- Die Gelbwesten-Bewegung gehört zu den bedeutendsten sozialen Bewegungen in Europa seit der Jahrhundertwende. Sie umfasst mehrere Hunderttausend Aktive und hat die Sympathie einer großen Mehrheit der Bevölkerung in Frankreich. Sie fällt deutlich aus dem Rahmen der bekannten Protestbewegungen von Gewerkschaften und linken Organisationen gegen die neoliberale Politik, Kampagnen zivilgesellschaftlicher Organisationen, oder auch von Bewegungen wie Occupy oder Nuit Debout.
- Die Gilets Jaunes haben ihren Ursprung unter den Verlierern der neoliberalen Globalisierung, die sich vom etablierten politischen System nicht mehr repräsentiert sehen. Viele Gelbwesten hatten bisher noch nie an Protesten teilgenommen. Initiiert wurde die Bewegung von unorganisierten Einzelpersonen, die sich politisch weder als rechts noch links verorten und sich explizit von Gewerkschaften und politischen Parteien - auch der Linken - distanzieren. Sie lehnen feste Strukturen und Repräsentanten der Gesamtbewegung ab. Bisher ist nicht erkennbar, dass organisierte Kerne oder bestimmte Strömungen die Hegemonie besäßen.
- Dennoch ist klar sichtbar, dass die konsensfähigen Forderungen sich gegen die neoliberalen Reformen Macrons richten. Es handelt sich in der Substanz also um eine anti-neoliberale Revolte. Objektiv besteht eine Konvergenz der sozialen Forderungen der Gelbwesten mit den Positionen linker Gewerkschaften und Parteien. Die Regierung hat daher konsequenterweise sozialpolitische Zugeständnisse in der Höhe von 10,3 Mrd. Euro gemacht.[1] Auch wenn dies der Bewegung den Wind aus den Segeln nehmen soll, ist es auch ein Erfolg, wie er so schnell und so umfangreich keiner anderen Bewegung in letzter Zeit gelungen ist. Der Protest geht dennoch weiter.
- Wie sozialwissenschaftliche Analysen und repräsentative Umfragen zeigen,[2] gehen die Ursachen der Rebellion weit über die Ablehnung der Politik Macrons hinaus. Es ist ein generelles Gefühl des „ras le bol“ (sinngemäß: „Wir haben die Schnauze voll!“). Die Erosion des Vertrauens nicht nur zu Macron, sondern zu den etablierten Institutionen bei gut zwei Dritteln der Bevölkerung ist Symptom der allgemeinen Krise neoliberaler Wirtschafts- Sozial- und Gesellschaftspolitik und der Krise der Repräsentation im parlamentarisch verfassten Kapitalismus. Es ist genereller Ausdruck von Wut und tiefer Enttäuschung bei „denen da unten“ und von Kontrollverlust bei den Herrschenden, wie er sich nach 30 Jahren neoliberaler Globalisierung nicht nur in Frankreich manifestiert. Ein Kontrollverlust, der nicht durch einen Scheindialog[3] wieder hergestellt werden kann. Das soll nur übertünchen, dass es von Anfang an erhebliche polizeiliche Repression und hohe Strafen im Schnellverfahren gab, die jetzt durch neue autoritäre Gesetze noch einmal verschärft werden.
- Die Offenheit und Diffusität der Bewegungsstrukturen sind Stärke und Schwäche zugleich. Zum einen ermöglichen sie durch den vermeintlich unpolitischen Charakter breite Teilnahme und Unterstützung in der Bevölkerung, zum anderen macht es sie zum Terrain für organisierte Kräfte unterschiedlicher politischer Lager im Kampf um Einfluss und Führung.
- Angesichts der Breite der Bewegung kann es nicht überraschen, dass sich auch zweifelhafte Akteure - z.B. Rechtsextremisten - unter die Aktivisten mischen. Obwohl diese nicht im Entferntesten repräsentativ sind, werden sie von Herrschaftsseite und ihren ideologischen Apparaten selektiv herausgegriffen, um die gesamte Bewegung zu delegitimieren. So bezeichnete Budgetminister Darmanin die Bewegung schon gleich am Anfang als „braune Pest.“ Andere brachten den Rassismus- und Antisemitismusvorwurf in Stellung. Und natürlich erfüllt auch die Randale die übliche Funktion: hochgespielte Empörung über Gewalt, um von den Ursachen der Proteste abzulenken.
- Nach anfänglichem Zögern haben Gewerkschaften diejenigen Forderungen der Gelbwesten aufgegriffen, für deren Durchsetzung sie seit langem selber kämpfen und den Zusammenschluss gesucht. Gemeinsame Aktionen gegen einzelne Betriebe haben an zahlreichen Orten stattgefunden[4]. Die Gelbwesten und ihre Unterstützer stehen vor der gleichen Herausforderung wie die Bewegungen vorher gegen die neoliberalen Arbeitsgesetze, die Reform der Bahn, für Klimagerechtigkeit, gegen den Abbau des Gesundheitswesens, usw. Auf der linken Seite des politischen Spektrums hat dessen stärkste Formation, La France Insoumise, die Gelbwesten von Anfang an unterstützt. Auch Attac Frankreich hat sehr früh dazu aufgerufen, sich an den Protesten zu beteiligen und die progressiven Positionen zu stärken.[5] Nach einigem Zögern unterstützen und beteiligen sich – mit unterschiedlichem Einsatz - alle relevanten Kräfte der Linken[6]. Attac Frankreich spielt für die Zusammenarbeit der verschiedenen Kräfte eine bedeutende Rolle.
- Niemand kann wissen, wie es weiter geht. Sicher ist jedoch, dass das gegenwärtige Format nicht mehr lange halten wird. Irgendwann nutzt sich jede Bewegung ab, erschöpft sich, erodiert oder spaltet sich, wenn sie nicht zu neuer Qualität findet. Auf jeden Fall von Dauer sind die vielfältigen Lernprozesse, die intensiven Debatten statt bedrücktes Schweigen, das Experimentieren mit neuen Aktionsformen, die politischen Erfahrungen, die Solidarität untereinander und mit anderen. Eine neue Zuspitzung ist natürlich auch ein denkbares Szenario, z.B. der Übergang zu Streikbewegungen oder zu einem Generalstreik. Entscheidend wird sein, ob die Bewegung zur glaubwürdigen, politisch attraktiven Alternative sowohl zu Macron als auch zu Le Pen wird. Das wäre auch richtungsweisend für die Bewegungen in anderen europäischen Ländern.
- Unabhängig davon, wie es weiter geht, hat die Bewegung schon jetzt Wirkung über die Grenzen Frankreichs hinaus. So ist Macron, einst als „Retter Europas“ angetreten, so geschwächt, dass er froh sein kann bei den EP-Wahlen nicht an dritter Stelle zu landen. Auch in der informellen Hierarchie der EU ist er gegenüber Berlin wieder zurückgefallen. Seine Pläne zur Stabilisierung des Euro sind mit der Verletzung der Maastrichtkriterien endgültig Makulatur. Jetzt ist nicht nur Merkel eine lahme Ente, sondern auch der Hoffnungsträger aus Paris.
- Und hier in Deutschland, was tun?
- Verstehen! Für die Bewegungslinke auch außerhalb Frankreichs enthält die Erfahrung mit den Gelbwesten schon jetzt wertvolle Lehren, die es wert sind, diskutiert zu werden. Die Projektgruppe plant Veranstaltungen zur politischen Lage in Frankreich, auch unter Beteiligung von Gelbwesten und Attac Frankreich.
- Handeln! Solidarität mit den Gelbwesten und weiteren Bewegungen in Frankreich entfalten, durch Solidaritätsadressen, Spenden, Veranstaltungen, Publikationen etc., aber auch und vor allem durch die Bekämpfung der neoliberalen Politik im eigenen Land – das ist unsere größte Herausforderung.
Kontakt: europa@attac.de
[1] Frankreich wird mit 3,2% des BIP 2019 die Maastrichtgrenze für Neuverschuldung reißen. Ohne Gegenfinanzierung sogar mit 3,4%. / Dazu Attac Frankreich (https://france.attac.org/ ) zur Rede Emmanuel Macrons an die Nation (10.12.2018): Nebelkerzen, um Steuerungerechtigkeit und Geschenke an die Reichen zu retten! - Übersetzung in SiG130, S.6
[2] Einen tiefen Einblick in den politisch-mentalen Zustand des Landes gibt eine repräsentative Umfrage, die von Science Po Cevipov/Opinionway Ende Dezember 2018 im Rahmen ihres langfristigen Programms Barometer des politischen Vertrauens durchgeführt wurde. https://www.sciencespo.fr/cevipof/sites/sciencespo.fr.cevipof/files/CEVIPOF_confiance_vague10-1.pdf
[3] Brief von Macron, 14.1.19: http://www.lefigaro.fr/politique/2019/01/13/01002-20190113ARTFIG00156-grand-debat-national-la-lettre-aux-francais-d-emmanuel-macron.php ; attac FR, 14.1. https://france.attac.org/actus-et-medias/les-videos/article/lettre-aux-francais-e-s- emmanuel-macron-se-moque-de-nous
[4] Sand im Getriebe Nr.130, S. 10; CGT „Gemeinsam siegen, das ist möglich“; Solidaires; Appell von Gewerkschaftsmitgliedern
[5] Attac Frankreich, Übersetzungen in SiG130: „Alle am 8. Dezember 2018 auf die Straße!“ „Ende der Welt und Ende des Monats – gleicher Kampf!“ L’exécutif refuse de changer de cap. 4.12.2018; https://france.attac.org/actus-et-medias/salle-de-presse/article/lexecutif-refusede-changer-de-cap-il-ne-prend-pas-la-mesure-de-l-urgence / Aufruf „Mit den Gelbwesten … „, 12.Januar 2019
[6] S. den gemeinsamen Aufruf vom 7.12.2018 „Soziale Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit – ein Kurswechsel muss durchgesetzt werden“, Übersetzung in Sand im Getriebe Nr.130, S. 7.