Der Befreiung ausgesetzt

Daniela Dahn

Einst bildeten die UdSSR und die Westalliierten eine Art antifaschistische Wertegemeinschaft – im Krieg, in der Moskauer Deklaration von 1943, wie auch danach im Londoner Statut, der Rechtsgrundlage für die Nürnberger Prozesse. Nachdem die Deutschen es selbst nicht geschafft haben, sind sie vor 75 Jahren von außen vom politischen System des Faschismus befreit worden. Die Hauptlast trug die Rote Armee, was in bundesdeutschen Medien und Schulbüchern lange unerwähnt blieb. Allein in der Schlacht um Berlin haben 73000 Rotarmisten ihr Leben verloren. Junge Kerle und hohe Generäle, auch Frauen. Doch von Ideologie zu befreien ist noch schwerer. Auch wenn der deutsche Angriff auf die Sowjetvölker mehr als doppelt so viel Menschenleben ausgelöscht hat, wie im ganzen übrigen Europa – der völkische Geist und antisemitische und antislawische Einstellungen sind bis heute teilweise tief verwurzelt. Die Deutschen sind vom Faschismus nicht befreit worden, sagten mir nach der Wende jüdische Freunde, er ist ihnen nur weggenommen worden.

Das Wegnehmen lief im russisch besetzten Osten Deutschlands drastischer. Hier hatte in hoher Regierungsverantwortung kein Nazi eine Chance, es wurden doppelt so viele Kriegsverbrecher verurteilt wie im Westen, obwohl sich dahin die meisten geflüchtet hatten. Der besonders NS-verbundene ostelbische Landadel und die zu Diensten gewesenen Banken und Großindustrien wurden enteignet. Die Geschichtsbücher waren vom ersten Tag an antifaschistisch.  Offensichtlich belastete Lehrer wurden gegen eine ganze Generation von „Neulehrern“ ausgetauscht. Die übrigen Mitläufer oder kleinen, in Ausnahmen auch mittleren NS-Funktionäre hatten unter dem Schutzschirm des Antifaschismus unausgesprochen, aber überprüfbar zu versprechen, nie wieder auf die faschistischen Verirrungen zurück zu kommen. Damit konnten sie leben, viele hatten Schlimmeres erwartet. Andere Verordnungen sind weniger widerspruchslos hingenommen worden.

 

Die Volkskammer beschloss schon 1950, den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ in der DDR zum gesetzlichen Feiertag zu erklären. In der BRD brauchte es bekanntlich weitere 35 Jahre, bis ein Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Bundestagsrede diese Lesart anempfehlen konnte. Gar einen Feiertag vorzuschlagen, lag jenseits allen Denk- und Wünschbaren. Selbst wenn die 39. UN-Vollversammlung 1985 gleichzeitig, zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, auf Vorschlag der DDR den 8. und 9. Mai zu Ehrentagen des Sieges über Nazismus und Faschismus im Zweiten Weltkrieg und des Kampfes gegen neofaschistische Erscheinungen erklärt hat. Für einen solchen Ehrentag hätte die staatliche Traditionspflege erstmalig in der Bundesrepublik mit allen NS-Hinterlassenschaften brechen müssen – was sie bis heute nicht getan hat. Dafür sorgte schon der „totalitäre Antikommunismus“, den Günter Gaus seinen Landsleuten oft bescheinigte. Der Antibolschewismus war mit Beginn des kalten Krieges Staatsdoktrin, gerade auch durch den McCharthyismus der westlichen Schutzmacht USA. In Westdeutschland war er das, was man nicht nur ungestraft, sondern mit breitem gesellschaftlichen Konsens aus dem Faschismus übernehmen durfte.  

 

Im Lichte der Bedrohungsszenarien des Kalten Krieges wurde 1949 die Nato gegründet, mit dem einzigen Ziel, den Kommunismus zu bekämpfen. Bundesdeutsche Schulbücher der 50er und 60er Jahre verbreiteten Furcht und Schrecken vor dem aggressiven russischen Bären, aber nahmen sich auch die anglo-amerikanischen Sieger vor. So wird im „Geschichtlichen Unterrichtswerk“ für die Oberstufe (Blutenburg-Verlag München, 1954) den Westmächten vorgeworfen, dass sie, statt den Faschismus zu bekämpfen, nicht die Sowjetunion als „immer gefährlicher werdenden Störungsfaktor, der national-slawistische und international-kommunistische Ziele verfocht“, bekämpften. Stattdessen hätten sich Churchill und Roosevelt 1943 in Casablanca auf die Forderung der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands geeinigt. „Noch entmutigender für jeden deutschen Vaterlandsfreund“ war in dem Geschichtsbuch der Morgenthau-Plan, der die „völlige Vernichtung der deutschen Industrie“ nach Kriegsende vorsah. „Damit wurde aus dem Hitler-Krieg wie von selbst ein deutscher nationaler Verteidigungskampf“. So also schrieb man in deutschen Schulbüchern einen Raub- und Vernichtungskrieg wie von selbst in Verteidigung um.

 

Die Von-Selbst-Geschichtsschreibung wurde etwa auch im Grundriss der Geschichte für die Höheren Schulen (Ernst Klett Verlag Stuttgart, 1964) fortgeschrieben. Dort wird der Sowjetunion, als habe es den 2. Weltkrieg und all die Menschrechtsverbrechen von Wehrmacht und SS nie gegeben, ein „argwöhnisches Sicherheitsbedürfnis“ angelastet. Das habe dazu geführt, dass die SU – „trotz radikaler Abrüstung der Westmächte (so, so D.D.) – bereits 1945 ein riesiges Rüstungsprogramm in Angriff nahm.“ (Wenn das sofort nach Kriegsende möglich war, waren die deutschen Verheerungen vor allem in Belaruss, Russland und der Ukraine wohl nicht so schlimm.) In den ersten Nachkriegsjahren zeichnete sich dann laut Lehrbuch „der globale Sieg der Weltrevolution drohend ab“.

 

Und diese Revolution würde dem Faschismus in nichts nachstehen. In ihrem empfehlenswerten, unlängst erschienenen Buch „Von den Deutschen Lernen“, schreibt Susan Neiman: „Je übler die Bolschewiki heute erscheinen, desto besser sehen die Nazis im Rückblick aus. Wenn Faschismus und Kommunismus dasselbe sind, haben Vater und Großvater nicht doch das Böse bekämpft?“.

 

Kein ewiger Friede

 

Nach 1989 war das einstige Feindbild plötzlich abhandengekommen. Doch die Chance für ein gemeinsames Sicherheitssystem von Lissabon bis Wladiwostock wurde vertan. Der sang- und klanglose Abgang des Warschauer Pakts, bis dahin Hauptfeind der Nato, hat nicht den ewigen Frieden gebracht. Seit sich keine feindlichen Blöcke mehr gegenüberstehen, sind die Rüstungsausgaben weltweit um 80 Prozent gestiegen, die Zahl der bewaffneten Konflikte nahm rapide zu. Krieg ist als Instrument der Politik zurückgekehrt. Doch keine einzige „humanitäre Intervention“ hat Humanität gebracht. Dafür beträgt der Gewinn des internationalen Waffenhandels so viel wie das Einkommen der Hälfte der Weltbevölkerung. Zumindest diese Hälfte ist sicher dagegen – aber welchen Einfluss hat sie?

 

Am 8. Mai vor fünf Jahren erlebten wir, wie sich die Bundesregierung wegen Putins trickreicher Zurücknahme der Krim, die die Rote Armee 1944 von der Wehrmacht zurückerobert und Chruschtschow der Ukraine später schlicht geschenkt hatte, nicht nur um den symbolischen Dank drückte, sondern ihre Sanktionen und den Boykott auch noch mit pädagogischem Eifer präsentierte: Benehmt euch gefälligst so, dass ihr unsere Wertschätzung verdient. Dass „den Deutschen die Erfahrung der schuldbeladenen Vergangenheit nicht verloren gehen dürfe“, wie Bundespräsident Steinmeier forderte, musste bezweifelt werden.

 

Zum 75. Jahrestag der Befreiung werden die Gedenkfeiern nun ins Virtuelle verlegt. Aus Sicherheitsgründen. Kurz zuvor hatte noch das größte Nato-Manöver der letzten Jahrzehnte begonnen, das massenhaft Waffen und Soldaten einflog, gegen jegliche Bedrohung. Defender bedeutete, mehrere Tausend Kilometer an die russische Grenze zu rollen, um dort abzuschrecken. Ein Marsch von 28 Staaten gen Osten – was für eine überflüssige Drohgebärde, welch verheerender Beitrag zur Klimakatastrophe und Verschwendung von Ressourcen. Über eine Billion Dollar gibt die Nato jährlich für Rüstung und solchen Unfug aus – „hirntot“ hieß die Diagnose von Präsident Macron, „eine verbliebene Institution des Kalten Krieges, im Denken und im Herzen“, die von Russlands Außenminister Lawrow.

 

Doch plötzlich tauchte ein unsichtbarer Feind auf, der unter jedem Radar hindurchflog, sich von nichts abschrecken lies und totbringend das öffentliche Leben auf dem Globus lahmlegte. Schwerbewaffneten Soldaten traten kleinlaut die Heimreise an. Kriegsschiffe drehten unverrichteter Dinge auf dem Atlantik um. Blamabler ließ sich ein falsches Konzept von Sicherheit nicht vorführen. Das Leben auf dem Globus ist wahrlich von anderen Gefahren bedroht als dem russischen Bären. Von Pandemien, Klimaverheerung, Armut, Bürgerkriegen, Fluchtbewegungen, auch Flucht in Faschismus.

 

Wir sollten nicht darauf hoffen, wieder mit dem Preis von Abermillionen Toten befreit zu werden. Sicherheit, also Leben in Frieden, betrifft alle so existentiell, dass man sie nicht den Politikern oder gar Militärs überlassen kann. „Die größte Bedrohung für die Sicherheit ist das politische Establishment“, hatte UN-Generalsekretär Guterres auf der Münchner Sicherheitskonferenz gewarnt. Es geht nicht darum, Krieg zu gewinnen. Der Friede muss gewonnen werden.

 

* Dieser Artikel erschien am 7. Mai 2020 in Der Freitag.

Daniela Dahn