Wie viel Marx braucht DIE LINKE?

Andreas Wehr
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*Quelle: Andreas Wehr - Newsletter Oktober 2018

 

DIE LINKE zwischen Mosaik und Klassenkampf – damit haben die heutigen Veranstalter die zwei politischen Pole benannt, um die es auch in meinen Ausführungen gehen soll. Und ich möchte es noch deutlicher formulieren: Mosaik oder Klassenkampf.

Die Partei DIE LINKE beruft sich offiziell auf das Werk von Karl Marx und Friedrich Engels. Doch welchen Marx und welchen Engels meint sie dabei? Ich darf hier einen ihrer wichtigsten Vordenker zitieren - Dieter Klein. Als einer der Autoren des Chemnitzer Grundsatzprogramms der PDS von 2003 schrieb er: "Lasst euch nicht von dem Begriff libertär schockieren, das ist Marx. Der sprach von der freien Entwicklung des Einzelnen."1 Dabei paraphrasierte Dieter Klein jenen berühmten Satz aus dem Manifest der Kommunistischen Partei, der wörtlich lautet: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.2

 

In der DDR wurde dieser Satz als Zeugnis des Vorrangs der Gesellschaft bzw. des Kollektivs gegenüber dem Einzelnen verstanden. Zum Ende der DDR hin wurde dann dieses Verhältnis infrage gestellt. In seinem Buch mit dem metaphorischen Titel Abendlicht schreibt Stephan Hermlin 1979 über die Umkehrung seines Denkens: "Längst schon glaubte ich, es (das Manifest) genau zu kennen, als ich, es war etwa in meinem fünfzigsten Lebensjahr, eine unheimliche Entdeckung machte. Unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: 'An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.' Ich weiß nicht, wann ich begonnen hatte, den Satz so zu lesen, wie er hier steht. Ich las ihn so, er lautete für mich so, weil er meinem damaligen Weltverständnis auf diese Weise entsprach."3 Hermlin las also "die freie Entwicklung aller" statt "die freie Entwicklung eines jeden", wie es tatsächlich heißt. Mit anderen Worten: Dieser Satz sei nach Hermlin 140 Jahre lang von Millionen Marxisten immer falsch verstanden worden. Aus dieser wundersamen "Entdeckung" folgerten er und ihm darin folgend Dieter Klein sowie die Brüder Brie in Umkehrung ihres bisherigen Denkens, dass zuvorderst die "freie Entwicklung des Einzelnen" komme, die erst die "Befreiung aller" möglich mache.

 

Bereits im Programm der PDS von 1993 wurde jener Satz des Manifests in diesem Sinne an prominenter Stelle zitiert, wenn auch bereits in leicht abgeänderter Form. Im Abschnitt 3 "Sozialistische Erneuerung" heißt es gleich zu Beginn: "Der Sozialismus ist für uns ein notwendiges Ziel – eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung der einzelnen (nicht "eines jeden", wie es im Original heißt) zur (im Original heißt es: "die") Bedingung der freien Entwicklung aller geworden ist (aus "ist" wurde hier "geworden ist")."4 Wiederum anders und bereits beträchtlich vom Wortlaut des Originaltextes entfernt, begegnet uns der Satz im Ingolstädter Manifest der PDS von 1994, vorgestellt von Gregor Gysi. Darin heißt es: "Eine Gesellschaft, wo die freie Entwicklung eines jeden einzelnen zur Bedingung der freien Entwicklung aller geworden ist, stellt unseren Maßstab dar."5 Noch weiter verballhornt wird jener Satz schließlich im Erfurter Programm der Partei DIE LINKE von 2011: "Wir wollen eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus aufbauen, in der die wechselseitige Anerkennung der Freiheit und Gleichheit jeder und jedes Einzelnen zur Bedingung der solidarischen Entwicklung aller wird."6 Diese Formulierung erinnert nun wirklich nicht mehr an den Ausgangstext!

 

Der berühmte Satz aus dem Kommunistischen Manifest begleitet also die PDS bzw. DIE LINKE auf ihrem Weg seit 1989. Und, - wie ich gezeigt habe - ist er dabei bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden. Diese Abänderungen markieren zugleich den Weg der Partei weg von Marx und Engels.

 

Denn liest man jenen Satz im Kontext des Manifests, wird schnell klar, dass es sich hier nicht um ein liberales bzw. libertäres Postulat handelt, nach dem der Einzelne aufgerufen ist sich selbst zu befreien, auf das – geschieht es nur massenhaft genug – am Ende alle befreit sind.

 

Vielmehr geht es hier um die Aufhebung des Klassengegensatzes und von Klassen überhaupt. Davon handelt der Absatz, der dem Satz vorangeht. Marx und Engels gingen also davon aus, dass erst die Aufhebung des Klassengegensatzes die freie Entwicklung eines jeden möglich macht - und nicht umgekehrt. So auch der Philosoph Hans Heinz Holz: "So kann ein jeder sich frei entwickeln, ohne die Möglichkeiten anderer zu schmälern. Erst wenn ein jeder dazu freigesetzt ist, sich zu entwickeln, sind alle frei, und dies ist erst wirklich Freiheit - entgegen jener Freiheit von einzelnen in Klassengesellschaften, die sich durch die Unfreiheit anderer erhält".

 

Marx und Engels kannten natürlich den Artikel 34 der französischen Revolutionsverfassung von 1793, in dem es heißt: "Unterdrückung der Gesamtheit der Gesellschaft ist es, wenn auch nur eines ihrer Glieder unterdrückt wird."7Die Forderung aus dem Manifest, die Klassen, Privilegien und Bevorrechtigungen sämtlich aufzuheben, zielt daher auf die Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaft, in der Freiheit "ein Privileg" ist, das nur für die Auserwählten, für die Besitzenden gilt, wie es Domenico Losurdo formuliert hat. In der klassenlosen Gesellschaft soll hingegen keiner unberücksichtigt bleiben, keiner vergessen werden: "Keiner oder alle", heißt es denn auch so treffend bei Heiner Müller in seinem Stück Germania 3 Gespenster am toten Mann. "Keiner weniger" heißt der Titel eines bewegenden chinesischen Films – besser kann man es nicht sagen.

 

Die hier dargestellte Auseinandersetzung um eine Formulierung im Kommunistischen Manifest ist daher alles andere als eine philologische Spitzfindigkeit – denn stellt man diesen Satz auf den Kopf, wie es Hermlin, Klein, Gysi, die Bries und mit ihnen jene Delegierten, die die Parteiprogramme mehrheitlich beschlossen haben, getan haben, landet man unweigerlich - zumindest ideologisch - im gegnerischen Lager. Für den Liberalismus steht nun einmal die "freie Entwicklung des Einzelnen" im Mittelpunkt seines Weltbildes. Sie ist Ausgangs- und zugleich Endpunkt seines gesamten Denkens. Wie heißt es doch im "konsumistischen Manifest", wie sie es nennen, so treffend? Wenn jeder an sich denkt ist an alle gedacht!

 

Einen liberalen oder auch libertären Sozialismus kann man mit allen möglichen Zitaten begründen – nicht aber mit den Aussagen von Karl Marx oder Friedrich Engels.

 

Im März 2010 forderte Petra Pau die LINKE dazu auf, sich zu einer "modernen sozialistischen Bürgerrechtspartei"8 zu transformieren. Bereits zuvor war der heutige Berliner Kultursenator Klaus Lederer zu der Schlussfolgerung gekommen, dass für die Linke nur noch die Aufgabe bleibt, "etwas für Autonomie und Selbstverwirklichung zu tun".9

 

Heute muss man feststellen, dass die Partei DIE LINKE auf diesem Weg in den seitdem vergangenen Jahren ein großes Stück vorangekommen ist. Denn mit welchen Themen tritt sie öffentlich vor allem in Erscheinung? Sie versteht sich als feministische Bewegung und befürwortet dabei die quotierte Besetzung von Aufsichtsräten in Großunternehmen und schreibt – um den Anforderungen der Political Correctness zu entsprechen – ihre Texte neuerdings mit Sternchen. Sie streitet für die Rechte von gleichgeschlechtlichen Paaren und setzt sich für die Rechte von jenen Minderheiten ein, die hinter der Abkürzung LGBTI stehen. Sie wendet sich gegen Rassisten und Nazis, kämpft für die individuellen Rechte von Flüchtlingen und Migranten, verlangt die Selbstbestimmung über die eigenen Daten. Sie fordert die Änderung von Gesetzen, etwa von Polizeigesetzen, die die Privatsphäre unangemessen einschränken, sie wendet sich gegen jegliche Ausforschungen durch Behörden usw., usw.

 

In all diesen Kampagnen, großen und kleinen, Initiativen und Gruppen verliert sich die Partei DIE LINKE, ist sie nur noch ein Stein unter vielen anderen in einer sogenannten Mosaiklinken.

 

Ich möchte hier nicht missverstanden werden – es ist selbstverständlich Aufgabe einer linken Partei, sich bei der Verteidigung demokratischer Rechte und beim Schutz von Minderheiten zu engagieren und dabei klar Stellung zu beziehen. Dies war immer auch ein Anliegen der Arbeiterbewegung. Ich erinnere hier nur an die Kämpfe in der alten Bundesrepublik gegen die Notstandsgesetze und gegen die Berufsverbote.

 

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass SPD, Grüne, FDP und oft sogar Liberale in der CDU – etwa in der Frage der Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe – hier nicht nachstehen. Es ist eine Tatsache, dass in dem strikt neoliberal ausgerichteten Irland erst kürzlich mit der Aufhebung des Abtreibungsverbots die Gegner der Kirche einen großen Sieg feiern konnten. Und in Belgien, an dessen Regierung die flämische Rechte maßgeblich beteiligt ist, soll jetzt sogar jegliche Strafbarkeit für Schwangerschaftsabbrüche abgeschafft werden. Der französische Präsident Hollande setzte gegen Kirche und Konservative in einem Kulturkampf die gleichgeschlechtliche Ehe durch. Dazu verband er sich mit Liberalen, die wüste Gegner der Gewerkschaften sind. Mit ihrer Hilfe wurden unter Hollande Schutzrechte für die Lohnabhängigen gleich reihenweise abgebaut.

 

Die Beispiele zeigen: Der Erhalt und sogar der Ausbau von Bürgerrechten und von Schutzrechten für Minderheiten harmoniert durchaus mit Härte und Unnachgiebigkeit bei der Abwehr von Forderungen der Lohnabhängigen und sozial Benachteiligten. Das ist es, was die US-amerikanische Soziologin Nancy Fraser „progressiven Neoliberalismus“ nennt. SPD und Grüne sind klassische Vertreter dieses progressiven Neoliberalismus. Und die Partei DIE LINKE bemüht sich, hier den Anschluss nicht zu verpassen.

 

Die eigentliche Aufgabe einer wirklich sozialistischen Partei liegt aber in der Vertretung der sozialen Rechte der Mehrheit der Bevölkerung. Ihre geschichtliche Mission besteht darin, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."10 Nur eine solche Partei kann sich auf Marx und Engels berufen.

  • 1. "Ich bitte auch, Zustimmung zu ertragen", in: Neues Deutschland vom 09.05.2001
  • 2. Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Band 4, Berlin 1957, S.482
  • 3. Stephan Hermlin, Abendlicht, Berlin 1987, S.18
  • 4. Partei des Demokratischen Sozialismus, Programm, Berlin, 1998, S.7
  • 5. Gregor Gysi, Ingolstädter Manifest "Wir-mitten in Europa, Plädoyer für einen neuen Gesellschaftsvertrag", Berlin, 1994, S.15
  • 6. Programm DIE LINKE, Beschluss des Parteitags vom 21. Bis 23. Oktober 2011 in Erfurt, S. 5
  • 7. Zitiert nach Domenico Losurdo, Das 20. Jahrhundert begreifen, Köln 2013, S.77
  • 8. Vgl. Marianna Schauzu, Der Kampf ist eröffnet – Die Linke soll Bürgerrechtspartei werden, in: Junge Welt vom 15./16. 05. 2010
  • 9. Klaus Lederer, Links und libertär? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 7/2010
  • 10. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW, Band 1, Berlin 1957, S.385
Andreas Wehr
Andreas Wehr - Marx Engels Zentrum | Berlin