. Über die Häfen der türkischen Provinz Hatay wurden Waffen aus dem 2011 zerstörten Libyen zur türkischen Grenze geschafft.

2012: Förderung kam aus den USA, die mit der CIA-Operation „Timber Sycamore“ Geld, Waffen und Ausbilder nach Syrien schmuggelten und dabei von Geheimdiensten aus Saudi Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar und Jordanien unterstützt wurden1617.

2013: Washington billigte offiziell — auch auf Wunsch Israels — die Bewaffnung von tausenden Kämpfern, um die syrische Regierung zu stürzen. In westlichen Medien und Politik porträtierte man sie als „Rebellen“, aber man wusste, dass es Dschihadisten waren, die auch aus europäischen Ländern zu Tausenden nach Syrien zogen, um dort gewaltsam einen Gottesstaat zu errichten. Südlich der Provinzhauptstadt Idlib entstanden zwischen dem Berg (Jbeil) Zawiya und dem Ort Maarat al-Numan Ausbildungscamps. Von hier wurden die Dschihadisten in andere Landesteile geschickt.

2014, 2015: Schwer bewaffnet und mit TOW-Raketen ausgerüstet rückten tausende Kämpfer auf die Provinzhauptstadt Idlib vor, die zu der Zeit noch von der syrischen Armee kontrolliert wurde. Offiziere und Soldaten wurden „geschlachtet“, Panzer der syrischen Armee zerstört. Syrien bat Russland um militärische Unterstützung.

2016: Tausende Dschihadisten einer „Armee der Eroberung“ stürmten mit Unterstützung der Türkei und der Golfstaaten aus Idlib auf die nordsyrische Stadt Aleppo vor. Sie wurden aufgehalten, doch der Blutzoll bei den syrischen Streitkräften als auch bei den Angreifern war hoch1819.

2016: Das Blatt wendete sich mit der Befreiung von Aleppo Ende 2016, die geschlagenen Kämpfer kehrten nach Idlib zurück. Erst aus dem Osten von Aleppo, dann aus den östlichen Vororten von Damaskus (Ghouta), aus Jarmuk und Haj al Aswat südlich der syrischen Hauptstadt und schließlich aus Deraa und Qunaitra. Unter den Rückkehrern waren syrische und ausländische, islamistische Kämpfer und Dschihadisten, die mit der Nusra Front (Al Qaida) kooperierten. Sie wollten nicht verhandeln, sondern den Kampf fortsetzen. Ihre Familien und Angehörigen nahmen sie mit nach Idlib.

 

Zurück in Idlib begann ein blutiger Machtkampf zwischen den verschiedenen Fraktionen. Es ging um Geld, Waffen, Hilfsgüter und die Kontrolle strategisch wichtiger Straßen und Grenzübergänge. Die „moderate“ Opposition, die mit der Türkei und den Golfstaaten verbündet ist, hatte auch mit deutscher Unterstützung eigene politische Strukturen aufgebaut. Eine Heilsregierung, eigene Sicherheits- und Polizeikräfte, Schulen, Universitäten, Geschäftszentren. Ziel war der Aufbau einer eigenen autonomen Regierung und perspektivisch die Herauslösung Idlibs aus Syrien20.

 

Den Dschihadisten um die Nusra Front, die sich nach ihrer Rückkehr nach Idlib in „Hayat Tahrir al-Scham“ (HTS) umbenannt hatte, Allianz zur Befreiung Syriens, beharrten auf ihrer Dominanz. Ein blutiger Machtkampf begann, den HTS im Januar 2019 für sich entschied. Die USA, Großbritannien, Deutschland stellten die Zahlung von Hilfsgeldern für Projekte in Idlib teilweise ein.

 

Der französische Außenminister redet Klartext

 

Syrien und seine Verbündeten planten im Frühsommer 2018 die militärische Befreiung Idlibs, doch der Protest des Westens sorgte dafür, dass die Offensive ausgesetzt wurde. Angeblich habe man eine Katastrophe für die Zivilbevölkerung verhindern wollen, doch der französische Außenminister Jean Yves Le Drian redete Klartext. In der Provinz Idlib hielten sich Dschihadisten und Al-Qaida-Kämpfer auf, etliche mit französischer Staatsangehörigkeit. Bei einer Militäroperation würden die sich „in alle Richtungen verteilen“, so Le Drian. Das sei eine Gefahr für Europa und müsse unbedingt verhindert werden. Das war ein deutliches Eingeständnis, dass McGurk mit seiner Beschreibung von Idlib als „Sicherem Hafen“ für Al Qaida richtig lag. Und wie die USA, die Türkei und andere „Freunde Syriens“ hatte auch Frankreich dazu beigetragen21.

 

Idlib, ein Al Qaida Staat oder Teil Syriens

 

Russland versuchte, den westlichen Bedenken Rechnung zu tragen und vermittelte — im Rahmen einer Astana-Runde im September 2018 — mit der Türkei und Iran eine Deeskalationszone rund um die Grenze Idlibs. Die Türkei sagte zu, den Abzug der Kämpfer und die Trennung von „Rebellen“ und „Terroristen“ zu kontrollieren. Für Zivilisten, die Idlib verlassen wollten, wurden von der russischen Militärpolizei humanitäre Korridore geschaffen. Sechs Monate hatten die Türkei und die Kämpfer Zeit, die Vereinbarung umzusetzen.

 

Das Gegenteil geschah. Unter den Augen der türkischen Armeeposten verstärkte HTS seine Stellungen in der Pufferzone und erhielt auch aus der Türkei dafür neue Waffen. Angriffe auf syrische Armeestellungen und Ortschaften jenseits der Pufferzone nahmen zu. Den westlichen Sponsoren der Dschihadisten in Idlib ist deren Kontrolle entglitten, die Sponsoren aus den Golfstaaten feuern den Konflikt weiter an. Die Bevölkerung — nicht nur in Idlib — zahlt einen hohen Preis.

 

Die syrischen Streitkräfte begannen Anfang Mai mit russischer Luftunterstützung den Vormarsch in die Pufferzone, um die Dschihadisten zu verdrängen. Die Orte Khan Sheikhun, Maarat al-Numan und Sarakeb liegen entlang der wichtigen Nord-Süd-Verbindung M5, die Aleppo mit Hama, Homs und Damaskus verbindet. Diese Orte sind Hochburgen der Dschihadisten. Der militärische Plan — und Teil der Deeskalationsvereinbarung von September 2018 — ist es, die Autobahn wieder unter Regierungskontrolle zu bringen und die Dschihadisten von dort zurückzudrängen.

 

Nur wenn man gemeinsam gegen die Dschihadisten im „Sicheren Hafen“ Idlib vorgeht und wenn die Sponsoren dieser Kämpfer ihre Unterstützung für sie einstellen, kann für Idlib — als Provinz des souveränen Staates Syrien — eine Lösung gefunden werden. Andernfalls läuft Idlib Gefahr, von islamistischen Kriegsfürsten in ein Al Qaida Khalifat verwandelt zu werden.


Zuerst veröffentlicht auf Rubikon am 27. Juli 2019

Idlib, Syrien