Weltpolitik am Scheidepunkt?

Die Eskalation zwischen dem Westen einerseits und Russland sowie China andererseits gewinnt immer mehr an Dynamik. Hintergrund dieser zunehmenden Verschlechterung der Beziehungen ist der Epochenbruch:
Die unipolare Weltordnung ist passé, die multipolare im Entstehen. Gerade die Übergangsphasen gelten als konfliktreich, da die an Macht verlierenden Akteure ihren objektiv feststellbaren Macht- und den damit einhergehenden Gestaltungsverlust nicht bereit sind hinzunehmen und die neuen Kraftzentren ihrerseits immer weniger bereit sind, sich weiter den materiell überkommenen Hegemonialstrukturen unterzuordnen.
Im Westen haben wir es in diesem Kontext mit einer gravierenden Disharmonie von Realitätsperzeption und Realität zu tun. Diese Disharmonie besteht darin, dass auf der einen Seite die immer noch handlungsbestimmenden auf Unipolarität ausgerichteten Denkstrukturen („Sieg des Westens“, „Ende der Geschichte“ etc.) der 1990er und Nullerjahre vorherrschen. Diese erzeugen eine Überheblichkeit, ja geradezu Hybris gegenüber der nichtwestlichen Welt bis in die Gegenwart. Auf der anderen Seite schwächen sich die ökonomischen sowie militärischen und somit politischen Machtpotentiale, die die materielle Basis der westlichen Überheblichkeit darstellen, ab.

Der relative Verlust der materiellen Basis wird zu kompensieren versucht mit einer westliche Hypermoral (Stichworte: moral- und wertebasierte Außenpolitik), die zumindest und zunächst die zivilisatorische Hegemonie absichern soll. Dieser „zivilisatorischen Hegemonie“ kommt die Funktion zu, möglichst viele Staaten in das westliche Lager zu ziehen, um auf diese Weise China und Russland partiell zu isolieren und damit diesen die Hegemoniefähigkeit zu nehmen.
Der von den USA kürzlich einberufene virtuelle „Gipfel der Demokratie“, ist nicht nur ein ganz besonderer Ausweis westlicher Hybris, sondern ein maßgeblicher Schritt in dieser Strategie. Diese spaltet – und das ist auch seitens der USA so gewollt – die Welt. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Nur wenige der Protagonisten westlicher Werte – bis auf ein paar linksliberale Wertekämpfer vielleicht – betrachten diese Werte als Selbstzweck. Die Wertepredigt gegenüber nicht-westlichen Drittstaaten hat vor allem eine instrumentelle Funktion im Kampf um globale Hegemonie: sie soll die eigene Bevölkerung an der Heimatfront auf Linie bringen.

Aber die Akzeptanzverweigerung des eigenen relativen Machtverlustes findet selbstredend nicht nur auf der Softpower-Ebene (Werte) statt. Vielmehr wächst die Bereitschaft auch wieder, die materielle Basis zu stärken – zumindest dort, wo es noch geht –, um die Uhr anzuhalten oder gar zurückzudrehen. Und in welchem Bereich geht dies? Im militärischen.
Deutlichster Ausdruck sind die massiven Erhöhungen der Militärhaushalte der NATO-Mitgliedsstaaten (2 Prozentziel BIP). Bereits jetzt betragen die Militärausgaben der NATO-Mitgliedsstaaten das 15 bis 16-Fache dessen, was die Russische Föderation für Verteidugung ausgibt. Hinzu kommen auf beiden Seiten wachsende Manövertätigkeiten sowie kriegerische Maßnahmen unterhalb der militärischen Schwelle (Handels- und Sanktionskriege, Propagandakriege mit massiven Dämonisierungsgehalt und „Hybride Kriegsführung“). Ein besonderes Special westlicher Hybrider Kriegsführung sind allerdings die „farbigen Revolutionen“, wie besonders erfolgreich in der Ukraine praktiziert.

Zum Bestandteil des westlich hegemonialen und imperialen Selbstverständnisses gehört nicht nur die arrogante Ablehnung, mit anderen Staaten auf Augenhöhe zu interagieren, sondern auch ihnen das Recht abzusprechen, legitime Sicherheitsinteressen zu verfolgen.

NATO-Osterweiterung als Kern des Konflikts

So wird die Dislozierung russischer Kräfte nahe der Westgrenze Russlands als Bedrohung der Ukraine, ja, sogar des gesamten Westens verurteilt, da die Ukraine ja bereits zum politischen Westen gehöre. Abgesehen davon, dass die Truppen rund 350 Kilometer von der nächstgelegenen ukrainischen Grenze entfernt sind (entspricht etwa der Entfernung von Hannover nach Frankfurt/Oder) wundert es schon, dass die im Baltikum und Polen seit 2016 stationierten Enhanced Forward Presence-NATO-Kräfte keiner Erwähnung wert sind – wobei sie doch von Russland als Bedrohung wahrgenommen werden könnten.
So ist die im litauischen Rukla stationierte Bundeswehr nur rund 160 Kilometer von der belorussischen Grenze entfernt und nur rund 150 Kilometer von der Grenze zum russischen Kaliningrad. Auch in der Ukraine und im Schwarzmeerraum tummeln sich NATO-Kräfte und mehren sich NATO-Manöver. Beide Seiten beschuldigen sich der Eskalation durch Truppenverlegung in grenznahe Bereiche und durch Großmanöver. Beide Seiten argumentieren auf plausible Weise, die Truppenverlegungen und Manöver fänden auf ihren Territorien statt, was zunächst zutreffend ist. Aber erstens ist die Ukraine nicht Mitglied der NATO. Und zweitens hat die NATO entgegen dem Versprechen gegenüber der damaligen sowjetischen Führung – entsprechende Äußerungen sind auch medial festgehalten [Baker und Genscher bei YouTube eingeben] – sich nach Osten erweitert und beabsichtigt dies auch weiterhin zu tun. Damit verlagert die NATO ihre militärische Infrastruktur Richtung Russland und nicht umgekehrt.

Die NATO rechtfertigt ihre „open door“-Politik, also ihre Erweiterung, mit den Wünschen der osteuropäischen Staaten, dem Bündnis beitreten zu wollen, gemäß der Charta von Paris. Nun, das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist, dass in den osteuropäischen Ländern, die nicht unbedingt der NATO oder den sogenannten euro-atlantischen Strukturen beitreten wollen, gerne auch nach geholfen wird, den Westen zu lieben: Der Putsch in der Ukraine zu Gunsten eines prowestlichen Regimes, die massive Unterstützung prowestlicher Politakteure in Moldawien, im ehemaligen Jugoslawien oder auch Belorussland bis hin zum „betreuten Regieren“ durch Anwesenheit westlicher Botschafter, insbesondere US-Botschafter, in den Kabinettssitzungen in diesen Ländern.

Und natürlich ist die NATO nicht gezwungen, weitere Staaten in ihr Bündnis aufzunehmen. Sie kann Aufnahmebegehren auch ohne „Wenn und Aber“ ablehnen. Wenn es der NATO um Sicherheit und Stabilität in Europa ginge, müsste sie nicht nur ihre Erweiterung stoppen, sondern sich sogar zu Gunsten eines gesamteuropäischen Sicherheitsraum auflösen. So wurde auch in der Charta von Paris festgehalten: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten.“

Aber die NATO schafft keine gemeinsame Sicherheit, sondern geteilte Sicherheit – neue Mauern und Gräben in Europa. Und genau deshalb generiert die NATO Unsicherheit bis an den Rand eines Krieges. Sie braucht Spannungen und Eskalation als Lebenselixier, andernfalls obsiegen die zentrifugalen Kräfte. Leider beteiligen sich auch europäische Regierungen entgegen ihren objektiven Interessen an der Eskalation. Entweder verstehen sie die Tragweite ihres Handelns nicht, oder aber sie schüren bewusst diese Unsicherheit – bis zum Showdown.

Um gemeinsame Sicherheit zu schaffen, müsste die NATO entweder zu Gunsten eines neuen kollektiven Systems gegenseitiger Sicherheit im OSZE-Raum aufgelöst werden oder aber ersatzweise Russland und andere postsowjetische Staaten in Gänze aufnehmen, so dass keine unterschiedlichen Sphären der Sicherheit mehr bestehen. Moskau könnte ja mal einen Aufnahmeantrag in die NATO stellen. Es wäre sicherlich amüsant zu beobachten, wie in der NATO-Zentrale in Brüssel sowie in den westlichen Hauptstädten Schnappatmung und Schweißausbrüche über Tage hinweg anhielten, bis ein Wording kreiert wird mit dem NATO-Generalsekretär Stoltenberg ganz überzeugend erklärt, warum Russland – und eigentlich auch nur Russland – nicht beitreten könnte. Denn mit einem Beitritt Russlands zur NATO wäre Sinn und Zweck der Militärallianz obsolet. Wesenszweck der NATO ist ja nicht die Einbindung Russlands in einen gemeinsamen Sicherheitsraum im Sinne der Charta von Paris, sondern, Russland qua NATO-Osterweiterung – also durch Aufnahme anderer osteuropäischer Staaten – zu isolieren und aus Europa hinauszudrängen. Bestenfalls Russland wie in den 1990er Jahren sogar zu einem partiellen Anhängsel des Westens zu degradieren.

Russlands neue Initiative als Vorbote einer Offensive?

Und da Russland durch die forcierte Osterweiterung bis an die russischen Grenzen, durch die Verlagerung militärischer Infrastruktur und durch Zunahme an Manövern unterschiedlicher Qualitäten und Quantitäten sich in die Ecke gedrängt fühlt, fordert die russische Regierung Maßnahmen zur politischen und militärischen Deeskalation, bevor es zu einem tatsächlichen Krieg zwischen der NATO und Russland kommt, dessen Tragweite und Dimension einschließlich nuklearer Einsatzszenarien man sich lieber nicht vorstellen möchte.

Nun kann man Russland unter Putin sicherlich nicht vorwerfen, in der Vergangenheit nicht die Hand zu einem kooperativen Verhältnis ausgestreckt zu haben: Angefangen von seiner Rede im Bundestag 2001, über die Initiative von Medwedew 2008, die einen gemeinsamen Sicherheitsraum unterbreitete bis hin zu kleineren Kooperationsbekundungen im gegenseitigen Interesse. Alles war vergeblich, wurde nicht ernstgenommen oder als perfider Trick Putins, der damit die NATO-Kohäsion schwächen wolle, abgetan. Selbst Northstream 2 wird zu einer geopolitischen Raffinesse Putins, mit der er Europa spalten wolle, reduziert.

Was fordert Russland nun nach dem Gespräch mit dem US-Präsidenten Biden? Sicherheitsgarantien! Russland fordert Sicherheitsgarantien von der NATO. Das heißt, Russland stellt sich nicht einmal in Opposition zur NATO, sondern fordert lediglich, dass die NATO Russland nicht weiter auf die Pelle rückt, was unweigerlich zur militärischen Konfrontation führe.

Die russischen Forderungen zeigen, dass Russland die NATO akzeptiert, sie aber auf Distanz halten will – sprich neutrale Pufferstaaten.

  • Stop der „Open door“-Politik, also der NATO-Osterweiterung des Bündnisses.
  • Keine Dislozierung von Waffensystemen in Russland benachbarte NATO-Staaten oder Nicht-NATO-Staaten, die das Territorium Russlands gefährden könnten. Stand NATO 1997, was die Dislozierung von schweren Waffensystemen in die NATO-Beitrittsstaaten betrifft. Beendigung von NATO-Truppenstationierungen im post-sowjetischen Raum.
  • Keine Militärmanöver beider Seiten nahe der NATO-Russland Kontaktlinie. Die genaue Distanz wäre zu vereinbaren.
  • Koordination einer maximalen Annäherung von Militärflugzeugen und Schiffen, um Zwischenfälle vor allem im Ostseeraum und dem Schwarzen Meer zu vermeiden.
  • Erneuerung der Dialogforen zwischen den Verteidigungsministern Russlands und den USA bzw. Russlands und der NATO.
  • Beitritt der USA zum russischen Moratorium der Stationierung von Kurzstrecken und Mittelstreckenraketen sowie Einführung eines gegenseitigen Verifikationsregimes

Erstaunlich ist die Entschlossenheit, mit der die russische Seite die Forderungen formuliert. Was steckt dahinter? Sieht sich Russland soweit in die Ecke gedrängt, dass es früher oder später einen militärischen Schlagabtausch als unvermeidbar betrachtet? Und denkt Russland dementsprechend taktisch nach der Devise, besser früher als zu spät? Vielleicht schließt Russland seinerseits einen Präventivschlag in welcher Dimension (konventionell oder auch nuklear) auch immer nicht mehr aus, insbesondere, wenn die Ukraine immer weiter zum Aufmarschgebiet der NATO gemacht wird?

Oder sind die neuen russischen Waffensysteme, insbesondere die Hyperschallwaffen in Qualität und Quantität soweit gereift und massenhaft einsetzbar, dass die russische Führung glaubt, die USA, die über diese neuartigen Waffensysteme noch nicht verfügen, soweit unter Druck setzen zu können, dass die USA sicherheitspolitische Konzessionen machen müssen, wenn sie keinen Krieg in Europa riskieren möchten?

Erstaunlich ist – oder eigentlich nicht erstaunlich –, wie in einer Kombination von Gelassenheit und Empörung über die russischen Forderungen westliche Medien und Politiker reagieren: Die Forderungen werden zurückgewiesen mit Argumenten, Russland solle sich nicht in das NATO-Ukraine-Verhältnis einmischen. Oder Russland habe kein Mitspracherecht, oder Russland habe kein Recht auf Einflusszonen – unausgesprochen: nur der Westen hat das Recht.

Die Äußerungen und Zurückweisungen der russischen Forderungen nach einer Sicherheitsgarantie seitens der westlichen Politik, befeuert von journalistischen Schreibtischstrategen, verweist auf die oben eingangs ausgeführte gefährliche Mischung aus Fehlperzeptionen globalpolitischer Entwicklungen und westlicher Hybris, man brauche weder Arrangements mit anderen Großmächten, weil es sie nicht gibt, noch müsse man dem Völkerrecht folgen, wo der Westen doch ein eigenes universell gültiges Ordnungssystem, die „regelbasierte Ordnung“, etabliert hat, dem sich alle anderen unterzuordnen haben.

Sollte sich die westliche Außen- und Sicherheitspolitik nicht aus ihrer selbstgeschaffenen und selbstherrlichen Blase befreien, und zu seriösen Verhandlungen im Sinn und Geiste gemeinsamer und ungeteilter Sicherheit übergehen, gibt es hinreichend Gründe für eine sehr pessimistische Entwicklung. Europa träte sehr düsteren Zeiten entgegen – und das nicht erst in zehn Jahren.

Wenn selbst zutiefst überzeugte Transatlantiker mit hoher außen- und sicherheitspolitischer Expertise einen Aufruf „Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland“ am 5. Dezember 2021 veröffentlichen, zeigt das, wie weit die Eskalation vorangeschritten und Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung real geworden ist. Jene Transatlantiker mit einem noch halbwegs klaren Blick für Realpolitik scheinen kalte Füße zu bekommen.