Wenn der Druck auf Scholz und Schwesig wächst, sich öffentlich für frühere Russenfreundlichkeit zu entschuldigen, soll offensichtlich auch die gesamte Ostpolitik delegitimiert werden. Ist es da ein Zufall, wenn auch die Linkspartei jetzt in den Strudel eines Sex-Skandals gerät?
Wenn "gegenwärtig der Druck wächst" auf die SPD-Spitze, namentlich auf Scholz und
Schwesig, sich öffentlich für frühere Russenfreundlichkeit zu entschuldigen und endlich
schwere Waffenlieferungen in die Ukraine zu akzeptieren, dann muss auch die gesamte
Ostpolitik delegitimiert werden. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehn wurde Willy Brandt
dieser Tage "porträtiert" - weniger für Lob seiner Aussöhnung mit Russland, als fürs
Updaten von Sexskandalen, die dem Friedenskanzler einst nachgesagt worden waren. Ist
es da ein Zufall, wenn auch die Linkspartei jetzt in den Strudel eines Sex-Skandals gerät?
"Sie hatte ihren Rücktritt auch mit dem Umgang der Linken mit Sexismus in den eigenen
Reihen begründet, ein klarer Seitenhieb auf ihre Co-Chefin Wissler." schreibt am 22.4. der
"Tagesspiegel" über Henning-Wellsow. Hintergrund dafür liefert der Dauerstreit über
Waffenexporte und NATO zwischen den "beiden tollen Fauen" - so waren sie einst den
Parteitagsdelegierten vom Linken-Wahlkampfleiter und Drahtzieher Jörg Schindler
angepriesen worden. Dem in neun Jahren als einziger "Erfolg" der Rückzug von Sahra
Wagenknecht von der Fraktionsspitze nachzusagen ist. Schindler steht mit Henning-
Wellsow für dauerhafte linke Wahldesaster. Auch wegen öffentlich zu seichter Kritik an
NATO, Fluchtursachen, Russophobie und Corona-Diktaten. Und eben auch wegen
Dauerzermürbung der langzeit-beliebtesten Politikerin Sahra Wagenknecht.
Wenn Schindler, Wissler und Henning-Wellsow also unmittelbar nach den vernichtenden
4,9% bei der letzten Bundestagswahl ihre Plätze geräumt hätten, wäre das Aufatmen in
der linken Basis unüberhörbar gewesen; meines auch. Nun verbellen aber NATO-
Freund*:innen die verbliebene Vorsitzende Janine Wissler, die noch gewisse linke Skrupel
gegen Rüstungsexporte und Massaker an Palästinensern bekundet, als "Radikale" - ein
Vorwurf gegen den jeder klardenkende Radikaldemokrat sie in Schutz nehmen muss,
wenn geheimdienstlich orientierte Nachrichtendienste a la "SPIEGEL", taz oder ZDF-heute
die Wissler jetzt der Henning-Wellsow hinterher stürzen wollen - mit Sexismus-Gerüchten,
die bei näherer Betrachtung selbst sexistisch sind.
Als ich vor 10 Jahren Altbundespräsident Christian Wulff (CDU) gegen eine
mediale Hetzjagd, angeführt von BILD&SPIEGEL, verteidigt hatte (z.B. bei
"Anne Will" und "Maischberger"), geschah dies nicht aus parteipolitischer
Zuneigung. Sondern, weil ich selbst oft Ziel ruftötender Gerüchte war, aus
Sympathie für Unschuldsvermutung und für den Rechtsstaat, die mit
Friedensgebot und Sozialstaatlichkeit die Fundamente des Grundgesetzes
bilden.
Aber so, wie gerade das eherne Prinzip "Keine Waffenlieferung in
Krisengebiete!" in der Linken relativiert wird, ist auch der Sozialstaat in der
Linken längst nicht mehr unumstritten. Als zum Beispiel der frühere
Parteivorsitzende Klaus Ernst vor 10 Jahren zur offensiven "Rückeroberung des
Sozialstaats" geblasen hatte, munitionierten sogenannte Reformer*innen
gegnerische Medien stattdessen mit der Parole "für progressive
Entstaatlichung". Entstaatlichung ist in Demokratie und Grundgesetz aber
weder für das Soziale noch für das Recht vorgesehen. Einen rechtsfreien Raum
darf es nie wieder geben, auch wenn Partei-Akteure interne Willkür, also die
Absenkung rechtsstaatlicher Standards, gerne unter dem bigotten Ruf tarnen,
sie wollten in ihren Reihen ja "besonders hohe" Standards - gegen ihre
Gegenspieler, versteht sich. Nein, es gilt nach wie vor die Unschuldsvermutung
(=im Zweifel für den Beschuldigten!).
Nun heiligt der Zweck wieder einmal die Mittel, setzt der heilige Geifer
Gerüchte über Gerichte. Wenn da der heimliche Thüringer Regierungschef
Benjamin Hoff gemeinsam mit Links-Berufs-Jugendlichen, "LinkeMeToo-Aktiven"
und früheren MdBs (die während des Bundestagswahlkampfs kürzlich mit
Partei-Ausschluss-Forderungen gegen Sahra Wagenknecht gescheitert waren)
jetzt schärfste Strafen fordern. Und zwar gegen solche, denen Gerüchte
unterstellen, bei sexistischen Übergriffen weggeschaut zu haben. Was sie sogar
mit Kinderschändungen in der katholischen Kirche gleichsetzen - und damit
Janine Wissler in die Nähe von Papst Benedikt rücken.
Stolz klopft sich da der SPIEGEL am 17 April auf die Schultern, das Vertrauen
zur Linkspartei weiter „zerrüttet“ zu haben und schreibt in aller Bescheidenheit
zum Tsunami im linken Wasserglas: „Auslöser war ein Enthüllungsreport des
Spiegel.“
Während der Sozialstaat 100 Milliarden ans Militär abtreten soll, Grüne und FDP
schwere Waffen zur Verlängerung des Krieges anliefern, die Inflation den
Menschen die Butter vom Brot frisst, während US-Führer*innen Europa gerade
in einen dritten Weltkrieg drängen, trudelt die "LINKE" bundesweit unter 4 %.
Dabei ist sie die einzige Bundestagspartei, die für Abrüstung eintritt. Aber sie
liegt momentan bei 2% in NRW vor den dortigen Wahlen. Im März stritt sie
"wenigstens" noch über Waffenexporte. Jetzt zerlegt sich die "Friedenspartei"
über einen Sex-Tweed. Der ihren Bundesparteitag in zwei Monaten thematisch
mehr beherrschen dürfte, als die ukrainischen Terroristen, deren Mörser acht
Jahre lang Tausende, auch Kinder und Frauen, im Donbass zerrissen und Minsk
II so erledigt hatten.
Der aktuelle Tatbestand: dem SPIEGEL war aus der hessischen Partei-Jugend
(via Thüringen!) ein Screenshot aus 2018 zugespielt worden, an dem gleich
vier SPIEGEL-Redakteure, eigenen Angaben zufolge, „recherchiert“ hatten. Eine
kurzerhand zur "Minderjährigen" umdefinierte junge Frau hatte vor vier Jahren,
nach eigenem Bezekunden, an die Parteivorsitzende Janine Wissler folgende
Nachricht gesendet:
»Entschuldige das hier bitte, Janine, aber ich drehe endgültig durch, wenn
Adrian nochmal nachts plötzlich auf meinem Balkon steht und das romantisch
nennt.«
Die frühere hessische Linksfraktionschefin bestreitet diesen damaligen
„Hilferuf“ des "Opfers", sowie einen zusätzlich behaupteten Telefonatsverlauf.
Was nun das "Opfer" vor Gericht bringt. Klar, die Vorwürfe gegen die
Beteiligten könnten alle stimmen und sie sind, weiss Gott, kein Pappenstil.
(Auch wenn die Staatsanwaltschaft gerade eben erklärt hat, auf jegliche
Ermittlungen gegen "den Täter" zu verzichten.) Aber Rechtskräftiges wartet der
SPIEGEL nicht ab, wenn es um die Vernichtung der gesamten Linkspartei geht.
Während die von ihm befeuerten Shit-Stürmer im heiligen Krieg der
verfeindeten Parteiströmungen nie die gesamte Partei zu zerstören vorgeben,
sondern nur die jeweils gegnerischen Teile. Die rechtsstaatliche
Unschuldsvermutung giften sie dabei an als reaktionären Ballast eines
"patriarchalen Grundgesetzes"; und wer sich darauf beruft, sei ohnehin selbst
ein potenzieller Vergewaltiger oder betriebe Täterschutz, wenn er oder sie
rechtlich relevante Fragen zu stellen wagt. Wie etwa die folgenden:
Wie war der "Täter" über den Balkon beim Opfer eingestiegen? In welchem Stockwerk
geschah das damals? War er zum ersten Mal in der Liebesbeziehung zwischen "Opfer
und Täter" über den Balkon gekommen? Hat er dazu die Balkontür beschädigt? Kam es
danach zu einer Vergewaltigung? Oder, wie vom "Täter" behauptet, zu einvernehmlichem
Sex? Was nannte der "Täter", laut der weiterverbreiteten Kurznachricht der Betroffenen:
"romantisch"?
Warum hat sie nicht 2018 sofort Strafanzeige erstattet? Bedurfte es erst 2022 dazu einer
sogenannten SPIEGEL-Recherche? Wurde damals Druck auf das "Opfer" ausgeübt?
Wurde die Liebesbeziehung vom "Opfer" danach, 2018, sofort abgebrochen?
Wie musste dies alles bei Janine Wissler damals angekommen sein, die zu diesem
Zeitpunkt ebenfalls mit dem "Täter" liiert war? Hätte die Kurznachricht von Wissler auch
als höhnisch kaschierter Triumpf einer Nebenbuhlerin "miss"-verstanden werden können?
Wie hätte sich J. Wissler korrekt verhalten sollen? Denn der SPIEGEL merkt noch an, der
"Täter" sei ja auch Angestellter der Fraktion gewesen, deren Chefin die Wissler war. Will
der SPIEGEL damit sagen, daß diese als Arbeitgeberin einen Mitarbeiter hätte entlassen
sollen? Auf welcher Rechtsbasis? Und was würden gewerkschaftsorientierte Linke dazu
sagen, wenn Arbeitgeber künftig das Liebes-Verhalten von Mitarbeiter*:innen jenseits der
Arbeitszeit zum Gegenstand von Ausspähung, Gerüchten und Kündigung machen
würden?
Es gibt noch mehr offene Fragen, die gerichtlich ausverhandelt sein wollen, bevor die
Unschuldsvermutung gegen den "mutmaßlichen Täter" fällt. Aber mit dem Rechtsstaat
stehen Medien oft auf ähnlichem Kriegsfuss wie die, die noch innerparteiliche Rechnungen
offen haben. Einige wollen an deren Fleischtöpfe. Anderen genügt der wichtigtuerische
Rauschzustand, mal so richtig Schicksal spielen zu dürfen: wenn sie schon den Rüstungs-
Konzernen nicht weh tun können, dann wenigstens den eigenen Leuten. Und so zappeln
sie siegesgewiss im digitalen Spinnennetz medialer Spindoktoren.
Das Geheimrezept von identitären Bessermenschen ist allzumeist die Kolonialisierung
fremder Opfer, die Aneignung fremden Leids zur eigenen Omnipotenz. Multipliziert mit der
Medienpower BND-gestützter Schreibagenten, die stets verlässlich auf alles schiessen,
was irgendwie nach Anti-NATO aussieht. Aus diesem medienbewehrten Schutzpanzer
darf dann nach Lust und Laune die Gerüchteküche befeuert und jede/r drauflos gecancelt
werden: als Nazi, Antisemit, Xenophober, QuerfrontlerIn, Putin-Kolonne, Corona- oder
Klimaleugner*in. Auf den Spuren der Christenverfolger, der lustfeindlichen
Hexenverbrenner, des MacCarthyismus und der orwellschen Sprachpolizei wollen diese
Inquisitoren bestimmen, wo die Grenze verläuft zwischen Flirt und toxischer Männlichkeit.
Wollen mit der Stoppuhr messen, ab wann ein schmachtender Blick einer Vergewaltigung
gleichkommt und eine Aufforderung zum Tanzen einer Übergriffshandlung. Die ZEIT-
Chefredakteurin Sabine Rückert hatte einst, am 30.Juni 2016, überspitzt gegen Metoo
polemisiert: „Was leidenschaftliche Liebesnacht und was Vergewaltigung war, definiert
Frau künftig am Tag danach.“ Die AfD backt derweil das Popcorn auf und deutet auf die
Leinwand; "Seht her: in solcherlei Hexenkessel landet ihr mit linkem Feminismus!"
Der Regisseur Ken Loach erzählt in seinen Filmen mit großer künstlerischer Liebe, wie es
proletarischen Frauen auf dieser Welt ergeht - aber auch, wie sie kämpfen.
Und wie Männer ihnen dabei zur Seite stehen können. Gegen den Krieg, aber auch den der
Geschlechter - freundlich zu ihresgleichen und unfreundlich gegen das Großkapital.
Und Loach beschreibt auch, wie die MacherInnen dieser Arbeiter-Bewegung und wie
deren BündnispartnerInnen in Kunst und Wissenschaft dann von Geheimdiensten
registriert, Berufsverboten und Schlimmerem zugeteilt worden waren. Wie sie auf
schwarzen Listen dann irgendwie irgendwann irgendwo abgeheftet wurden. Heute werden
die giftgrünen Exkremente aus den entzündeten Organen hysterischer Denunziator:innen
nicht mehr in saugfähiges Papier gebracht, sondern digitalisiert für die Ewigkeit. Vielleicht
denken die trojanischen Shit-Storm-Fighter mal daran, daß das ihnen, wenn sie DIE
LINKE leergebissen haben, niemand das je danken wird. Außer vielleicht mit ein paar
Festanstellungen beim Überwachungsstaat. Und daß ihnen dann, statt ihres
Lieblingsworts "fremdschämen", bestenfalls bleibt: sich-für-sich-selbst-zu-schämen.
Wenn der Druck auf Scholz und Schwesig wächst, sich öffentlich für frühere Russenfreundlichkeit zu entschuldigen, soll offensichtlich auch die gesamte Ostpolitik delegitimiert werden. Ist es da ein Zufall, wenn auch die Linkspartei jetzt in den Strudel eines Sex-Skandals gerät?