Jede militärische Lösung führt in die Katastrophe!

(Foto: UK Ministry of Defence)
(Foto: UK Ministry of Defence)

Im Original erschienen auf:
https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-7-8-vom-24-april-2022.html#article_1348

«Es braucht eine politisch-diplomatische Lösung in der Ukraine»

Zeitgeschehen im Fokus In einer deutschen Zeitung werden Sie zitiert, man müsse «den Krieg zwischen der Ukraine und Russland vom Ende her denken». Was meinen Sie damit konkret?

Dr. Erich Vad Damit meine ich, wir müssen von einer wie auch immer gearteten späteren politischen Lösung zurückdenken und so agieren, dass spätere diplomatische Lösungen nicht verunmöglicht werden. Sie müssen für beide Seiten einen gesichtswahrenden Ausweg enthalten. Da sehe ich eine große Gefahr mit Blick auf die emotionsgeladene Debatte um Russland und seinen Präsidenten Putin.

Inwiefern?

Die durch den Überfall Russlands auf die Ukraine verständlicherweise erfolgte starke Abwertung seiner Person und Russlands, die Überbewertung von zivilen «Kollateralschäden» und Übergriffen, wie das mutmaßliche Massaker, das unbedingt von einer unabhängigen Kommission untersucht werden muss und nicht schon stark vorverurteilt werden darf, bevor alle Fakten auf dem Tisch liegen, erschwert es, spätere politische Verhandlungen zu führen. Wir laufen dabei Gefahr, weiter auf dem Weg einer Eskalation ins Nirwana zu marschieren oder letztlich in einen nuklearen Krieg. «Vom Ende her denken» heißt für mich, sich bewusst zu sein, was für Folgen ein hemmungsloses emotionales Hochtreiben der Eskalation haben könnte.

Sie haben Putin erwähnt. Er wird zum einen als Aggressor verteufelt, und zum andern stellt man ihn als unfähig hin, weil er angeblich nicht mit der Ukraine fertig werde.

Man unterschätzt Putin in seiner Rolle. Es gibt Analysten, die sagen, Russland sei zwar eine Atommacht, aber ob Putin bereit sei, einen Nuklearkrieg zu führen… Ich muss sagen, das erinnert an kindliches Verhalten. Wenn man quasi testet, wie weit man gegenüber den Eltern gehen kann, ist das der Situation völlig unangemessen. Es ist hochgefährlich. Und es gibt tatsächlich auch Militärs, die dabei mitmachen. Sie unterschätzen, dass Russland eine potente Nuklearmacht ist.

Was aber im Moment passiert, ist doch, dass alle westlichen Staaten auf Krieg setzen…

Es ist ein großer Fehler, auf militärische Lösungen zu setzen. Ich bin ein Militär. Wenn es militärische Lösungen sind, die zu Ende gedacht, in die Katastrophe führen, dann ist dieser Ansatz falsch, deshalb muss man «den Krieg vom Ende her denken».

Wie schätzen Sie den weiteren Verlauf ein?

Es könnte sein, dass der Krieg lange dauert und der Westen Russ­land zwingen will aufzugeben, ähnlich wie es der Nato in Afghanistan ergangen ist. Sie musste abziehen, weil die Kosten zu hoch waren und ein Erfolg in weite Ferne rückte. Aber das wird im Falle Russlands nicht passieren. Das Land könnte jahrelang durchhalten, wenn es das will – die Ukrainer auch, wenn die westlichen Unterstützungsmaßnahmen weitergehen. Wir werden sehen, die Lösung wird darin bestehen, dass man am Schluss miteinander verhandelt. Man muss Wege suchen, die in einer Lösung enden und nicht in einer Eskalation, die uns am Schluss zu einem 3. Weltkrieg führt. Die Ausweitung des Krieges in der Ukraine, auch wenn er nicht mit Nuklearwaffen geführt würde, wäre fürchterlich. Für mich ist das keine rationale Option. Das meine ich auch, wenn ich sage: «Man muss den Krieg vom Ende her denken».

Nach Ihren Ausführungen – wohlgemerkt, die Ausführungen eines ehemaligen hohen Militärs – muss man wieder einmal feststellen, dass auf Seiten des Militärs oft mehr Vernunft und Weitsicht zu finden ist als bei vielen Politikern, die auf momentane Ereignisse meist nur emotional reagieren. Warum ist das so?

Personen mit militärischem Background wissen natürlich bis ins einzelne, was Krieg bedeutet. Man kann den nationalen Widerstand der Ukraine, das «heldenhafte Aufbegehren» gegen eine Macht wie Russland, positiv bewerten. Das ist etwas, was in Deutschland wohl kaum einer so kennt. Aber man muss natürlich klar sehen, was dieser Widerstand in einem urbanen Umfeld für Zivilisten für Konsequenzen haben wird.

Was hat das für Folgen?

Ein Häuserkampf wie z. B. in Mariupol ist etwas Blutiges, wie man es sich kaum vorstellen kann. Als Militär sieht man hinter diesem positiven nationalen Wehrwillen die Konsequenz, wohin das führt. Deshalb sage ich, je länger der Krieg währt, desto blutiger wird er, desto mehr zivile Opfer wird es geben, vor allem wenn die Verteidiger aus einem zivilen Umfeld heraus operieren und letztlich dadurch auch zivile Opfer in Kauf nehmen. Der Angreifer hat dann natürlich ein Problem. Um Kräfte und Blut zu sparen – denn ein Haus allein mit Soldaten freizukämpfen, braucht die 5 bis 10-fache Überlegenheit – ist es einfacher, das Gebäude mit einer Granate zu beschießen und «Kollateralschäden» in Kauf zu nehmen. Das war immer das Vorgehen westlicher Staaten und ihrer Verbündeten. Russland hat den Kämpfern in Mariupol freien Abzug gewährt, wenn sie die Waffen niederlegen. Aber sie haben das abgelehnt und nehmen im fortgesetzten Kampf weitere Opfer in Kauf. Man muss dringend aus dieser Eskalationsspirale aussteigen.

Es ist wichtig, dass es in der ganzen Kriegshysterie kritische Stimmen gibt, die zum einen wissen, wo das hinführt, und zum anderen sich nicht scheuen, das auch öffentlich zu sagen…

Hier muss ich noch etwas anfügen. Die Ukraine fordert immer wieder eine Flugverbotszone. «Flugverbotszone» ist ein euphemistischer Begriff. Das klingt so wie «Parkverbot». Alle finden diese Idee gut. Aber wenn man das von der militärischen Seite her zu Ende denkt, bedeutet das im Klartext Krieg. Jemand muss die Einhaltung dieses Flugverbots überwachen und im Ernstfall bereit sein, russische Flugzeuge abzuschießen. Damit ist man sofort im Krieg. Das betrifft auch die «Friedensmission», die von Polen angestoßen wurde. Nach Kapitel 7 der UNO-Charta ist das eine Friedenserzwingungsmission und damit faktisch ein Kriegseintritt. Auch mit MIG-Kampfjets aus dem Nato-Gebiet zu operieren, ist ein faktischer Kriegseintritt. Damit wird das Eskalationspotential immer größer.

Was sagen Sie zu der immer wiederholten Forderung nach der Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine?

Das ist faktisch ebenfalls ein Kriegseintritt. Mal schnell schwere Waffen zu geben – das ist nicht zu Ende gedacht. Panzer innerhalb von ein, zwei Wochen zu liefern, ist gar nicht machbar. Dazu bräuchte es eine Schulung auf dem Gerät. Man kann Leopard-Panzer nicht wie einen VW mal kurz nach Kiew schicken, nach dem Motto: «Steigt ein und fahrt los.» Dazu muss man Ausbildungspersonal und technisches Personal zur Verfügung stellen. Es braucht eine Logistik, eine Instandsetzungsabteilung, einen ganzen Apparat. Ohne diese Fachleute kann man mit dem «Leopard» nichts anfangen, und damit ist man faktisch am Krieg beteiligt. Diese ganzen Zusammenhänge werden völlig ausgeblendet, und man argumentiert, «alles zu tun, um der Ukraine zu helfen.»

Diese Vorschläge kommen meist aus der Politik. Man hat den Eindruck, dass ein Bewusstsein für die Situation völlig fehlt.

Da sind tatsächlich Politiker am Werk, die keine Ahnung vom Militär haben, geschweige denn je Militärdienst geleistet haben. Sie besitzen keine Vorstellung, was Krieg bedeutet. Das sind Menschen, die mit militärischer Gewalt nie etwas am Hut hatten, die in der jetzigen Situation völlig überfordert sind, die massive Waffenlieferungen befürworten und nicht im Geringsten eine Vorstellung davon haben, was das für Folgen haben könnte. Sie haben sich immer zum Pazifismus bekannt und nur Friedensbedingungen gekannt. Jetzt plötzlich werden sie mit militärischer Gewalt und Krieg konfrontiert, und zwar unmittelbar vor der Haustür. Das führt – gepaart mit Kriegsrhetorik – zu verhaltensauffälligen Übersprungsreaktionen, die unverantwortlich sind und politische Romantik beinhalten, die in der Konsequenz echt gefährlich sind.

Was auffällt, ist, dass in der aktuellen Berichterstattung frühere Kriege völlig ausgeblendet werden und das russische Vorgehen als etwas Neues und Einzigartiges dargestellt wird. Wie sehen Sie das?

Das Vorgehen der Russen, so problematisch es ist, gegen ein Nachbarland Krieg zu führen – das habe ich auch in einem anderen Gespräch gesagt – muss man in Relation zu den vergangenen Kriegen jüngeren Datums wie die Kriege gegen Serbien, gegen Afghanistan, gegen Irak, gegen Libyen, gegen Syrien sehen. In diesen Kriegen sind Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Zivilisten umgekommen, es gab Massaker, Übergriffe etc. So hart der Straßen- und Häuserkampf in Mariupol ist, aber wenn ich an Bagdad oder Falludscha denke, dann ist das nichts anderes. Verglichen mit diesen Kriegen fällt das Vorgehen der Russen, so schrecklich es partiell sein mag, nicht aus dem Rahmen, im Gegenteil: Die «Kollateralschäden» in der Ukraine sind weitaus geringer als im Irak oder in Afghanistan.

Das ist aber kein Thema, darüber wird nicht gesprochen, als wenn es das nie gegeben hätte.

Der große Unterschied liegt darin: Putin ist nicht Miloševic, und Russland ist nicht Serbien, Irak oder Afghanistan. Russland ist eine Nuklearmacht, und das ist der Denkfehler, den viele machen. Nehmen wir den Irak. Die USA sind dort eingedrungen, irgendwann sind sie wieder abgezogen. Der Schaden, den sie angerichtet haben, ist enorm und seine Auswirkungen spüren wir bis heute. In Afghanistan dasselbe, man hinterlässt ein Trümmerfeld, aber man zieht unbehelligt ab. Aber mit Russ­land geht das so nicht. Es gibt keine alles entscheidende «Vernichtungsschlacht» in der Ostukraine, die dann zu einer «militärischen Lösung» und damit zur Lösung des politischen Problems führt. Es braucht eine politisch-diplomatische Lösung in der Ukraine.

Wer hat von der Lösung auf dem Schlachtfeld gesprochen? War das nicht der Außenbeauftragte der EU Josep Borrell?

Auch der ansonsten sehr differenziert argumentierende Graf-Lambsdorff hat gesagt, es gebe nur eine militärische Lösung, und deshalb müssten wir der Ukraine mit Waffen helfen. Nein, es gibt keine militärische Lösung! Es gibt nur eine politische Lösung. Jede militärische Lösung führt in die Katastrophe! Das muss man den Damen und Herren ganz deutlich machen. Russland wird nicht nach Hause gehen wie die USA und die Nato in Kabul. Letztere fliegen nach Hause, das Kapitel ist abgeschlossen. Es wird nicht mehr darüber geredet.

Ja, und wie es den Menschen in den 20 Jahren ergangen ist, darüber redet auch niemand. Wie viele unschuldige Zivilisten ums Leben gekommen sind, wie viele Kindheiten in Afghanistan, im Irak, in Libyen etc. zerstört wurden, darüber spricht kein Mensch…

Ja, das ist so. Jeder Mensch, der unschuldig in solch einem Konflikt zu Tode kommt, ist ein Mensch zu viel. Wenn man das quantifiziert, dann geht Russland in seinen militärischen Einsätzen nicht anders vor als die USA, die Briten oder andere Staaten mit Interventionsstreitkräften, die in den erwähnten Ländern gekämpft haben.

Warum fehlt es gänzlich, dass auf eine diplomatische Lösung hingearbeitet wird? Wir hören «Waffenlieferungen», «militärische Lösung», «Kampf gegen das Böse» etc., aber von einem Hinarbeiten auf einen Frieden erfährt man kaum etwas.

Das wundert mich auch. Vielleicht liegt es daran, dass die Europäer gar keine politische Mitgestaltung sehen, weil die politischen Entscheidungen über Krieg und Frieden in Washington, in Moskau oder in Peking gefällt werden, erst recht nicht in Berlin. Es gab nach der Annexion der Krim die beiden Minsker Abkommen, an denen Frankreich und Deutschland und auch die Schweiz beteiligt waren. Die Fragen, die damals diplomatisch geregelt wurden, sind heute im Grunde genommen die gleichen: Wie sichert man die territoriale Integrität der Ukraine unter Einbezug und Berücksichtigung der russischen Minderheiten im Donbas? Brauchen wir dort eine Teilautonomie in den Grenzen der Ukraine? 

Das wäre eine sinnvolle Lösung…

Ja, aber Selenskji hat das bisher verweigert. Aber vom Ende her gedacht, müssen wir an den Rahmen, der in diesen Abkommen gesteckt wurde, wieder anknüpfen, weil es anders gar nicht geht. Auch die Ukraine wird über Neutralität und Bündnisfreiheit – österreichisches Modell, Schweizer Modell – nachdenken müssen, anders wird es nicht gehen. Am Ende wird die politische Lösung dort angesiedelt sein. Dort müssen wir hinkommen.

Aber wann geschieht das?

Gerade jetzt wäre die Situation günstig, um hier herauszukommen. Die Russen, die weitestgehend aus Kiew abgezogen sind – das ist für mich ein Indiz, dass sie wohl den Regime-Change aufgegeben haben und sich auf den Donbas, die Krim und Mariupol konzentrieren, um eine Verbindung zu erhalten. Das sind meiner Ansicht nach gute Rahmenbedingungen für Verhandlungen, weil jede Seite aus der Position der Stärke in die Gespräche gehen kann. Die Ukraine hat sich erfolgreich verteidigt und führte einen erfolgreichen Abwehrkampf, zumindest bis jetzt. Russland könnte auf seiner Parade am 9. Mai militärische Teilerfolge zelebrieren. Aber ich sehe den politischen Willen nicht. Der scheint in den USA nicht vorhanden zu sein. Washington müsste sich bewegen und mit Russland ernsthafte Verhandlungen führen.

Das ist im Grunde genommen das, was die Russen verlangen. Sie wollen mit den USA verhandeln, denn nach ihrer Wahrnehmung bestimmen die USA Selenskijs Kurs. In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob Selenskij nicht schon längst auf einen Kompromiss mit Russland eingegangen wäre, aber die USA das nicht zulassen, weil sie mit dem Krieg Russland schwächen können.

Ja, man muss die Frage stellen: Cui bono? Im Grunde genommen ist es von außen betrachtet so, dass die USA sehr davon profitieren. Das westliche Bündnis war schon lange nicht mehr so stark und geschlossen, wie es jetzt der Fall ist. Die 30 Nato-Staaten stehen zusammen, letztlich hinter den USA. In nahezu allen Staaten ist das Zwei-Prozent-Ziel erreicht, selbst in Deutschland (Rüstungsausgaben machen 2 % des BIPs aus), was vor ein paar Wochen noch unvorstellbar gewesen ist. Insofern ist das für die USA auch ein Vorteil, wenn man die wirtschaftlichen Konsequenzen sieht, aber die großen Verlierer sind die Europäer, vor allem Deutschland.

Was wäre also von Deutschland aus zu tun?

Man müsste unbedingt eine diplomatische Initiative starten. Man kann die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel an vielen Punkten kritisieren, aber nach den Vorgängen 2014 hat sie maßgeblich die Fäden in die Hand genommen und die diplomatische Initiative zur Ausarbeitung der Minsker Abkommen lanciert. So konnte sie politisch etwas bewegen. Wir müssen eine Lösung für die Situation nach dem Ende des Ukrainekriegs haben. Wir müssen die russischen Minderheiten schützen, die Situation im Donbas befrieden und den Prozess überwachen, die Frage der Krim regeln. Das alles kann nur auf diplomatischem Wege geklärt werden. Ich hoffe, dass Deutschland hier zu einem konstruktiven Mitgestalter wird.

Herr Dr. Vad, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

* Erich Vad, Brigadegeneral a. D., war von 2006–2013 militärpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ist heute Inhaber der Beratungsfirma Erich-Vad-Consulting.

Dr. Erich Vad (Bild zvg)

Dr. Erich Vad (Bild zvg)