Anlässlich der seit sechs Wochen anhaltenden Mobilisierung von Millionen Bürgern und Bürgerinnen in ganz Algerien gebe ich hier zwei meiner Artikel aus dem Freitag in leicht aktualisierter Form wieder:
Volk, Armee und Polizei vereint – neue Widerstandsformen in Algerien*
Weltweit herrscht Verdruss an zu langem Verbleiben von Politikern im Amt. Es gilt als Grund für Stagnation, für schlechte Perspektiven der Jugend. Wenn sich seit Wochen eine überwältigende Zahl von Bürgern und Bürgerinnen in ganz Algerien gegen ein 5. Mandat ihres seit 20 Jahren regierenden und schwergeschädigten Präsidenten wendet, der seit 2013 nicht mehr öffentlich spricht – sollten die Demonstrationen nicht als Unmut über schreiende Armut missverstanden werden. Obgleich der Lebensstandard kein mitteleuropäisches Niveau hat, war er doch nie so hoch wie jetzt. Aber Gerechtigkeit herrscht nicht. Die nach einem Jugendaufstand bereits 1988 eingeführte formale bürgerliche Demokratie war nicht demokratisch genug, um Missbrauch politischer Macht zu schamloser Bereicherung einer Elite zu verhindern und zu garantieren, dass die Rendite aus Erdöl und Erdgas konsequent für den Aufbau von Verkehrs- Gesundheits- und Bildungssystem eingesetzt würde. Auch diese Schwächen teilt Algerien mit anderen Ländern und auch hier haben die Demonstranten kein klares Konzept, wie die Demokratie weiter demokratisiert werden kann. Aber längst geht es nicht nur um das 5. Mandat Abdelaziz Bouteflikas. Verlangt wird die Abdankung der gesamten politischen Klasse einschließlich der sich als links bezeichnenden Opposition. Auch deren Politikern wird die Teilnahme an den Märschen verwehrt. Diese werden wohl weitergehen, zumal die Macht Bouteflikas durch das Aussetzen der Wahl im April auf unbestimmte Zeit verlängert wurde.
Der unhintergehbar gewordene Reformprozess ist risikoreich. Er birgt die nicht zu unterschätzende Gefahr, dass sich populistische Scharlatane der Staatsführung bemächtigen. Es bleibt abzuwarten, ob Islamisten noch einmal eine Chance wittern. Bis jetzt sind sie nicht auf den Plan getreten.
Immerhin scheint die Gesellschaft aus dem Leid der im Bürgerkrieg der neunziger Jahre herrschenden extremen Gewalt viel gelernt zu haben – die Proteste verlaufen unter ständigen Aufrufen zur Gewaltlosigkeit. Diesem Credo haben sich auch die Justiz, die Polizei und die Armee angeschlossen, was an die ´friedliche Revolution` in der DDR erinnert. Waren an deren Auslösung jedoch starke politische Akteure von außen beteiligt, gibt es dafür keine Anzeichen in Algerien. Die EU einschließlich Frankreichs hatten sich kaum am 5. Mandat Bouteflikas gestört, weil er, beziehungsweise das in seinem Namen agierende Regierungsteam, bislang Stabilität garantierte und sich beim Aufhalten von Migranten kooperativ zeigte.
Hier ein Video, auf dem man sieht, wie sich eine Einheit der Polizei mit den Demonstranten verbrüdert und deren Slogans übernimmt: „One two tree – viva l` Algérie“
https://www.youtube.com/watch?v=EVzTEUcuL40&feature=youtu.be
Algerien: Nationale Konferenz oder Volkskomitees?**
„Ihr seid Kinder des Volkes, verhaltet Euch besonnen gegenüber den Demonstranten!“ – hat der berentete Polizeikommissar Si Slimane vor der Großdemonstration am 15. März an viele ehemalige Kollegen und Untergebene über soziale Medien verbreitet. Dies hatte er schon als Befehl ausgegeben, als er noch im Dienst und die entsprechende Haltung unter den Ordnungskräften weniger verbreitet war als heute. Si Slimane besaß Autorität, u. a., weil er eine Degradierung in Kauf nahm, nachdem er zu einem Polizisten hielt, der sich von einem Richter ungerecht behandelt fühlte und ihn geohrfeigt hatte.
Si Slimanes Wunsch ging in Erfüllung. Die Demonstration am 15. März, zu der in ganz Algerien diesmal auch Familien einschließlich Kindern strömten, verlief ohne größere Zwischenfälle. Provokateure wurden gleichermaßen von Demonstranten wie von Polizisten schnell diszipliniert. Wie an den drei vorherigen Freitagen reinigten die Demonstranten selbst die Straßen und Punkt 17:00 Uhr war Schluss. So soll verhindert werden, dass sich in der Dunkelheit entwickelnde Randale den Demonstranten in die Schuhe geschoben werden können – wie es zunächst bei der Brandlegung des nahe dem Präsidentenpalast gelegenen Antikenmuseums in der Nacht des 8. März geschah. Laut polizeilichem Kommuniqué waren da aber aktenkundige Hooligans am Werk gewesen, die mit den Protesten nichts zu tun hatten.
Nicht ohne Seitenblick auf die weder von Randalen noch von unverhältnismäßiger Polizeigewalt freien Gelbwestenproteste hat der Autor Kamel Daoud im französischen Fernsehen gesagt: „Endlich Schluss mit der Mär, dass wir Wilde sind und ihr die Zivilisierten.“ Tatsächlich präsentiert sich eine zu machtvoller Selbstorganisation fähige Bürgergesellschaft, die man dem in den neunziger Jahren von einem grauenvollen Bürgerkrieg geschüttelten Land nicht zugetraut hätte. Si Slimanes Bruder Mohamed, der an den Demonstrationen in der Hauptstadt teilnahm, äußerte sich begeistert über die „Brüderlichkeit“, die unter den Menschen herrschte. Sie verlangen „Respekt vor der Verfassung“, die die angekündigte Verlängerung der Präsidentschaft Bouteflikas auf unbestimmte Zeit nicht zuließe. Ein „grundlegender Systemwechsel“ wird eingefordert. Der Ruf „Haut ab!“ ist an den gesamten Regierungsapparat gerichtet. Keinen einzigen islamistischen Slogan hätte er gehört, erzählt Mohamed erleichtert. Allerdings hat er sich einen Sonnenbrand geholt und drei Stunden gebraucht, um auf der Heimfahrt 500m voranzukommen. Der Stau reichte vom Zentrum Algiers bis Rouiba, ein 22 km entfernter Vorort, auf halbem Wege in die Kabylei, von wo ein Teil der Demonstranten gekommen war.
Sie hatten sich nicht davon beeindrucken lassen, dass die Regierung bereits zurückgetreten ist und der als Premier nominierte ehemalige Innenminister Noureddine Bedoui angekündigt hat, dass sein Kabinett aus Spezialisten, jungen Menschen und zu großen Teilen aus Frauen besteht soll. Aber die Demonstranten vermuten, dass es sich doch nur um Marionetten des bestehenden Systems handeln kann.
Das bestehende, schlecht funktionierende System ist ein Mix aus staatlichen und privaten Betrieben. Die ersteren arbeiten größtenteils unwirtschaftlich, u. a., weil sie, um die Arbeitslosenquote zu vermindern, weit mehr Personal als rationell wäre, beschäftigen. Der private Sektor besteht aus kleinen, mittleren und bereits sehr mächtigen Unternehmen, die wie in anderen postsozialistischen Ländern aus illegalen Transaktionen in der Umbruchsphase entstanden und auch weiterhin illegale Geschäftspraktiken im In- und mit dem Ausland pflegen. Ähnlich wie in China ahndet die Justiz auch hier ständig große Wirtschaftsvergehen, z. B. 2013 gegen Rafik Khalifa, der ohne bedeutendes Anfangskapital innerhalb von 10 Jahren eine potente Bank und eine Fluggesellschaft aufgebaut hatte. Gegenwärtig muss sich die Justiz mit der Verwicklung zahlreicher hoher Kader – ehemalige Minister, hochrangige Militärs und Geheimdienstler – in den internationalen Drogenhandel beschäftigen, weil herauskam, dass sie oder ihre Angehörigen etwas mit den 700Kg Kokain tun hatten, die im August 2018 im Hafen von Oran entdeckt wurden. Bürger und unabhängigen Medien sind überzeugt, dass damit nur die Spitze des Eisbergs getroffen ist. Wie groß das Interesse des Privatsektors an der Fortführung illegaler Praxen ist, zeigt sich allein daran, dass es bislang unmöglich war, das Bankensystem vom Bargeldverkehr auf die Verwendung von Zahlkarten umzustellen. Und wenn die Unternehmerverbände seit Monaten immer wieder das 5. Mandat von Bouteflika ausdrücklich befürworteten, sieht ein Dossier von El Watan vom 17. Dezember 2018 darin nur den Beweis, dass man auf die Fortsetzung einer Politik hofft, die die Schattenwirtschaft weiterhin deckt.
Die im Parlament stärkste Partei, die die größte politische Verantwortung für diese Zustände trägt, ist die FLN, die einst das Land nicht nur in die Unabhängigkeit führte, sondern auch eine gerechte Gesellschaft versprach. Sie hat sich frühzeitig für Bouteflikas fünftes Mandat ausgesprochen und steht – angesichts der Proteste, vor einem ähnlichen Legitimationsdesaster wie sie es nach dem Jugendaufstand von 1988 erlebte, als das Einparteiensystem zusammenbrach. Dass sie zwanzig Jahre später wieder zur offiziell dominanten Kraft wurde, ist für viele Algerier das Zeichen für die kaum verdeckte Herrschaftskontinuität alter Seilschaften. Am 17. März haben sich 72 lokale Sekretäre von der Parteilinie losgesagt und unterstützen die Protestbewegung – was diese jedoch als erneuten Versuch ansieht, die FLN mit möglichst geringem Schaden durch die Krise zu bringen.
Dass sie keinen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaft aufstellen konnten, war eine unübersehbare Schwäche der Oppositionsparteien. Der Front de Forces Socialistes ist die einzige bedeutende Partei, die das Wort ´Sozialismus` noch im Namen trägt, aber schon seit ihrer Legalisierung 1989 ihre Programmatik auf die Demokratisierung des politischen Systems und der ökonomischen Macht orientiert hat. Damit entspricht sie durchaus der Mentalität der Mehrheiten, die danach streben, ein eigenes kleines Unternehmen aufzuziehen. Dass es der in der Kabylei verwurzeltem FFS nicht gelingt, entscheidenden Einfluss im ganzen Land zu bekommen, hängt damit zusammen, dass sie sich nie vom Verdacht befreien konnte, hauptsächlich separatistische Ziele zu verfolgen. Die FFS hat schon eine lange Tradition im Boykott von Präsidentschaftswahlen. Ob jedoch dieser Abstentionismus in der aktuellen Krise politisch Früchte trägt ist ebenso zweifelhaft wie die Überlegungen ihrer Abgeordneten, das Parlament zu verlassen – anstatt es als Tribüne zu nutzen.
Auch Louisa Hanoune, seit 1990 im Parlament als eloquente Vorsitzende der Parti des Travailleurs, die der 4. Internationale angehört, gilt vielen ebenfalls als Teil des Establishments und wurde ausgebuht, als sie an den Protestmärschen teilnehmen wollte. Dennoch weist ihr Vorschlag, den auch zahlreichen Vereine der Zivilgesellschaft teilen, einen möglichen Weg aus der Krise. Anstatt der von Präsident und Regierung zur Vorbereitung einer neuen Verfassung geplanten Nationalen Konferenz – der unterstellt wird, dass die Delegierten mit den bestehenden Machtstrukturen verwoben sind – sollten sich in den Kommunen Volkskomitees gründen, die ihrerseits die Verfassungsdiskussion führen und diese durch gewählte Kandidaten auf die Ebene der Wilayas (Landesbezirke) und von dort in das Parlament einbringen.
Das wäre ein Rätesystem. Aber könnte es sich unter den aktuellen globalpolitischen Bedingungen halten?
Video vom 29. März: Die Demonstranten führen häufig die Nationalflagge mit sich – zum Zeichen, dass sie jedwede Einmischung von außen ablehnen. Und sie rufen auf, friedlich zu demonstrieren.
https://www.youtube.com/watch?v=f-7-1DFcRNU
Inzwischen hat auch die Armee den Präsidenten zum sofortigen Rücktritt aufgefordert.
Hier eine Fotostrecke über die Demonstrationen der letzten Wochen:
https://www.youtube.com/watch?v=ikb4DATaYho
* Der [hier leicht aktualisierte] Kommentar erschien unter dem Titel: Die Machtfrage stellen in: Der Freitag no. 11 v. 14. 3. 2019, S. 2.
** Der Artikel erschien unter dem Titel Haut ab! in Der Freitag no 13 v. 28. 3. 2019, S. 9.