Wo steht die syrische Opposition heute?

Karin Leukefeld im Gespräch mit dem syrischen Publizisten Michel Kilo
Video: 
weltnetz.tv
Länge: 
00:29:11
Interview: Karin Leukefeld

Die freie Journalistin und Syrien-Kennerin Karin Leukefeld sprach für weltnetz.tv mit dem syrischen Oppositionellen Michel Kilo über die Opposition und die Perspektive auf einen Frieden in Syrien.

Das Interview wurde am 13. April 2013 in Düsseldorf geführt, im Rahmen der Tagung für eine politische Lösung des syrischen Konflikts.

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Karin Leukefeld für weltnetz.tv im Gespräch mit dem syrischen Publizisten Michel Kilo
 

Karin Leukefeld: Herr Kilo, vielen Dank, dass Sie bereit sind, mit Weltnetz.tv zu sprechen.

Michel Kilo: Guten Tag, es freut mich sehr.

Karin Leukefeld: Herr Kilo, Sie sind Urgestein der syrischen Opposition. Was würden Sie sagen, wo steht die syrische Opposition heute?

Michel Kilo: Es gibt in Syrien Oppositionen und es gibt keine Opposition. Leider Gottes. Im Allgemeinen sagen wir, alle Parteien der Opposition sagen das Gleiche, haben im Grunde genommen den gleichen Diskurs. In der Praxis gibt es große Verschiedenheiten. Es gibt eine Opposition, die mehr für die Macht kämpft, als gegen die Macht. Es gibt eine Opposition, die – wie ich hoffe – die Demokraten in Syrien repräsentieren, die sagt: Laßt uns zuerst dieses Regime loswerden und dann zusammenarbeiten, wenn Syrien diese Transitionsphase heil durchstanden hat und dann können wir freie Wahlen machen und diejenigen, die diese Wahlen gewinnen, sollten eine Regierung bilden. Jetzt sollten wir einig sein, zusammen sein, miteinander arbeiten, damit Syrien nicht verloren geht. Wenn es in Syrien ein Chaos auf der Basis gibt und ein Chaos in der Regierung, in der Macht, dann wird das Land verloren gehen. Wir sollten uns einigen, damit die Macht einig sein wird in ihren Plänen, in ihren Schritten, in ihren Taktiken, um das Chaos auf der Basis absorbieren zu können. Und in dieser Hinsicht die Qualen der Menschen abzukürzen. Es gibt eine dritte Opposition, die jetzt mehr und mehr eine größere Rolle spielt, das ist im Grunde die Freie Syrische Armee, die eine politische Meinung vertritt, die jetzt sehr nah von unserer Meinung ist. Die eigentlich an der Seite der Demokraten steht, stand in der letzten Zeit. Wir als demokratische Opposition verlangen jetzt die Erweiterung der Koalition, so dass es ein nationales Gleichgewicht innerhalb der Koalition gibt. Und eine Regierung, die auch eine ausgeglichene Regierung sein wird. Und wir verlangen, dass ein Dokument zwischen uns und den Islamisten formuliert wird, in dem wir uns für diese Zusammenarbeit während dieser Transitions-, Übergangsphase verpflichten. Ich habe gesagt, es gibt im Grunde zwei große militärische Oppositionen jetzt. Die Opposition, die Sie legal nennen können, die Freie Syrische Armee und die Gruppen, die mit dieser Armee arbeiten und dann die so genannten „Integristen“, das sind die Leute, die einen islamischen Staat in Syrien bauen wollen.

Karin Leukefeld: Wie haben Sie diese Gruppen genannt?

Michel Kilo: Integristen, radikale Integristen. Umgruppiert um die Al Nusra Front. Auf jeden Fall, das komplizierte Bild der syrischen Opposition kompliziert natürlich die syrische Realität. Wir hoffen in der kommenden Zeit zu diesem Dokument zu kommen, zu einer gewissen Zusammenarbeit zu kommen, mit der Freien Syrischen Armee, so dass wir einen Block, nennen Sie es einen friedlichen, demokratischen Block von Islamisten, Demokraten, Laizisten und Armeekämpfern gegen die „Integristen“ und Radikalen zu arbeiten und das Land irgendwie zu retten. Und auch der Welt aus ihrer Verlegenheit herauszuhelfen.

Karin Leukefeld: Wenn Sie sagen, dass es eine Opposition gibt, die für die Macht eintritt, meinen Sie ….

Michel Kilo: Ich meine die Muslimbrüder. Die kämpfen jetzt mehr für die Macht als die, die gegen die Macht kämpfen. Das ist unsere Hauptkritik an ihnen. Sie sollten – Sie wissen ja - in der Politik spricht man von einem Hauptwiderspruch – der Hauptwiderspruch sollte eigentlich mit dem Regime sein und nicht mit den anderen politischen Richtungen. Das kompliziert sehr die Dinge, das regiert die Menschen und das verhindert im Grunde genommen einen sichtbaren Sieg.

Karin Leukefeld: Wir sind hier auf dieser Konferenz für Frieden in Syrien und ein Thema ist die Frage des Konfessionalismus. Spielt der Konfessionalismus innerhalb dieses Krieges in Syrien eine Rolle?

Michel Kilo: Im Grunde genommen spielt der Konfessionalismus innerhalb der Beschlüsse der politischen Parteien in Syrien eine viel größere Rolle als in der Realität. Zum Beispiel bei den Beschlüssen der Regierung werden Sie bestimmt immer die konfessionelle Frage (anwesend) finden. Sie arbeiten sehr damit, dass die konfessionelle Frage in den Vordergrund tritt und sie haben die ganze Zeit dafür gearbeitet, dass dieser Kampf für die Freiheit, der große Teile der syrischen Bevölkerung einigt, in einen Kampf unter den Konfessionen zu verwandeln. Ich glaube, sie haben teilweise Erfolge und wenn die Muslimbrüder ein bisschen bewusster gewesen wären, ein bisschen patriotischer gewesen wären, hätten wir diese Karte von der Hand des Regimes rausgezogen, auf jeden Fall.

Ja doch, es spielt eine Rolle, aber nicht in dem Sinne, in dem es verstanden wird in der internationalen öffentlichen Meinung. Dass es in Syrien einen konfessionellen Bürgerkrieg gibt, das gibt es nicht. Ich werde Ihnen ein Beispiel anführen. In Homs gab es Christen, Muslime und Alawiten. Es gab ungefähr 100.000 Christen, 650.000 Muslime und ungefähr 150.000 Alawiten. Das Regime evakuierte mit den Kanonen die Christen und die Muslime. Die Alawiten sind immer noch in Homs. Die FSA hat Kanonen, genügend Kanonen, um sie zur Evakuierung zwingen zu können. Aber sie sind immer noch da. Es gab Ausschreitungen, ohne Weiteres. Aber es gibt keinen konfessionellen Bürgerkrieg in Syrien, das stimmt nicht. Es gab keinen Syrer, der sein Dorf verlassen hat und ein anderes Dorf angegriffen hatte um, sagen wir umgekehrt, Alawiten oder Christen oder Muslime zu töten. Bis jetzt gibt es Dörfer in der Al Gharb Region, wo Christen, Alawiten und Muslime zusammen leben, bis heute. Es gibt in Syrien keinen Bürgerkrieg. Es gibt in Syrien einen Krieg, der viel schlimmer ist, als der Bürgerkrieg, der Krieg einer bewaffneten Macht, sehr straff organisierten Macht, mit einer überwältigenden Kraft und einer sehr großen Armee, sehr gut gedrillten Armee gegen eine Bevölkerung, die am Anfang unbewaffnete war. Und jetzt in einer ganz schrecklichen Misere lebt, weil sie, wie Sie sehen, Kanonen, Panzer, Raketen, ja sogar Raketen von einer Reichweite von 600 km ausgesetzt ist.

Auch in Damaskus, ich rede von der Mittelklasse in Damaskus, sie sind jetzt angefangen zu verhungern. Und sie haben eine unheimliche Angst, eine schreckliche Angst, unsere Nachbarn in Damaskus. Die Ärzte und Ingenieure. Wenn sie mit uns sprechen sagen sie: Wir öffnen nicht mehr unsere Fenster und wir reden nicht mehr mit unseren Nachbarn, wir gehen nicht mehr raus. Unsere Männer und unsere Söhne sind seit Monaten nicht mehr zur Arbeit gegangen. Und wir wissen nicht mehr, wie wir weiterleben werden. Wir finden von Zeit zu Zeit Patronen auf der Veranda bei uns oder bei den Zimmern und wir haben Angst.

Karin Leukefeld: Haben sich deswegen christliche Brigaden um Damaskus herum gegründet, die dort aktiv sind?

Michel Kilo: Wissen Sie, die Menschen auf dem Boden (on the ground) wissen viel besser als wir, was tatsächlich im Lande geschieht. Und dann gab es diese Wellen von Gewalt, die aus dem Regime herausgekommen waren. Und die Menschen haben Angst gehabt. Sie wollen natürlich keinen bewaffneten Kampf führen und nicht an einem bewaffneten Kampf teilnehmen. Sie wissen ja, die Christen sind meistens friedliche Leute. Bei uns sind sie friedliche Leute. Sie haben nie im Leben große Probleme gehabt. Miteinander oder gegen die anderen oder – also, der letzte Krach zwischen Christen und Muslimen geschah im Jahre 1860. Die Christen in Syrien, ich will nicht sagen, dass sie beiseite, dass sie gut leben, dass sie sich mehr der Arbeit widmen, als der Politik. Und jetzt sind sie in ihren Häusern, sie haben Angst. Sind sie jetzt mit dem Regime, weil sie in ihren Häusern sind? Das kann man eigentlich nicht sagen. Was ich weiß, am Anfang der Revolution waren doch geneigt, für ihre Freiheit ein bisschen zu tun und es gab Hunderte, Tausende von jungen Christen, die an den Demonstrationen teilgenommen hatten, überall in Damaskus. Also, wir kennen sie mit Namen. Jetzt sind sie bestimmt nicht mehr auf der Straße –

Karin Leukefeld: Viele junge Leute waren ja für Veränderungen aber gegen eine Militarisierung –

Michel Kilo: Ja natürlich.

Karin Leukefeld: Und nun gibt es doch diese Bataillone, wie Sie sagen, die sich offensichtlich aus Christen heraus gegründet haben?

Michel Kilo: Sie wissen, in Damaskus, in Daraya, in Sehnaya gibt es Christen. In Muadamiya gibt es Christen, in Jaramana gibt es viele Christen, in Al Kasab, das ist ein christliches Viertel – die werden bombardiert. Dann sind sie wie die anderen Leute gezwungen, sich zu verteidigen. Das ist es, ganz einfach. Es gibt sehr viele Jugendliche, die Waffen vom Regime bekommen haben und sie haben diese Waffen genommen und sind zur "Freien Syrischen Armee" gegangen. Weil sie sehen, dass die Leute um sie herum nicht bewaffnet sind, dass sie keine Banditen sind, dass sie einfache Menschen sind. Ihre Nachbarn, Freunde und alles andere und am Ende wird man durch humanistische Motive bestimmt. Sie sehen, dass die Menschen in einer großen Misere leben und dass sie gar keine Schuld daran haben.

Karin Leukefeld: Es wird ja sehr viel auch berichtet von Waffenlieferungen an die Aufständischen, die New York Times hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht aus dem hervor ging, dass 3500 Tonnen Waffen seit Januar letzten Jahres (2012) vor allen Dingen aus Katar kommend, aus Saudi Arabien finanziert über Jordanien oder die Türkei die bewaffneten Gruppen erreicht haben. Dieses Bild, dass es auf der einen Seite die gut ausgebildete syrische Armee gibt und auf der anderen Seite die Zivilbevölkerung, die versucht sich zu verteidigen. Ist das wirklich aufrecht zu erhalten angesichts von Berichten dieser Waffenlieferungen?

Michel Kilo: Wissen Sie, die Bewegung war friedlich, jetzt ist die Bewegung bewaffnet. Das muss man zugestehen.

Karin Leukefeld: Aber viele, die am Anfang auch protestiert haben, haben sich (deswegen) zurück gezogen.

Michel Kilo: Wissen Sie, die meisten Al Nusra Leute, diese Integristen, waren friedliche Demonstranten. Die meisten Jugendlichen. Ja, doch. Ich glaube auch, dass jetzt sehr viele Waffen ins Land hinein kommen, aber vergleichen sie das mit ungefähr 100.000 Tonnen Munition, die auf die Bevölkerung geworfen worden sind. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie gewaltsam das Regime gegen die syrische Bevölkerung immer noch vorgeht. Sie haben Kanonen, deren Reichweite 40 km sind, also wenn sie jetzt fünf Kanonen hier haben, können sie einen Umkreis von 80 km kontrollieren. Tag und Nacht werden die Menschen da beschossen. Mit der Luftwaffe, mit den Soldaten, mit den Hubschraubern, mit den Raketen.

Karin Leukefeld: Deswegen gibt es ja auch viele oppositionelle Stimmen die sagen, militärisch ist dieses Regime nicht zu besiegen, deswegen ist es erforderlich, dass man zu Verhandlungen kommt oder einen Dialog führt, dass man einen friedlichen Weg sucht.

Michel Kilo: Wissen Sie, Sie kennen mich seit mehr als zwei Jahren. Ich habe immer gesagt, wenn wir das Regime nicht besiegen können, dann sollen wir das Regime daran hindern, uns zu besiegen. Ich glaube, das ist die Situation in Syrien. Die Leute haben Angst, dass sie besiegt werden, wurden. Sie wussten von ihren Erfahrungen, dass es eine große Katastrophe sein wird, wenn sie besiegt würden. Und so, hatten wir die ganze Zeit gesagt, Leute: verhaltet Euch so, dass Ihr nicht besiegt werdet. Jetzt sind wir da, das Regime kann die Leute nicht besiegen. Können die Leute das Regime besiegen? Ich glaube doch, wenn es Waffen gibt. Aber es gibt keine Waffen. Deshalb sagen wir – es gibt nicht genügend Waffen, meine ich. Deshalb sagen wir, dass wir eine verhandelte Lösung möchten. In Genf wurde beschlossen, dass der nächste Schritt in Syrien der Übergang zur Demokratie sein wird. Bitte sehr. Ich habe mehrmals gesagt, ich persönlich und die anderen haben es auch gesagt, Parteien, Strömungen und andere, gebt uns Leute aus dem Regime, die damit einverstanden sind, dass Syrien im nächsten Schritt zur Demokratie geht. Und wir sind bereit, mit ihnen zu verhandeln. Aber mit Bashar al-Assad zu verhandeln, der die Menschen tötet und bombardiert, weil sie die Reform verlangt haben, das ist umsonst.

Karin Leukefeld: Es gibt Informationen, dass die Führung in Damaskus eine Gruppe benannt hat, Personen benannt hat, die für Verhandlungen bereit steht. Aber es gibt von Seiten der Opposition keine Antwort.

Michel Kilo: Das stimmt. Also auch da haben wir dem Regime gesagt, wenn diese Gruppe jetzt sagt, wir sind bereit über die Übergangsphase zur Demokratie zu verhandeln, dann sind wir bereit zu kommen. Bitte sehr. Sie sollten eine Erklärung machen, ein Kommunique in dem sie sagen, wir akzeptieren den Übergang zur Demokratie und wir sind bereit darüber zu verhandeln, wir gehen morgen nach Damaskus.

Karin Leukefeld: Sie gehören zu der Gruppe, Demokratisches Syrisches Forum. Einer ihrer Kollegen (aus der Opposition, Anmerkung kl), den Sie sicherlich aus Damaskus noch sehr gut kennen, ist Mouaz al-Khatib, er war Präsident der Nationalen Koalition. Auch er hat Gesprächsbereitschaft geäußert, unter bestimmten Bedingungen. Er wurde dafür aus der eigenen Gruppe heraus kritisiert, kurz darauf ist er von diesem Amt als Präsident der Nationalen Koalition zurückgetreten. Gibt es Kräfte innerhalb der Opposition, die ihre Bereitschaft oder die Bereitschaft von Herrn Al-Khatib zu verhandeln unter bestimmten Bedingungen, die das verhindern wollen?

Michel Kilo: Wissen Sie, Mouaz al-Khatib ist immer noch Präsident der Koalition.* Seine Demission ist nicht akzeptiert worden von der Koalition.

* Anmerkung der Redaktion: Mouaz al-Khatib ist am 22. April 2013 vom Amt des Präsidenten der Nationalen Koaltion zurückgetreten. Das Interview fand am 13. April 2013 statt.

Karin Leukefeld: Aber er hat sich innerlich wohl…

Michel Kilo: Ja, und international hat man es auch nicht akzeptiert. Er hat eine sehr große internationale Unterstützung und er hat eine überwältigende Unterstützung von der Bevölkerung. Mouaz al-Khatib ist relativ isoliert innerhalb der Koalition, aber er ist der Held der syrischen Bevölkerung.

Karin Leukefeld: Ein einsamer Held...

Michel Kilo: Ein Held. Nein, er hat eine sehr große Strömung hinter sich. Die gesamten demokratischen Kräfte sind mit ihm. Und die gesamten demokratischen Kräfte haben sehr viel Existenz auf der Basis in Syrien.

Karin Leukefeld: Aber innerhalb der Nationalen Koalition hat er keine Mehrheit.

Michel Kilo: Er hat ungefähr 25 Mann hinter sich, fast 40 Prozent. Und er hat eine große Unterstützung innerhalb der "Freien Syrischen Armee". In Wirklichkeit hat Mouaz al-Khatib Katar und die Türkei gegen sich. Ich sage es ganz offen.

Karin Leukefeld: Starke Gegner.

Michel Kilo: Und infolgedessen die Leute von Katar und von der Türkei gegen sich, innerhalb der Koalition. Das übrige Syrien ist mit Mouaz al-Khatib. Und wenn Mouaz al-Khatib richtig taktiert und arbeitet, ich glaube, der wird gewinnen.

Karin Leukefeld: Sicherlich braucht er dafür auch die Unterstützung von den europäischen Staaten und den USA?

Michel Kilo: Ja, doch. Er hat diese Unterstützung. Von Amerika, von Frankreich, von Deutschland, von England von allen Staaten, die darauf beharrt haben, dass er zur Gipfelkonferenz in Doha kommt und dort im Namen der Koalition spricht. Das war nicht vorgesehen von den Leuten der Koalition, dann wurde Katar gezwungen, dass zu akzeptieren und Mouaz al-Khatib als Präsident auf jeden Fall zu dulden.

Karin Leukefeld: Sie lächeln etwas, Sie haben sich darüber gefreut?

Michel Kilo: Ja.

Karin Leukefeld: Es spielt sich sehr viel hinter verschlossenen Türen ab und für die Öffentlichkeit sowohl in Europa als auch in Syrien gar nicht sichtbar. Das ist doch schwierig für eine Opposition, die Transparenz fordert.

Michel Kilo: Wissen Sie, das ist eine Krise, die sehr kompliziert ist. Die so kompliziert ist, dass wir manchmal selber nicht verstehen, was geschieht. Und infolgedessen gibt es sehr viele Hände im Spiel, gibt es sehr viele Willen im Spiel, gibt es sehr viele Gelder im Spiel, gibt es sehr viele Widersprüche im Spiel. Es gibt Amerika, Russland, Iran, die Türkei, China, die Golfstaaten. Und dann die Parteien um Syrien herum, die Leute, die nach Syrien gekommen sind, um zu kämpfen. Die Pasij (Pasdaran) und Hisbollah und die Leute aus Libyen und ich weiss nicht woher, von Nusra. Das ist sehr kompliziert.

Karin Leukefeld: Am Anfang habe ich sie vorgestellt als „Urgestein der syrischen Opposition“. Sie haben immer in Ihrem Land Widerstand geleistet, Sie haben viele Jahre dafür im Gefängnis verbracht. 2011, ich erinnere mich sehr gut, waren Sie für viele junge Leute sozusagen die Leitfigur. Nun sind Sie seit einiger Zeit, seit eineinhalb Jahren gezwungen, in Ausland zu sein und Sie lernen eine andere Seite der Politik kennen. Wenn Sie das vergleichen, Ihre Position als Oppositioneller in Syrien und jetzt von außen her, wie würden Sie das beschreiben?

Michel Kilo: Ich glaube, die Rolle eines Menschen ist nicht eine Funktion seines Wohnortes sondern seiner politischen Meinung und seines politischen Willens. In dieser Hinsicht habe ich viel größere Möglichkeiten im Ausland zu arbeiten, als in Syrien. Wenn ich in Syrien geblieben wäre, ich weiß nicht, ob ich Politik treiben könnte. Ich weiß nicht, ob ich lebendig sein würde, damit ich Politik treiben könnte... In Frankreich leben Sie in Freiheit, in Frankreich haben sie große (unverständlich), um Kontakt zum anderen zu haben, zur Welt zu haben, die Realitäten kennen zu lernen. Und ich habe ein sehr großes Netz von Beziehungen mit den Syrern innerhalb des Landes. Mit allen möglichen Syrern. Ich arbeite fast 20 Stunden jeden Tag mit den Menschen. Wie gesagt das ist eine Funktion der Position, nicht des Wohnortes. In Syrien gibt es so eine Streitigkeit zwischen den Oppositionellen im Inland und im Ausland. (lacht) Also ich sage immer, liebe Leute. Das ist eine Funktion, gucken Sie auf die Rolle des Menschen und dann sprechen Sie. Es gibt es viele innerhalb des Landes, die jetzt das Land verlassen, weil sie nichts mehr tun können.

Wenn Sie jetzt in Damaskus leben und ganz friedlich einen Kilometer gehen wollen, dann brauchen Sie vier bis fünf Stunden. Dann haben Sie vier oder fünf Barrikaden vor sich und manchmal können Sie eine ganze Stunde auf jeder Barrikade hängen bleiben. Am Ende können Sie nichts tun. Und vor 9:00 Uhr morgens kein Mensch geht aus seiner Wohnung heraus und nach 4:00 Uhr mittags, kein Mensch geht auf die Straße. Dann brauchen Sie einen ganzen Tag, um einen Kilometer hin- und herzugehen.

Karin Leukefeld: Eine Vertreterin der Opposition, die in Syrien noch arbeiten hat einmal zu mir im Interview gesagt, eigentlich sollte es so sein, dass die Opposition, die im Ausland ist, sie sollte denjenigen, die im Land arbeiten, folgen (sie unterstützen). Ist das möglich?

Michel Kilo: In verschiedenen Fragen ja, das ist möglich. Und es ist notwendig, ja. Ich meine, dass die Opposition im Ausland bald ins Land zurückkehren muß, in die „befreiten Gebiete“, wo sie ihre Rolle dort fortsetzen können. Wir im Demokratischen Forum Syrien denken ernsthaft daran, zurückzukehren.

Karin Leukefeld: Mouaz al-Khatib hat ja u.a. davor gewarnt, eine Exil- oder Auslandregierung zu bilden, die dann zurück in die „befreiten Gebiete“ geht. Seine Begründung war, dass das Land gespalten werden könnte. Verstehen Sie diese Angst? Sehen Sie diese Gefahr?

Michel Kilo: Ich glaube, das ist eine Möglichkeit, eine Gefahr. Aber es ist eine Gefahr unter Gefahren. Es gibt nicht genügend Realitäten, die in Richtung dieser Gefahr gehen. Als es angefangen hatte mit der Aufteilung von Aleppo, wurde in Syrien und außerhalb Syriens gesagt: Oh, das Land wird morgen gespalten. In einen „befreiten Norden“ und einen besetzten Süden. Jetzt wird der Süden viel schneller befreit als der Norden. Jetzt sind die Truppen der Regierung 50 km entfernt von Damaskus, sie waren 125 km, sie sind sehr stark zurück gedrängt worden. Das sind Befürchtungen, die existieren immer. Wie die Befürchtung, dass das Land geteilt wird, dass es einen Bürgerkrieg irgendwann geben wird. Das ist für mich eine sehr reale Befürchtung. Wenn eine Strömung, wenn eine politische Partei, eine einzige politische Partei die Macht übernimmt, wird es einen Bürgerkrieg in Syrien geben. Deswegen reden wir in den demokratischen Kreisen von der Zusammenarbeit auf lange Sicht. (Anmerkung der Redaktion: gemeint ist vermutlich: Zusammenarbeit auf Augenhöhe)

Karin Leukefeld: Wie ist Ihre Perspektive, Ihre Voraussage? Wird es Frieden in Syrien bald geben?

Michel Kilo: Ich hoffe ja. Ich hoffe, dass es bald in Syrien Frieden geben wird. Es gibt in Syrien sehr viele Schwierigkeiten und ich glaube, dass es nach dem Regime auch Schwierigkeiten geben wird. Sie wissen ja, eine Revolution zeigt Ihnen ihre Schwachpunkte und Mängel. Und diese Revolution hat uns gezeigt, dass wir sehr viele Schwachpunkte und Mängel haben, in unserer Gesellschaft, in unserem Staat, in unserem Denken, in unseren Beziehungen. Also wenn wir diese Schwachpunkte los werden können, werden wir sagen, dass wir eine Revolution gemacht haben. Wenn wir das nicht tun, wenn uns das nicht gelingt, dann werden wir – ich weiß nicht wann – eine zweite Revolution machen.

Karin Leukefeld: Michel Kilo, vielen Dank für dieses Gespräch.

Michel Kilo

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