Afghanistan - wie sind wir da hineingeschlittert?

Afghanistan - wie sind wir da hineingeschlittert?
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Präsident Joe Biden brachte in Erinnerung, dass die Operation Enduring Freedom (OEF) der Öffentlichkeit zunächst ein als Selbstverteidigung getarnter Rachefeldzug der USA gegen die Urheber der Anschläge vom 11. September dargestellt wurde: „Wir sind wegen eines entsetzlichen Angriffs vor 20 Jahren in Afghanistan einmarschiert. Das kann nicht erklären, warum wir im Jahr 2021 dort bleiben sollten.“

Gut so: Jede Rache muss einmal ein Ende finden.

Die aktuelle Bundesregierung, die wie ihre Vorgänger in den letzten zwanzig Jahren immer wieder die Zustimmung des entscheidungsberechtigte Bundestags zur Verlängerung des deutschen Militäreinsatzes erlangte, hat es sichtlich schwerer, den Abzug plausibel zu machen. Als Begründung kann heute eigentlich nur noch der am 4. Oktober 2001 von der NATO erklärte „Bündnisfall“ herhalten. Um so mehr lohnt sich ein – freilich selektiver – Rückblick auf die mediale Vermittlung der angeblichen Notwendigkeit deutscher Teilnahme am Afghanistanfeldzug. Wir verfolgen hier Argumentationen in Bildzeitung und TAZ im ersten halben Jahr nach dem 11. September.

BILD versteht es, allein mit knalligen Titeln bellizistische Neigungen ihrer Leserschaft zu orientieren. Entgegen aller offiziellen Sprachregelungen sprach sie nie von einem humanitären Einsatz oder gar der Demokratisierung Afghanistans, sondern stellte von vornherein klar, dass Rache geübt werden müsse: mit Krieg. Am 12. September kam zwar noch einmal ein realpolitisch warnender Guru zu Wort. Auf die Frage Gibt es jetzt Krieg, Herr Scholl-Latour? sprach der Islam-Spezialist zunächst von unglaublicher Schlamperei der Geheimdienste. Krieg hielt er für wahrscheinlich, aber nicht für besonders geraten. Er setzte auch einen Kontrast zu den im Fernsehen gezeigten, später als Inszenierung israelischer Geheimdienste entlarvten Bildern palästinensischer Jugendlicher, die bei der Nachricht der Attentate Freudentänze aufführten. Scholl-Latour betonte, dass sich „die palästinensischen Kampforganisationen sofort distanziert haben“.

Schon am 13. September wird zum Angriff geblasen: Jetzt entbrennt der Kampf gegen das Böse. Die Bürger fordern Vergeltung! Zweifelsfrei scheint Osama Bin Laden als Drahtzieher festzustehen, obwohl Seite 4 nur vermeldet, dass er den Attentätern gratuliert habe. Auf Seite 9 findet man etwas Nachdenklichkeit. In Hinblick auf durch Taliban entführte Entwicklungshelfer wird gefragt: Was wird aus den vier deutschen Geiseln? , wenn es tatsächlich zum Angriff käme: menschliche Schutzschilde? Und über einem Foto des Frankfurter Messeturms, dem damals höchsten Wolkenkratzer Deutschlands, bei dem eine Bombendrohung eingelaufen war, steht: Kommt jetzt der Terror auch zu uns? 

Am 17. September wird getitelt: Krieg gegen die Taliban: Amerikas Elite-Vergeltungsschlag, der allerdings erst am 7. Oktober real wurde.

Weil eine Verschwörung zwischen Bin Laden und Saddam Hussein vermutet wird, kolportiert BILD am 18. September eine Warnung des BND: Saddam entwickle Langstreckenraketen, die bis zu 3000 Km entfernte Ziele erreichen könnten, also auch Deutschland. Selbst wenn solche Horrorszenarien ausblieben, müssten sich die Deutschen vielleicht auf Urlaub bald ganz ohne Flugzeuge einstellen.

Nach Hinweisen auf Reden von Kanzler Schröder und Außenminister Fischer, beantwortet BILD am 19. September konkreter als die Politiker die Frage: Wie könnte Deutschland [den USA] helfen? Aufgezählt werden: Fallschirmjäger, Gebirgsjäger, KSK und Kampfflugzeuge. Etwas bang wird hinzugefügt: „ Müssen deutsche Soldaten in den Krieg?“ Und auf Seite 5 werden unter dem Titel Besiegen sie das Böse ? US-Spezialeinheiten vorgestellt, die u. a. für Sabotageakte und Entführungen ausgebildet sind. Unreflektiert bleibt, dass solche Kampfformen, von anderen Völkern angewandt, als unfair gelten würden.

Am 20. September wird berichtet, dass der Bundestag „mit überwältigender Mehrheit den Weg deutscher Militärhilfe für einen Vergeltungsschlag gegen die Terroristen“ frei gemacht habe, obwohl der Bündnisfall noch nicht ausgerufen war. Kein Anlass für Panik, auf der Frontseite wird getitelt: Der Kanzler beruhigt die Deutschen. Darunter ein fettgedrucktes Zitat: „Wir befinden uns nicht im Krieg gegen einen Staat.“ Doch schon auf Seite 2 wird neben dem martialischen Foto eines KSK–Soldaten kühn spekuliert: Greifen sich deutsche Elite-Soldaten Osama Bin Laden?

Über die Jagd nach dem Al-Kaida-Chef gibt es in BILD eine tägliche Kolumne. Am 21. September wird gefragt: Bringt Osama Bin Laden die Atombombe in seine Gewalt? Aber auch: Hat Bush Fischer in die Angriffspläne eingeweiht?

Obwohl am Vortage noch Prominente Ratschläge gegeben hatten, wie am besten mit aufkommender Kriegsangst umzugehen sei, beobachtet BILD am 22. September: Abschiedsbilder tapferer GIs überzeugen immer mehr junge Berliner. Daneben steht das Foto eines jungen Mannes vor seinem Kreiswehramt, der sich zur Bundeswehr meldet: „Ich will mit den Amis gegen den Terror kämpfen.“

Am 10. Oktober – drei Tage, nachdem amerikanische und britische Flugzeuge begonnen haben, Kabul zu bombardieren, wird ein Angebot Schröders an Washington getitelt: Deutsche Piloten nach Afghanistan.

Nachdem der Bundestag am 16. November die Teilnahme der Bundeswehr an militärischen Operationen in Afghanistan beschlossen hat, sind KSK-Truppen bereits ab Mitte Dezember dort im Einsatz, was allerdings zwei Monate lang Geheimsache bleibt. Im Februar 2002 aber darf BILD die KSK glorifizieren. Am 26. wird die Frage beantwortet: Warum sind die deutschen KSK-Soldaten so gefürchtet? Ihr Leitspruch sei: „Keiner sieht uns kommen, keiner weiß, dass wir da sind […] Blitzschnell schlagen sie im Vierer-Trupp mit Heckler & Koch-Maschinenpistolen zu – oder kommen lautlos mit Kampfmessern.“

Am nächsten Tag schreibt Chefkolumnist Franz Josef Wagner einen Brief an die Truppe: „Lieber kämpfender deutscher Soldat! […] Die pazifistischen Grünen und die verlogenen Friedens-PDSler schrein jetzt auf. Ja, ich wünsche euch, dass Ihr den Gegner tötet, bevor er euch tötet. Über das US-Verteidigungsministerium, nicht über das deutsche, erfuhren wir, dass ihr, Soldaten der deutschen Elite-Einheit KSK, in den Bergen Afghanistans einen Mann-gegen-Mann Krieg führt. Wenn es Nacht ist, ist euer Gesicht geschwärzt. Tagsüber ist euer Kampfanzug weiß wie Schnee. Ich stammle euch aus der Heimat: Habt Glück, passt auf, schießt schneller!“  

Anders als BILD war die Situation der Tageszeitung. Zwar hatte sie ihre zu einem Großteil noch pazifistisch eingestellten Leser bereits zweieinhalb Jahre durch den von der rot-grünen Bundesregierung mitverantworteten Jugoslawienkrieg laviert, stand nun aber schon wieder vor einer Herausforderung, die nur mit ausgefeilten Argumentationen zu bewältigen war. In den ersten Wochen nach dem 11. September erschienen in der TAZ viele vernünftige Positionen. Am Tag danach wurden die Anschläge nicht mit Afghanistan in Verbindung gebracht. Zwei andere Artikel unterrichten aber über die desaströse Lage des Landes, aus dem bereits vier Millionen Menschen geflohen waren. Am 13. September schreibt ein Korrespondent aus Delhi: „Die Taliban gehörten denn auch zu den Ersten, die jede Verbindung sowohl des eigenen Regimes wie auch ihres Gastes Ussama Bin Laden zurückwiesen. Sie verurteilten die Anschläge und erklärten, dass Afghanistan mit seiner zerstörten Infrastruktur ebenso wenig wie eine Einzelperson fähig wäre, eine Operation dieser Größe zu planen. Falls die USA jedoch Beweise hätten, dass Bin Laden hinter den Anschlägen steckt, könne eine Auslieferung geprüft werden.“ Und Mathias Bröckers äußerte Verschwörungstheoretische Anmerkungen zu einem Terroranschlag, mit denen er eine Mitverantwortung des Westens für den Anschlag herausstellte: „Wusste nicht schon der altchinesische Kriegstheoretiker Sun Tze, dass man einen Gegner nie so weit in die Enge treiben darf, dass ihm nur noch Selbstmordattentate bleiben?“ 

Bröckers fand auch merkwürdig, dass es überhaupt möglich war, „vier Flugzeuge gleichzeitig zu entführen? Passagiere konnten aus den Maschinen mit ihren Angehörigen telefonieren – aber das Militär, dessen globalem Schnüffelsystem kein Furz eines indischen Reisbauers entgeht, hat nichts mitbekommen?“

Am 14. und 15. stellten Andreas Zumach und Christian Rath völkerrechtliche Überlegungen zu dem sich abzeichnenden Kriegsszenario an. Dass Bin Laden der Drahtzieher der Attentate sei, müsse nachgewiesen werden. „Für die Aufarbeitung von Terroranschlägen ist die Justiz zuständig und nicht das Militär.“ Das Selbstverteidigungsrecht gelte für die UNO-Charta nur, wenn ein Terrorakt nachweislich von einem Staat ausgeht. Gegen Afghanistan könne nicht vorgegangen werden, wenn das Land Bin Laden nur logistisch unterstützt, ihn aber nicht beauftragt hätte. Vor einem militärischen Angriff müssten Sanktionen beschlossen und durchgesetzt werden.

Auch andere Artikel in dieser Ausgabe warnen vor militärischen Vergeltungsgelüsten. Dominic Johnson und Bettina Gaus beschreiben die globalisierte Struktur der Terrorgruppen, die die Auflösung von Staatsautorität in etlichen Gebieten der Erde nutzten, um ihre eigenen Machtstrukturen zu errichten und Ziele im Westen anzugreifen: „Anhänger von Ussama Bin Laden agieren wie ein multinationaler Konzern. Man kann ihre Aktivitäten mit militärischen Mitteln nicht stoppen“.

Am 19. September beklagt Klaus Theweleit, dass das medial ruhig gestellte Publikum einen erneuten Krieg tolerieren wird. „Schon in Jugoslawien hat das ja funktioniert: Die meisten haben ihn hingenommen, aber nicht gejubelt: Ja, wir wollen Krieg!“

Nachdem die TAZ am 20. September Geheimgespräche der USA mit der Bundesrepublik über den möglichen Einsatz der KSK meldete, musste sich die TAZ fortan in dem Spagat üben, pazifistische Leser zu halten und Loyalität zur rot-grünen Regierung zu demonstrieren. Die publizistische Steilvorlage lieferte am 22.September Daniel Cohn-Bendit unter dem Titel Für die solidarische Globalisierung. Die Grünen und Joschka Fischer seien „nicht zu beneiden [...] Sie, die aufrechten Pazifisten, müssen nun schon zum zweiten Mal in ihren ersten drei Regierungsjahren eine kriegerische Zeit realpolitisch meistern. Denken sie dabei an ihre Wählerinnen und Wähler, befallen grüne Mandatsträger deshalb lähmende Albträume.“ Eine „teuflische Falle“ bedrohe also die Grünen in ihrer Existenz „Unsere Gutmenschennaivität übermannt uns. Am liebsten würden wir mit dem Fallschirm ein Heer von Sozialarbeitern und Entwicklungshelfern über Afghanistan absetzen, um die Taliban zu belehren und die Terrorgroupies Bin Ladens umzuerziehen.“ 

Obwohl Amerika einerseits frech definiere, was die Welt unter Glück, Trauer und Rache zu verstehen habe, finde es andererseits die Fähigkeit, „angesichts der Bedrohung und des Horrors zusammenzustehen und aus sich heraus die Dynamik zu finden und Energien freizusetzen, um den Kampf für Freiheit und gegen Terror zu führen.“ Man dürfe sich der Erkenntnis nicht verschließen, dass „eine unsichtbare Armee, ausgebildet in Afghanistan und anderswo, bereit ist zu Aktionen, die in ihren barbarischen Dimensionen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten sind.“ Mit Miniatombomben oder Flugzeugen, die auf Städte und Atomkraftwerke gelenkt werden könnten, sei zu rechnen. Für „Millionen von beleidigten und erniedrigten Menschen in der arabischen Welt“ sei „Europa Teil der zivilisatorischen Ordnung, die sie zutiefst hassen.“

Damit unvermeidliche Kriegspille verdaulich wird, hält Cohn-Bendit ein parallel einzunehmendes Leckerli bereit: „Wer eine militärische Koalition gegen den Terror will, muss gleichzeitig eine internationale Koalition der Zivilgesellschaften, der Zivilorganisationen gegen den Totalitarismus, gegen Intoleranz, für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit schmieden.“

´Zivilgesellschaft` klingt für Grüne und TAZ-Leser sympathisch. Neu scheint allerdings, dass die Aktivierung von Zivilgesellschaft nur durch einen Krieg erreichbar sein soll. Und wer wird in der Lage sein, diese heikle Doppelaufgabe zu bewältigen? Cohn-Bendit: „Es liegt an uns, an Europa, an der Bundesregierung, diese „Katharsis“ in Gang zu bringen. „Die sich jetzt durchsetzende militärische Kooperation bietet die Chance, dass die US-Amerikaner endlich verstehen, dass die Alliierten keineswegs nur Befehlsempfänger sind.“

Interessanterweise geht es Cohn-Bendit schon nicht nur um Suche und Bestrafung der Attentäter. Er erwägt Bedingungen, unter denen auch das Taliban-Regime gestürzt werden könne. Um die von der UNO anerkannte Exilregierung Afghanistans wieder einzusetzen “müsste der Befreiungskampf der afghanischen Opposition mit Flugzeugen, Waffen und Soldaten unterstützt werden.“ Für die künftigen Aufgaben reiche eine zivilgesellschaftliche Mobilisierung nicht aus. Es käme auch darauf an, „unsere Außenpolitik radikal und selbstkritisch zu hinterfragen.“

Am 26. September versucht Cohn-Bendit einen Aspekt seines Artikels vom 22. zu präzisieren: Wird es zur Zerreißprobe zwischen Außenminister Fischer und der grünen Fraktion kommen, von der mindestens ein Drittel gegen einen deutschen Militäreinsatz in Afghanistan sei? Platzt darüber die rot-grüne Koalition? Würde Fischer dann die Grünen verlassen und in die SPD gehen? Cohn-Bendit wendet sich gegen diese Katastrophenstimmung, hofft auf Einsicht in die Notwendigkeiten der Realpolitik: „Fischer führt keinen Krieg. Er geht davon aus, dass für den Kampf gegen diesen barbarischen Terror auch eine internationale militärische Koalition geschmiedet werden muss. Nur so hat Europa Einfluss auf die USA. […] Auch ich verstehe Joschka nicht immer. Aber das muss man nicht, um einzuräumen, dass man sich mit einem Außenminister Fischer sicherer fühlt als mit einem Außenminister Rühe.“

Die Stärke der TAZ liegt darin, den Spagat der Widersprüche nicht einfach zuzukleistern. So kann sie am 27. 9. melden, dass sich weltweit Nobelpreisträger und – lang erwartet – auch Günter Grass gegen militärische Vergeltung ausgesprochen hätten. Doch die zivilgesellschaftliche Aktion bleibt wirkungslos: Ein anderer Artikel staunt darüber, dass schon 189 Staaten Afghanistan den Krieg erklärt haben, womit der Rekord gebrochen ist, den bis dato die 61 Kriegserklärungen an Deutschland gegen Ende des 2. Weltkrieges darstellten.

Nach Beginn der amerikanischen Bombardements in der Nacht vom 7. zum 8. Oktober auf Kabul, versucht die TAZ, die Ereignisse ganz im Sinn ihrer kriegsskeptischen Leserschaft zu kommentieren. Erst die Bomben, dann das Brot – ist der Kommentar von Bernd Pickert auf S. 1 betitelt. Er bezweifelt, ob Bush das Versprechen wahr machen kann, die afghanische Bevölkerung aus ihrem andauernden Elend zu befreien. Und noch etwas beunruhigt ihn: es wird „noch weniger unabhängige Berichterstattung geben“ als im Irak-Krieg 1991. „Es wird ein Krieg sein, über dessen wirklichen Verlauf die Öffentlichkeit möglicherweise nie etwas erfahren wird“

Ab jetzt fährt die TAZ mehrere Strategien: Ausführlich kommen weiterhin Kriegsgegner zu Wort, aber auch die Realpolitik erhält ihren Platz.

* Eine kürzere Form des Textes wurde unter dem Titel Der mediale Geleitschutz. Nachlese. Wie Bild und TAZ 2001 mit dem sich abzeichnenden deutschen Kriegseinsatz umgingen. In: Der Freitag no 22 v. 3. 6. 2021, S. 7.

Ein noch ausführlichere und um eine Analyse von Afghanistanartikeln aus Die Zeit von 2010 ergänzter Text ist nachzulesen unter dem Titel Trotz Meinungspluralismus – klare Linien. In: Wolfgang Gehrcke, Christel Buchinger, Jutta von Freyberg, Sabine Kebir: Afghanistan – So werden die ´neuen Kriege` gemacht, Papyrossa Köln 2011, S. 146-201.

 

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