China in Europa - ein anderer Kapitalismus?*

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Im Mittelpunkt stehen sowohl die Handelsbeziehungen als auch chinesische Investitionen sowie deren Rückwirkungen auf die europäische Politik. Und es stellt sich die Frage, ob sich dabei ein anderer, eben ein chinesischer Kapitalismus zeigt. Am 6. Mai 1975 wurden diplomatische Beziehungen zwischen der EU und China aufgenommen. Das gemeinsame Ziel war die Zusammenarbeit auf den Gebieten Frieden, Wohlstand, nachhaltige Entwicklung und Austausch der Völker. 1985 wurde ein Abkommen über die handelspolitische und wirtschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Seither treffen sich die Partner regelmäßig entweder in Peking oder in Brüssel. Das 21. Gipfeltreffen fand am 9. April 2019 in der belgischen Hauptstadt statt. Anwesend waren unter anderem Chinas Premierminister Li Keqiang, der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk. Den Wünschen der EU entsprechend sagte China die Öffnung seiner Märkte und fairen Wettbewerb mit europäischen Unternehmen sowie die Unterzeichnung eines Investitionsschutzabkommens bis Ende 2020 zu1.

 

China – als Handelspartner für Europa bald wichtiger als die USA?

2017 waren die USA die größten Abnehmer von aus der EU ausgeführten Waren: 20 Prozent aller aus der EU exportierten Güter im Gesamtwert von 376 Milliarden Euro gingen in die Vereinigten Staaten. In der Gegenrichtung wurden nach Angaben von Eurostat US-Waren im Wert von 256 Milliarden Euro in die EU geliefert. Die EU-Exporte in die USA hatten damit fast den doppelten Umfang von jenen nach China, dem zweitgrößten Handelspartner der Europäischen Union2. Im März 2019 betrug der Handelsbilanzüberschuss der EU mit den USA rund 12,4 Milliarden Euro. Die Länder der Europäischen Union importierten dementsprechend im März 2019 deutlich weniger Waren aus den USA, als sie im gleichen Zeitraum in die USA exportierten3.

China ist der zweitgrößte Handelspartner der EU. Und die EU ist Chinas größter Handelspartner. Der Wert der ausgetauschten Handelsgüter beträgt mehr als 1,5 Milliarden Euro pro Tag4. Im Zeitraum von 2007 bis 2017 waren die Importe der 28 EU-Länder aus China von circa 240 Milliarden auf 375 Milliarden Euro gestiegen, die Exporte nach China stiegen von circa 80 Milliarden auf 198 Milliarden Euro5. 2017 kam mehr als ein Fünftel (20,2 Prozent) aller Einfuhren in die EU aus China. Der Anteil der USA an den EU-Importen lag mit 13,8 Prozent um ein Drittel niedriger als der Chinas6. Nicht nur für die EU, sondern auch für Deutschland sind die USA jedoch weiterhin der wichtigste Absatzmarkt, das Exportvolumen wächst sogar. 2018 „gingen laut Statistischem Bundesamt Waren im Gesamtwert von 113,5 Milliarden Euro in die Vereinigten Staaten. Das waren 1,5 Prozent mehr als im Jahr davor“7.

Deutschlands wichtigster Handelspartner ist aber China, wenn Ein- und Ausfuhren zusammengerechnet werden. Das Handelsvolumen wurde von 186,6 Milliarden Euro im Jahr 2017 auf 199,3 Milliarden Euro im Jahr 2018 gesteigert. Die deutschen Exporte erhöhten sich um 8,1 Prozent auf 93 Milliarden Euro8. Wie eine Umfrage gezeigt hat, bevorzugen die Deutschen inzwischen China als Handelspartner, nachdem sie „zwei Jahre nach dem Amtsantritt von Präsident Trump (...) einen Großteil ihres Vertrauens in die Vereinigten Staaten verloren“ haben. „Knapp die Hälfte ist sogar der Meinung, dass die Volksrepublik China für Deutschland ein verlässlicherer Partner sei als die Amerikaner (...) Von 5.000 befragten Personen bewerteten 85 Prozent das Verhältnis zu den USA als negativ oder sehr negativ“9. Das scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn „China nimmt Deutschland ernster als die EU“10.

 

Die neue Seidenstraße: Konkurrenz für die Europäische Union?

Mit dem im September 2013 von Chinas Präsidenten Xi Jinping gestarteten Projekt „Neue Seidenstraße“ beabsichtigt das Land, die Handelswege von Asien nach Europa und Afrika auszubauen. Für den dafür notwendigen Bau von Straßen, Bahngleisen, Pipelines, Kraftwerken, Telekommunikationsnetzen, Häfen und Flughäfen sind Investitionen in Höhe von mindestens 900 Milliarden Dollar vorgesehen11. Bereits 2012 war mit dem Ziel, Chinas Beziehungen zu mittel- und osteuropäischen Staaten auszubauen, in Budapest die „16+1-Kooperationsplattform“ ins Leben gerufen worden. Zu dieser Gruppe gehören die Visegrád-Länder Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn, die drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen sowie Bulgarien und Rumänien. Aus Ex-Jugoslawien sind die EU-Staaten Kroatien und Slowenien dabei, dazu kommen Bosnien-Herzegovina, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien. Auch Albanien gehört dazu.

Seit 2012 treffen sich die Regierungschefs der 16 Länder jährlich an wechselnden Orten mit der chinesischen Regierungsspitze. Peking bietet den Ländern Hilfe beim Ausbau ihrer Infrastruktur an. Dies ist Teil der Strategie der „Neuen Seidenstraße“, über die die asiatische Wirtschaftsmacht ihren Warenaustausch mit Europa ausweiten will. Finanziert meist mit Krediten chinesischer Staatsbanken entstehen auf diese Weise Autobahnen, Brücken, Schienennetze und Hafenanlagen in der Region. Darüber hinaus investiert China auch in Kraftwerke und Stahlfabriken12.

Die Plattform für die Zusammenarbeit Chinas mit Ländern aus Mittel- und Südosteuropa sei eine „wichtige Ergänzung“ der Kooperation zwischen China und der EU, betonte der chinesische Premier Li Keqiang in der kroatischen Adriastadt Dubrovnik zum Abschluss des 16+1-Gipfels am 12. April 2019. Mit dem Beitritt Griechenlands gehören der jetzt auf 17+1 erweiterten Gruppe nunmehr 12 EU-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Kroatien, Rumänien, Bulgarien) und die fünf EU-Aspiranten Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Albanien und Nordmazedonien an13.

Bulgarien, Kroatien, Polen, Serbien, die Slowakei, Tschechien und Ungarn unterstützen zugleich auch das Seidenstraßen-Projekt. Und am 23. März 2019 hat auch Italien – Gründungsmitglied der Europäischen Union und der NATO sowie Mitglied der G7 – während des Besuchs des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jingping in der italienischen Hauptstadt das Memorandum of Understanding (MoU) zur Beteiligung am Seidenstraßenprojekt14 unterzeichnet. Zudem wurde ein Abkommen über chinesische Finanzierungen zur Entwicklung der Häfen von Trieste und Genua geschlossen15.

Die Reaktionen aus den USA und der EU darauf waren überaus kritisch. So warnte der „nationale Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten (...), China verfolge einen ‘räuberischen Ansatz‘, der den italienischen Bürgern keine Vorteile bringe. (...) Große Bedenken“ gab es auch in Berlin und Brüssel, „auch wenn sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit offener Kritik an Italien zurückhielt. Sie bemerkte beim Gipfel in Brüssel allerdings, dass ‚es noch besser ist, wenn man einheitlich agiert‘“16.

Kritik kam auch vom Mercator Institute for China Studies: „‚Es ist naiv zu denken, dass man im Gegenzug für Wohlgefallen für die chinesische Regierung große wirtschaftliche Unterstützung bekommt. (…) China sitzt am längeren Hebel‘ und verschaffe sich ‚Legitimität‘ für ein höchstumstrittenes Projekt. Italien breche zudem mit seinen historischen EU-Partnern wie Frankreich und Deutschland, die dem ‚Seidenstraßen‘-Deal skeptisch gegenüberstehen“17.

Ganz anders sieht man die Dinge in Rom: „Italien geht ein heikles Bündnis mit Peking ein. (...) Doch die europaskeptische Regierung in Rom will mit einem brisanten Polit-Deal mit Peking nun wirtschaftlich Anschluss an Länder wie Deutschland finden, die mehr Geschäfte mit China machen. Und das Land braucht dringend Geld. (...) Es geht um Investitionen für die Häfen in Triest und Genua, die im Vergleich zu Hamburg oder Rotterdam alt aussehen.“ Für Italiens Vize-Regierungschef Luigi Di Maio von der Fünf-Sterne-Bewegung ist es denn auch „ein Tag, an dem ‚Made in Italy‘ gewinnt, an dem Italien gewinnt, an dem die italienischen Unternehmen gewinnen. (…) Rom kommt das Engagement gerade recht. Das Land ist in die Rezession gerutscht, die Staatsverschuldung ist exorbitant hoch. Vielerorts ist die Infrastruktur marode, wie der Brückeneinsturz von Genua gezeigt hat“18.

 

Chinas Investitionen in Europa – droht eine Übernahme der europäischen Industrie?

2016 hatten die von lediglich 4,5 Milliarden Dollar im Jahr 2006 auf 85,8 Milliarden Dollar gestiegenen Investitionen Chinas in Europa einen Höhepunkt erreicht. Die Mittel waren in Beteiligungen an oder Übernahmen von 176 europäischen Firmen geflossen. Ein Beispiel ist der Erwerb von 95 Prozent des Augsburger Roboterherstellers Kuka durch den chinesischen Midea-Konzern, ein Hersteller von Haushaltsgeräten aus dem südchinesischen Shenzhen, für rund 4,5 Milliarden Euro. Damals gab es Warnungen vor einem Ausverkauf des Hochtechnologiestandorts Deutschland. Für Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier war es ein „Albtraum, dass der Augsburger Roboterhersteller Kuka 2016 von Chinesen gekauft wurde“ – das allerdings erst, nachdem weder der damals mit einem Viertel an Kuka beteiligte Maschinenbauer Voith sein Engagement ausbauen, noch Siemens den Betrieb übernehmen wollte. Auch der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel wollte den Kauf verhindern. Der Ökonom Stefan Kooths vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) hingegen stellte fest: „Die Chinesen haben damals einen Höchstpreis für Kuka gezahlt, niemand sonst in der Welt war bereit, so viel dafür auf den Tisch zu legen“19.

Ein weiteres Beispiel ist der bereits im Januar 2012 erfolgte Erwerb des schwäbischen Unternehmens Putzmeister für rund 360 Millionen Euro durch den Betonpumpen-Weltmarktführer Sany Heavy Industry – die bis dahin größte chinesische Investition in Deutschland. Sany war an der Marke Putzmeister und an ihrer Technik interessiert, Putzmeister hatte den Zugang zum chinesischen Markt im Blick. Während für Sany die Vorteile der Übernahme noch nicht überzeugend sind, hat Putzmeister bisher davon profitiert20.

2018 sind die chinesischen Investitionen in der Europäischen Union allerdings eingebrochen. Mit 17,3 Milliarden Euro fielen sie im Vergleich zu 2017 um rund 40 Prozent und lagen damit auf dem niedrigsten Wert seit 2014. Deutschland verzeichnete jedoch gegen den Trend ein Plus bei Direktinvestitionen von knapp 400 Millionen auf 2,1 Milliarden Euro. Dazu trugen der Erwerb des Autozulieferers Grammer durch die Firma Ningbo Jifeng sowie der Verkauf der hessischen Pharmafirma Biotest an den Konkurrenten Tiancheng bei21. Angesichts der insgesamt wenigen und in ihrer Größenordnung nicht sehr bedeutenden Übernahmen kann von einem besorgniserregenden Ausverkauf europäischer beziehungsweise deutscher Industrien an China nicht die Rede sein, besitzen doch US-Firmen bereits ein Drittel der deutschen Großkonzerne22.

 

Was ist anders am chinesischen Kapitalismus?

Im Mai 2015 hat China eine nationale 10-Jahres-Richtlinie mit dem Titel „Made in China 2025“ zur Etablierung einer international wettbewerbsfähigen Fertigungsindustrie beschlossen, dem „einzigen Weg zur Erhöhung der umfassenden Landesstärke, zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit und letztlich zum Aufstieg unseres Landes zur Weltmacht“23. Für die Umsetzung dieser Strategie ist folgender Ablauf vorgesehen:

 

  • Bis 2020: Vollzug des Industrialisierungsprozesses, Stärkung des Status Chinas
    als großer Industriestandort und massiver Ausbau der IT-gestützten
    Entwicklung der Fertigungsindustrie

  • Bis 2025: Massive Zunahme der Qualifikation, Innovation und Produktivität

  • Bis 2035: Hebung der gesamten Fertigungsindustrie auf ein mittleres Niveau,
    Innovationskompetenz stärken, Wettbewerbsfähigkeit deutlich erhöhen

  • Bis 2049 – dem 100sten Geburtstag des Landes:
    Status als großen Industriestandort festigen, Entwicklung der Kompetenzen zu den besten aller führenden Industrienationen

 

Fazit

China bezeichnet sich als bürgerliche Gesellschaft mit einer Marktwirtschaft unter Führung der Kommunistischen Partei, in der zentrale industriepolitische Entscheidungen gesellschaftlich gesteuert werden. Eine Entwicklung zu einem imperialistischen Staat ist auf dieser Grundlage nicht vorstellbar. Im Unterschied sowohl zu den USA als auch zu Staaten wie Frankreich und Großbritannien ist Chinas Außenpolitik nicht militärisch untersetzt. China ist daher in besonderem Maße auf Ausgleich und beidseitige Vorteile im Handelsaustausch angewiesen.

Angesichts des angespannten Verhältnisses zwischen den USA und der EU stellt China einen ausgleichenden Faktor dar. Zur Durchsetzung seiner Interessen setzt China auf Verhandlungen statt auf Drohungen, Strafzölle und Sanktionen. Im eigenen Interesse sollten daher die EU-Staaten eine engere Zusammenarbeit mit China anstreben. Mit der Seidenstraßen-Initiative bietet China den EU-Staaten eine Beteiligung an einer langfristigen Entwicklungsstrategie des eurasischen Kontinents an, die auch in deren Interesse liegt. Griechenland und Italien profitieren schon jetzt davon und können so ihre Position in der EU stärken. Die vor allem osteuropäische Staaten umfassende Initiative 17+1 bietet ihren Mitgliedsländern Alternativen zu den Vorgaben der EU. Dem kerneuropäischen Hegemonialdruck auf diesen Raum kann dadurch erfolgreich Widerstand entgegengesetzt werden.

Die Übernahme europäischer durch chinesische Unternehmen zielt in erster Linie auf die Realisierung der Strategie „Made in China 2025“. Im Mittelpunkt steht dabei die Nutzung der fortschrittlichen Technologien dieser Unternehmen. Im Austausch dafür erhalten die erworbenen Unternehmen oft langfristige Entwicklungsmöglichkeiten sowie einen gesicherten Zugang zum chinesischen Markt. Dieses Vorgehen steht damit im Kontrast zu dem auf kurzfristige Renditeerwartungen gerichteten Vorgehen des westlichen Finanzkapitalismus.


* Der Artikel erschien am 17. 7. 2019 bei Rubikon unter dem Titel: Der bessere Kapitalismus?

China in Europa - ein anderer Kapitalismus?