Sabine Kebir über Ricarda Bethke:

Personen: 

Über Monate, nein Jahre, hatte die junge Frau befürchtet, dass Richard auf immer verschwinden würde – in den Kellern der Gestapo oder in die Emigration. Und 1939 wuchs die Sorge, dass er Selbstmord begehen könnte. Sie hatte ihn nicht dazu bewegen können, das acht Wochen alte Kind zusammen auszufahren. Dabei hatten sie es trotz oder gerade wegen zunehmender Aussichtslosigkeit zur Befestigung des gemeinsamen Überlebenswillens gezeugt. Nun aber konnte auch das Kind ihn nicht aus der Depression reißen. Dass es Ricarda hieß –  die weiblichen Form von Richard – spiegelte schon die Ahnung, dass es Richard mal ersetzen müsse.  

Weil Kinder täglich an die Luft sollen, lief Änne allein mit dem Kinderwagen eine ängstliche kleine Weile über den Kudamm. Als sie zurück kam, fand sie die Wohnungstür offen und sah Richards Füße über der Badewanne baumeln. 

Von dem Schock kann sie sich lange nicht erholen, kommt in die Psychiatrie. Und kaum kehrt sie in ihren Schwesternberuf zurück, ereilt sie, was die Nazis den Gefährdern der ´Volksgesundheit`  aufzwangen. Sterilisiert wurde Änne nicht nur wegen ihrer psychischen Fragilität, sondern auch wegen ihrer Verbindung zum kommunistischen Stadtrat Dr. Richard Schminke.    

Nach dem Krieg fehlte vielen Kindern der Vater. Da war Ricarda keine große Ausnahme. Aber ihr Vater war weder gefallen, noch von den Nazis umgebracht worden. Dass er sich selbst den Tod gegeben, Änne und sie, das Neugeborene, verlassen hatte, blieb eine der bohrenden Fragen. Einiges aus Richards Nachlass passte nicht recht in die bescheidene Bleibe der Großeltern im thüringischen Rudolstadt, wo Änne mit dem Kind unterkam: ein paar elegante Möbel, Silberbesteck, zwei Koffer mit fremdländischen Aufklebern. Einer voller Mitbringsel aus China, die das Mädchen bezauberten.  

Wenn in der DDR eine neue Etappe des Kinder- und Mütterschutzes erreicht wurde oder 1968 die ´Antibabypille` allgemein zugänglich und 1972 der ´Schwangerschaftsabbruch` in die Verantwortung der Frau gelegt wurde, sagte die Fürsorgerin Änne ihrer Tochter: „Dafür hat Richard immer gekämpft“. 

Posthum erfuhr der Sozialmediziner Schminke öffentliche Anerkennung. Straßen und eine medizinische Fachhochschule trugen seinen Namen. Der Brecht-Schüler Ernst Schumacher dichtete ein Rezitatorium über ihn, das 1975 im Apollosaal der Staatsoper mit Brechts Schwiegersohn Ekkehard Schall aufgeführt wurde. Das bedeutete Mutter und Tochter wenig. Im persönlichen Trauma gefangen, mochten sie nicht mit Dritten über Richard Schminke sprechen. 

Diese Scheu vor öffentlicher Einmischung in die private Wunde wurde zum Erschrecken, „als in den fröhlichen Tagen der deutschen Wiedervereinigung die Bezeichnung ´Kommunist` immer häufiger und schon wieder in die Nähe des ´Verbrecherischen` geriet“. Es dauerte nicht lange, dass der Tochter ein Zeitungsartikel Die Machenschaften des Dr. Schminke entgegenschlug, womit dessen Aktivität als gewählter Gesundheitsdezernent in Berlin-Neukölln von 1927 bis 1933 gemeint war. Dort hatte er etliche soziale Institutionen und eine kostenlose Ehe und Sexualberatung eingerichtet. Trotz Wohlbeleibtheit und bürgerlichem Habitus vertrauten Neuköllns Proletarier ihrem Stadtrat. Als Arzt versorgte er von Nazis Zusammengeschlagene. Oft musst er ihnen auch Totenscheine ausstellen. 

Nun zählten zu seinen ´Machenschaften` auch seine 1924-1927 oft vergeblichen Versuche, als Landtagsabgeordneter der KPD in Sachsen Soziales durchzusetzen wie Erhöhung des Arbeitslosengelds oder der Mittel für Schulspeisung. Auch gelang es nicht, die Wiedereinführung des Zehnstundentags abzuschmettern. 

Als unverzeihlich stellte sich plötzlich dar, dass Schminke mehrfach in der Sowjetunion war, wo er die ersten Erfolge sozialen Schutzes für Mütter und Kinder in Augenschein nahm. Und völlig unakzeptabel war, dass er 1924-1925 im Auftrag der Komintern nach China und Japan reiste, wo er allerdings nicht als Geheimagent und unter Klarnamen auftrat. Er gehörte zum Ärzteteam des todkranken Sun-Yat-Sen. 

Bereits mit dem 2001 bei S. Fischer publizierte Buch Die anders rote Fahne hatte Ricarda Bethke gezeigt, dass sie in der DDR nicht zu den zweifelsfrei gläubigen Linken gehörte. Und sie nahm jetzt nicht hin, dass der ganze linke Antifaschismus in den Orkus geschickt wurde. Zu erforschen, was Richard Schminke wirklich antrieb, wurde ihr eine Notwendigkeit. 

Außer zwei Taschen voller Briefe und Dokumente, die sie im Kleiderschrank der Mutter fand, zog sie zahlreiche Quellen aus Archiven und Bibliotheken heran. Das jetzt publizierte Buch Rotes Erbe meistert die schwierige Verwebung persönlicher Betroffenheit – der Mutter und der eigenen – mit dem welthistorischen Horizont. Dabei entsteht keine der modischen Autofiktionen. Ungeklärtes und Widersprüchliches werden nicht geglättet. Die Autorin konnte nicht wirklich nachvollziehen, wieso der Bade- und Modearzt Schminke, der nach dem 1. Weltkrieg ertragreiche  Praxen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Rapallo betrieb, Kommunist wurde. Und sie fand auch kaum Hinweise, wieso seine Begeisterung für die Sowjetunion so getrübt wurde, dass er die an ihn herangetragene Idee, dorthin zu emigrieren, strikt ablehnte. Immer wieder wagt Bethke zu schreiben: „Ich weiß es nicht.“         

Kompensiert wird der Leser mit viel Wissen, das aus dem allgemeinen historischen Bewusstsein herauskatapultiert wurde. Kaum noch ist bekannt, dass wichtige sozialmedizinische Errungenschaften in der Weimarer Republik vor allem von Linken aus KPD und SPD gefordert und teilweise auch umgesetzt wurden, bevor die Nazis sie wieder abschafften. Und ebenso wenig ist bekannt, dass die Nazis nicht nur sofort Berufsbeschränkungen für Juden dekretierten, sondern auch für Kommunisten in gehobenen Positionen. Schminke wurde 1933 aus dem Amt gejagt und verhaftet. Freigekommen, wurde ihm die Zulassung als Kassenarzt entzogen. Und er war politisch so gebrandmarkt, dass es ihm nicht mehr gelang, eine einträgliche Privatpraxis aufzubauen. Zunehmend wurde er physisch bedroht. Und 1939 wurde ihm mit dem Entzug der Approbation endgültig verboten, an der ´Volksgesundheit` mitzuarbeiten.    

Dieser vielbeschäftigte und -geplagte Mann war zudem alleinerziehender Vater eines schwierigen Jungen, der weder mit dem Fortgang der Mutter fertig wurde noch damit, dass Richard seit 1929 mit der 33 Jahre jüngeren Änne zusammenlebte. Diese sehr patriarchal anmutenden Verbindung wird auch von der Tochter immer wieder hinterfragt. Für Richards Familie war Änne zu arm und ungebildet. Er aber hatte ihre Klugheit erkannt und Gefallen an ihrem fröhlichen Wesen gefunden, das Schwung in sein schon trübselig werdendes Privatleben brachte. Energisch unterstützte er Ännes Aus- und Weiterbildung. Für Haushaltsführung brauchte sie sich nicht zu interessieren. Richard konnte einen Gänsebraten zubereiten. Laut ihrer Schwester Lotte spielte er zwar ständig den Lehrer, war aber kein verknöcherter Patriarch.

Das Buch bestätigt, dass sich der patriarchale Charakter klassenübergreifender Liebesbeziehungen in der Weimarer Republik vermindern konnte, weil sich eine radikaldemokratische Perspektive zu eröffnen schien. Die nach Emanzipation strebende Neue Frau kam nicht nur aus bemitteltem Bürgertum. Proletarischen Mädchen mit Hunger nach Bildung, Ästhetik und persönlicher Unabhängigkeit, bot die Weimarer Republik Entfaltungsmöglichkeiten. Die Faszination, die Änne auf den Bürgersprößling Schminke ausübte, ist vergleichbar mit der Bertolt Brechts für Margarete Steffin. Oder mit der Faszination, die der Zeitungsmagnat Theodor Wolff  seiner aus dem Rummelsburger Proletariat stammenden Sekretärin Ilse Stöbe entgegenbrachte. Wolff setzte ihr in seinem Exilroman Die Schwimmerin ein großartiges Denkmal. Auch er engagierte sich für Bildung und Qualifikation der geschätzten jungen Frau. Und obwohl er kein Kommunist war, vermied er es, Ilse das Klassenbewusstsein auszutreiben. Diese Herren verstanden, dass es wichtig war für die Umkrempelung der Welt.     

 

* Diese Rezension erschien unter dem Titel „Ich weiß es nicht“. Über: Ricarda Bethke: Rotes Erbe. Auf der Suche nach Richard Schmincke, meinem Vater, Vergangenheitsverlag, Berlin 2021, 20 Euro. In: Der Freitag no. 38 v. 23. 9. 2021