Inkompetenz und politisch gewollte Übernahme anstelle einer Konföderation zwischen BRD und DDR für den wirtschaftlichen und sozialen Frust vieler Ostdeutscher verantwortlich
Wir sprechen mit Dr. Wolfgang Beck (ehemals einer der jüngsten Betriebsdirektoren der DDR), in dem er seinen Werdegang, seine Verantwortung im Elektromotorenwerk Wernigerode und seine Sicht auf DDR‑Wirtschaft, Treuhandabwicklung und heutige Politik schildert.
DDR‑Industriebetrieb und soziale Funktionen
Beck beschreibt, wie das Elektromotorenwerk Wernigerode mit rund 3.500 Beschäftigten nicht nur Produktionsstätte, sondern „soziale Heimat“ war: mit eigenem Ambulatorium, Lehrwerk, Ferienheim, Jugendclub, Betriebsfilmstudio, Kinderkrippe und Kindergarten sowie umfangreicher Senioren‑ und Jugendarbeit, die vertraglich im Betriebskollektivvertrag geregelt waren. Das Werk organisierte auch Ferienlager und polytechnische Ausbildung, um Kinder und Jugendliche früh an Technik und Beruf heranzuführen.
Produktion, Normen und Improvisation
Technisch begründete Arbeitsnormen sollten produktive Arbeit mit Pausen und besonderen Bedürfnissen (etwa Frauenruheraum) verbinden. Vietnamesische Vertragsarbeiter wurden ausgebildet, arbeiteten sehr effizient und deckten teils informelle Leistungsabsenkungen einheimischer Kollegen auf, worauf Normierung und Abläufe angepasst wurden. Wegen chronischer Materialengpässe improvisierten Direktoren: Stahl, Kugellager oder Motoren wurden teils an der offiziellen Planung vorbei getauscht oder über inoffizielle Wege beschafft, um die Planerfüllung und Exportfähigkeit zu sichern.
Exporterfolg und Stellung des Werks
Das Elektromotorenwerk Wernigerode war eines der größten Elektromotorenwerke Europas und exportierte Motoren (1,1 kW bis ca. 400 kW) in 47 Länder, mit hoher Devisenrentabilität. Produkte wie der „Multiboy“ (Mixer‑ähnliches Haushaltsgerät mit Elmo‑Motor) galten als langlebig und wurden im Westen unter Marken wie „Privileg“ verkauft; Beck betont, dass viele DDR‑Produkte qualitativ konkurrenzfähig waren.
Treuhand, Privatisierung und Bewertung
Beck schildert die Umwandlung des Volkseigentums in GmbHs über die Treuhand, zunächst unter Peter Moreth, später unter Detlev Rohwedder und schließlich Birgit Breuel. Nach seiner Darstellung zielten ursprüngliche DDR‑Pläne eher auf eine sozial verträgliche Eigentumsneuordnung, während die westdeutsche Seite auf schnelle Übernahme und Verkauf drängte; Ost‑Manager galten als überflüssig, Fachkräfte und „billiges Land“ als Vorteil. Das Werk sei mit etwa 70 Mio. DDR‑Mark angesetzt und dann zu einem Bruchteil seines aus Export und Substanz abgeleiteten Werts verkauft worden, während der Käufer (Adolf Merckle) zusätzlich einen hohen Verlustvortrag (Mitgift) erhielt.
Politische Bewertung und Gegenwart
Beck kritisiert das Narrativ von der „maroden DDR‑Wirtschaft“ als propagandistisch und verweist auf funktionierende Bereiche, die nach seiner Ansicht bewusst abgewertet und zerschlagen wurden. Er macht Inkompetenz und politisch gewollte Übernahme anstelle einer Konföderation zwischen BRD und DDR für den wirtschaftlichen und sozialen Frust vieler Ostdeutscher verantwortlich und sieht darin eine Ursache für heutige Unzufriedenheit. Das Elektromotorenwerk existiert heute noch, wenn auch stark geschrumpft und inzwischen in chinesischer Hand, was Beck zugleich als Verlust und als immerhin gelungenen Erhalt eines Industriestandortes bewertet.