Victor Grossman: Deserteur der US-Army in der DDR

Nachruf von Jenny Farrell und Weltnetz Video aus 2018

1951, als Soldat der US-Armee in Bayern stationiert, sah er sich durch den McCarran Act, der Mitglieder linker Organisationen als „fremde Agenten“ kriminalisierte, in einer ausweglosen Lage.

 21.12.25
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Unser Freund und Genosse Victor Grossman ist am 17. Dezember 2025 im Alter von 97 Jahren verstorben. Sein Leben war ein außergewöhnliches, ein Jahrhundertleben, das fast die gesamte Dramatik des 20. Jahrhunderts umspannte und bis in die Konflikte unserer Gegenwart hineinreichte. Es war auch das Leben eines Mannes, der die Hoffnung auf eine sozialistische Zukunft nie aufgab.

1928 als Stephen Wechsler in den USA geboren, wurde Grossmans politisches Bewusstsein früh geschärft: durch die Bilder der Großen Depression, den Kampf der spanischen Republik, die Schrecken des aufsteigenden Faschismus und den heroischen, aber unermesslich teuren Widerstand der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland. Als linker Student in Harvard half er, eine KP-Zelle aufzubauen, engagierte sich in der Anti-Rassismus-Bewegung und erlebte die Hochphase der progressiven Bewegung um Henry Wallace 1948 – und deren herbe Niederlage. Erfahrungen als Hilfsarbeiter in Buffalo und die brutalen Ausschreitungen beim Robeson-Konzert in Peekskill 1949 zeigten ihm die Schärfe des Klassenkampfes und den aufkeimenden McCarthyismus in seiner Heimat.

Der Kalte Krieg holte ihn ein. 1951, als Soldat der US-Armee in Bayern stationiert, sah er sich durch den McCarran Act, der Mitglieder linker Organisationen als „fremde Agenten“ kriminalisierte, und seine eigene Verwicklung in diese Gruppen in einer ausweglosen Lage. Die Sorge vor langjähriger Haft wegen Meineids trieb ihn zu einem dramatischen Schritt: Er floh über die Grenze nach Österreich und schwamm bei Linz durch die Donau in die sowjetische Besatzungszone. Diese Tat machte ihn offiziell zum Deserteur und zum politischen Schutzsuchenden.

In der DDR erhielt Stephen Wechsler einen neuen Namen und fand eine neue Heimat. Er lernte Deutsch, studierte Journalistik in Leipzig und fand die Liebe seines Lebens, seine Frau Renate. Als Journalist bei Radio Berlin International und bei John Peets „Democratic German Report“ wurde er zum Chronisten der DDR für ein englischsprachiges Publikum, stets bemüht, ein positives, aber auch differenziertes Bild zu zeichnen. Als freiberuflicher Referent, der mit Humor und nicht schablonenhaft über die USA berichtete, genoss er eine gewisse Narrenfreiheit und wurde zu einem bekannten, wenn auch nicht immer unumstrittenen Zeitzeugen. Seine Bindung an die DDR war die an ein „edles Experiment“. Er schätzte und verteidigte ihre sozialen Errungenschaften: die Abschaffung von Armut, Obdachlosigkeit und die Garantie von Bildung, Gesundheit sowie bezahlbarem Wohnraum.

Doch den Schock über die Enthüllungen zu Stalins Verbrechen 1956 und die erdrückende Übermacht des westlichen Konsum- und Medienangebots erlebte er schmerzlich. Nach den blühenden 1960er und 1970er Jahren erlebte er, wie die DDR auf die Abfahrtsrampe geriet, gelähmt durch alternde, realitätsferne Führungspersönlichkeiten und den Druck der UdSSR. Der Mauerfall 1989 brachte ihm dann tiefe Bitterkeit über die „schnelle, totale Kolonisierung“ des Landes und den Verlust seiner sozialen Ideale.

Nach 1990 konnte er die USA wieder bereisen. Er bewunderte die Vitalität und Vielfalt New Yorks, doch die offene soziale Verwahrlosung, die extreme Kommerzialisierung und die unermessliche Kluft zwischen Arm und Reich bestätigten seine schärfste Kapitalismuskritik. Sein Herz blieb berührt von der alten Heimat, doch freute er sich immer auf die Rückkehr in die bescheidenere, vertrautere Umgebung seiner anderen Heimat in der Berliner Karl-Marx-Allee.

Bis zuletzt war Grossman ein hellwacher und leidenschaftlicher Mahner. In seinen letzten Neujahrsgrüßen für 2025 identifizierte er drei apokalyptische Reiter der Gegenwart: die soziale Ungleichheit, die ökologische Katastrophe und die drohende Gefahr eines Atomkriegs. Schuld daran machte er eine unersättliche globale Finanzoligarchie, deren skrupellose Vertreter – von Musk bis zu den Rüstungskonzernen – er beim Namen nannte. Sein Funken Hoffnung ruhte auf den Kämpfen der Arbeiter, der Courage protestierender Studenten und der Möglichkeit, dass sich die Mehrheiten gegen Unterdrückung und für den Frieden erheben könnten.

Victor Grossman war geprägt von tiefer Überzeugung, mutiger Flucht, der Suche nach Zugehörigkeit in einem fremden Land, loyaler Kritik an diesem und einer nie erloschenen Sehnsucht nach einer den Menschen gerechten Welt.

Weitere Nachrufe:

Nico Popp, Bei ihm stimmte es, Nachruf jw

Victor Grossman: Grenzgänger und Weltenbürger, (nd 17.12.25)

Weitere Videos:

Victor Grossman – Ein Ami flieht in die DDR, Gesprächsaufzeichnung 1 Std. 34 Min.

My Life In East Germany & The Struggle Today With Victor Grossman, (Gespräch in englischer Sprache)

US-Wahlen 2016 – Mrs. Evil vs. Mr. Wrong, Gespräch mit Victor Grossman, Diether Dehm, Rainer Rupp

Produktion: weltnetz.tv
Länge: 00:18:20
Aufzeichnung: Oktober 2018
Personen: Victor Grossman



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