Vom ewigen Frieden

Rezension des Buches von Domenico Losurdo „Eine Welt ohne Krieg - Die Friedensidee von den Verheißungen der Vergangenheit bis zu den Tragödien der Gegenwart", PapyRossa-Verlag, Köln 2022, ISBN 978-3-89438-790-7, 462 Seiten, 28,- Euro. Die Zahlen in Klammern im Text geben die Seite des Zitats an.  

Der Titel des Buches klingt deplatziert in Zeiten, in denen Kriege geführt werden, nicht nur in der Ukraine, sondern auch im Jemen, im Kaukasus, in Äthiopien, um hier nur die gegenwärtig Wichtigsten zu nennen. Und das Ende des zwanzigjährigen Krieges des Westens in Afghanistan ist gerade einmal ein Jahr her. Und so lautet denn auch der Untertitel des Buches sehr viel nüchterner: „Die Friedensidee von den Verheißungen der Vergangenheit bis zu den Tragödien der Gegenwart.“

Das umfangreiche Werk des 2018 verstorbenen marxistischen Historikers erschien in Italien bereits im Jahr 2016 unter dem Titel Un mondo senza guerre. L'idea di pace dalle promesse del passato alle tragedie del presente. Im September 2022 hat der PapyRossa-Verlag Köln die von Christel Buchinger übersetzte deutsche Fassung vorgelegt.

Kant, Fichte und die Französische Revolution

Spätestens mit der Veröffentlichung des Essays „Zum ewigen Frieden“ am 3. Januar 1796 von Immanuel Kant wird die Vorstellung populär, dass mit dem Sturz der eigensüchtigen und räuberischen Dynastien auch die Kriege verschwinden werden: „Länder mit einer republikanischen Verfassung und ohne ständige Armee (…) hätten keine großen Schwierigkeiten gehabt, auf ihre 'wilde (gesetzlose) Freiheit' zu verzichten, die für die 'Wilden', aber auch für die traditionellen internationalen Beziehungen typisch ist, und sich stattdessen in einer Föderation oder, mit anderen Worten, in einem 'Friedensbund (foedus pacificum)' zusammenzuschließen, der dazu bestimmt ist, sich nach und nach auszudehnen und nicht einen einzigen Krieg, sondern 'alle Kriege auf immer' zu beenden.“ (40 f.) Kant ließ sich dabei von der Französischen Revolution inspirieren - dem nach Hegel „herrlichen Sonnenaufgang der Menschheit“.

Die europäischen Monarchien dachten aber nicht daran, die auch für ihre Existenz so gefährliche Entwicklung einfach geschehen zu lassen. Unter Führung des Herzogs von Braunschweig rüsteten sie 1792 zum Gegenschlag. In der Kanonade von Valmy – von  Wolfgang von Goethe als Wendepunkt der Weltgeschichte beschrieben - wurden aber die konterrevolutionären Heere vernichtend geschlagen. In die französische Verfassung wurde danach, 1793, ausdrücklich das Gebot der Nichteinmischung in die Angelegenheit anderer Nationen verankert: 'Das französische Volk […] mischt sich nicht in die Regierung anderer Nationen ein; es duldet nicht, dass andere Nationen sich in die seinen einmischen' (42). Es war die erste Verfassung eines Staates, in die dieses Gebot der Nichteinmischung, ein Kernelement des ewigen Friedens, Eingang fand.

Die reale Politik des revolutionären Frankreichs sollte sich aber bald grundlegend ändern: Aus dem Verteidigungskrieg wurde ein neuer Expansionismus. Diese Entwicklung spiegelt sich in der veränderten Haltung des deutschen Philosophen Johann Gottlieb Fichte. Losurdo knüpft in der Beschreibung dieser Zeit an seinen Ausführungen aus dem Jahr 1991[1] an.  Im Land der Revolution mehren sich bald die Stimmen, „die den Beitrag des neuen Frankreichs zur Verwirklichung des ewigen Friedens nicht in der Vermeidung jeder Art von Aggressionskrieg, sondern vielmehr in der Ausfuhr der Revolution sehen, und das heißt in einer Art von 'internationalistischer' Hilfe für die anderen Völker, damit sie sich ihrerseits von eben dem Despotismus befreiten, der die wahre Ursache der Bruderkriege unter den Nationen bilde.“[2] Die Folgen des neuen französischen Expansionismus sind verheerend: Neben der Rückeroberung von Saint-Domingue /Haiti in der Karibik und der Wiedereinführung der Sklaverei dort, will „Frankreich in erster Linie Europa erobern und einer kolonialen Herrschaft unterwerfen, und es ist vor allem Deutschland, das von der neuen Offensive betroffen ist.“ (117) Durch französische Annexion verliert es seine linksrheinischen Gebiete. Fichte zieht daraus den ernüchternden Schluss: „Auch in Europa 'sind nun die minder mächtigen Staaten gezwungen, auf ihre Selbsterhaltung zu denken' und sich einer Aufgabe zu stellen, die nur durch eine angemessene Stärkung auf materieller Ebene gelöst werden kann.“ (117)  Bereits in seinem 1989 erschienenen Werk „Hegel und das deutsche Erbe“ hatte Domenico Losurdo den napoleonischen Expansionismus scharf kritisiert: Der „Expansionismus nach dem Thermidor und vor allem der Napoleons hatten den anfänglichen Enthusiasmus der deutschen öffentlichen Meinung für die französische Revolution abgekühlt, ausgelöscht oder in Hass verwandelt.“[3] Die darauf folgende Entfremdung zwischen den beiden Ländern sollte mehr als 100 Jahre anhalten.

Der Rote Oktober und das Ideal einer Welt ohne Krieg

Auch die russische Oktoberrevolution huldigte dem Pathos des ewigen Friedens. Unter der Überschrift „1789 und 1917: Zwei Revolutionen im Vergleich“ schreibt Losurdo: „Die Französische Revolution in ihren radikalsten Strömungen und die Oktoberrevolution als Ganzes waren zutiefst vom Ideal des ewigen Friedens beeinflusst, der in einem universalistischen Sinne verstanden wurde, d. h. er sollte die gesamte Menschheit, einschließlich der Kolonialvölker, umfassen; gerade deshalb geht die Forderung, der Geißel des Krieges ein Ende zu setzen, Hand in Hand mit der Infragestellung der Kolonialherrschaft.“  Der Angriff auf die Kolonialherrschaft wird zu einem zentralen Punkt des bolschewistischen Programms. „Hat die Französische Revolution die Revolution der schwarzen Sklaven in Saint-Domingue /Haiti unter Führung von Toussaint Louverture stimuliert und indirekt die Abschaffung der schwarzen Sklaverei in einem großen Teil Lateinamerikas vorangetrieben, so ruft die Oktoberrevolution von Anfang an die 'Sklaven der Kolonien' auf, ihre Ketten zu sprengen, und mündet in die weltweite antikolonialistische Revolution.“ (246f.)

Auch die deutschen Revolutionäre erwarteten von der sozialistischen Revolution die endgültige Sicherung des Friedens. In der von Rosa Luxemburg verfassten Schrift „Was will der Spartakusbund?“ heißt es über seine internationalen Aufgaben: „Sofortige Aufnahme der Verbindungen mit den Bruderparteien des Auslands, um die sozialistische Revolution auf internationale Basis zu stellen und den Frieden durch die internationale Verbrüderung und Erhebung des Weltproletariats zu gestalten und zu sichern.“[4]

In den im März 1919 vom 1. Kongress der Kommunistischen Internationale angenommenen Richtlinien heißt es: „Die Arbeiterklasse […] muss eine wirkliche Ordnung schaffen, die kommunistische Ordnung. Sie muss die Herrschaft des Kapitals brechen, die Kriege unmöglich machen, die Grenzen der Staaten vernichten, die ganze Welt in eine für sich selbst arbeitende Gemeinschaft verwandeln, die Verbrüderung und Befreiung der Völker verwirklichen.“ (243)

Dieses Ideal scheiterte aber bald an der Realität, ebenso wie die Illusion von der Abschaffung der Staaten und die damit mögliche „Vernichtung der Grenzen“. Losurdo kommt zu einem ernüchternden Resümee: „Der Prozess, der 1789 begonnen hatte, endete mit nationalen Befreiungskriegen gegen das Land, das mit der Revolution den Beginn der internationalen Brüderlichkeit der Nationen versprochen hatte; der Prozess, der 1917 begann, endete mit dem Nachweis der Unfähigkeit, ein 'sozialistisches Lager' zu verwalten, das aus einer Reihe von Revolutionen hervorgegangen war: Alle hatten sich unter dem Banner eines aufrichtigen und tief empfundenen Universalismus entwickelt und den Sieg errungen, aber alle hatten auch das stolze Selbstbewusstsein und sogar die nationale Empfindlichkeit der beteiligten Länder und Völker gestärkt. Damit war eine Situation geschaffen worden, die sicher nicht verstanden und bewältigt werden konnte, indem man sich in der Illusion wiegte, die nationale Frage sei überwunden. Es bleibt die Tatsache, dass, trotz der großen Unterschiede zwischen den beiden hier verglichenen historischen Entwicklungen, die beiden großen Epochen der Massenbegeisterung für das Ideal und die Aussicht auf einen ewigen Frieden ganz anders endeten, als die ursprünglichen Hoffnungen versprachen.“ (276)

Hinter dieser vom Autor vorgenommenen Gleichsetzung von 1789 und 1917 ist aber ein Fragezeichen zu setzen, denn was die sozialistische Revolution in Europa angeht, so ebbte die revolutionäre Welle bereits 1919/20 ab. Die Fabrikbesetzungen in Italien führten nicht zur Revolution, die bayerische Räterepublik wurde blutig niedergeschlagen, ebenso die ungarische. Die junge Rote Armee erlitt im Krieg gegen Polen eine Niederlage. Spätestens mit dem Scheitern des Mitteldeutschen Aufstands 1921 in Deutschland war endgültig klar, dass die Sowjetunion allein bleiben werde. Es war Lenin selbst, der diese Lage kurz vor seinem Lebensende zur Kenntnis nehmen musste, und erste Schlussfolgerungen daraus zog: Der kommunistische Reichstagsabgeordnete und Historiker Arthur Rosenberg schrieb über dessen Positionswechsel: „Wenn man die letzten Reden und Artikel Lenins aufmerksam durchsieht, erkennt man, wie er seine Gedanken ganz auf Russland konzentriert, wie er das, was er Sozialismus nennt, nur noch durch die eigene Kraft Russlands erzeugen will. Die internationalen Beziehungen sind für Russland nur so weit wichtig, wie sie das Land vor einer gewaltsamen fremden Intervention sichern können. Von einer positiven Unterstützung Russlands durch die Weltrevolution ist nicht mehr die Rede.“ [5] Diese neue Sicht ist aber bei Lenin „noch nicht in scharfer Formulierung in den Mittelpunkt der ganzen Parteiarbeit gerückt, sondern sie ergibt sich nur indirekt aus seinen Betrachtungen. Stalin dagegen hat zuerst diese Auffassung klar ausgesprochen und auf ihr die Praxis des Bolschewismus begründet.“[6]

Und so ist denn die Aussage Losurdos zu hinterfragen, ob die nach 1945 erfolgte Bildung des Lagers europäischer sozialistischer Staaten, das dann in der 1989-91 kollabierte, überhaupt in einen Zusammenhang mit dem Roten Oktober und mit den damit verbundenen euphorischen Erwartungen u. a. an einen ewigen Frieden gebracht werden kann, denn die Entstehung des europäischen sozialistischen Lagers war grundsätzlich nicht das Ergebnis autochthoner nationaler Revolutionen, und dort wo sie erfolgreich waren – etwa in Jugoslawien und Albanien -, sollte Moskau seinen Einfluss bald verlieren. Der italienische Historiker Luciano Canfora hat darauf hingewiesen, dass es sich bei den europäischen sozialistischen Ländern, mit Ausnahme der DDR, in erster Linie um jene handelte, von denen die Sowjetunion bereits vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs das Recht zum Truppendurchmarsch bzw. der Stationierung eigenen Militärs gefordert hatte, was seinerzeit aber von Polen und der Tschechoslowakei und auch von Frankreich und Großbritannien strikt abgelehnt worden war. In Reaktion darauf entschied sich Moskau im August 1939 zum Abschluss des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakts, was für Canfora heißt: „Zwischen dem von Stalin in der ersten Nachkriegszeit verfolgten Handeln und dem Kern der im russisch-deutschen Pakt enthaltenen territorialen Übereinkünfte besteht also voller Einklang. (…) Keine imperiale oder expansionistische Politik, sondern eine Sicherheitspolitik. “[7] Und was eine Welt ohne Krieg angeht, so kann man in den Erinnerungen von Heinrich Mann lesen: „'Kriege wird es immer geben', sagt Stalin. Traurig genug.“ [8]           

Demokratie als Voraussetzung für das Ende aller Kriege?

Es gehört zum Selbstverständnis des Westens, wonach nur eine vollständig demokratische Welt eine friedliche Welt ist: Wäre der Rest der Welt wie wir, so gäbe es bereits den ersehnten ewigen Frieden. Doch „die Gleichsetzung der Sache der Demokratie mit der Sache des Friedens ist eindeutig ein ideologischer Mythos: Es ist offensichtlich, dass die Kolonialkriege in erster Linie nicht auf das Ancien Régime verweisen, sondern auf die Moderne, und zwar auf eine Moderne, die oft eine mehr oder weniger demokratische Gestalt angenommen hat.“ (328 f.) Vor allem England ist „Protagonistin ununterbrochener Kolonialkriege“ und daher sogar noch „kriegslüsterner“ als die „kontinentalen Demokratien.“ (329)

Doch wer zählt schon die Opfer all dieser Kriege des Westens allein nach 1945: In Korea, Guatemala, Algerien, Kenia, im Kongo, Vietnam, im Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien sowie in vielen weiteren Ländern? Es ist heute nicht anders als vor hundert Jahren: Die Opfer zählen nicht. Damals verurteilte Lenin die Kriege der imperialistischen Mächte in den Kolonien, die dem Beginn des großen Völkerschlachtens 1914 vorausging: „ (…) nehmen sie die Geschichte der kleinen Kriege, die sie vor dem großen führten - 'kleinen Kriege', weil in diesen Kriegen wenig Europäer, dafür aber Hunderttausende aus jenen Völkern umkamen, die sie versklavten, die von ihrem Standpunkt nicht einmal als Völker angesehen werden (irgendwelche Asiaten, Afrikaner – sind das etwa Völker?); mit diesen Völkern wurden Kriege folgender Art geführt: sie waren waffenlos, und man mordete sie mit Maschinengewehren.

Heute erteilt Washington der gesamten Welt Unterricht darin, was Demokratie bedeutet, ausgerichtet jenes Land, das während seiner Aufstiegsphase einen beispiellosen Genozid an der indigenen Bevölkerung beging! Unbestritten ist die Tatsache, dass die USA die verschiedenen indianischen Völker „in Kolonialkriegen unterwarf – mit dem Ziel der Dezimierung und Vernichtung der Besiegten (während sie gleichzeitig mit der Versklavung der Schwarzen fortfuhr). Trotzdem kann sich das Land, das von sich behauptet, die 'älteste Demokratie der Welt' zu sein, gleichzeitig als oberster Verfechter des Friedens aufspielen.“ (347) Mehr noch: Diese „selbsternannten Demokratien“ werden „selbst für ihre widerwärtigsten Handlungsweisen freigesprochen“. (347)

Kriege zwischen Demokratien

Wenn auch diese blutige Historie heute kaum noch geleugnet werden kann, so hält sich der im Westen so sorgsam gepflegte Mythos, dass Demokratien zumindest untereinander keine Kriege führen. Zu seiner Wiederlegung erinnert Losurdo vor allem an den Krieg, den die beiden westlichen Musterdemokratien Großbritannien und USA von 1812 bis 1815 gegeneinander führten. (335) Zahlreich sind die Berichte über die dabei begangenen Massaker und abstoßenden Grausamkeiten. Noch heute präsent im kollektiven Gedächtnis der USA ist das Niederbrennen nahezu aller Regierungsgebäude in Washington, einschließlich des Weißen Hauses, durch marodierende britische Truppen 1814. Sie vergaßen dabei übrigens nicht, zuvor alle Kunstgegenstände zu plündern, von denen bis heute so gut wie keines an die USA zurückgegeben wurde. Und auch später drohte die anhaltende Rivalität der beiden Mächte mehrfach in einen Krieg auszuarten, den bereits viele Beobachter für das beginnende 20. Jahrhundert angesichts des Aufstiegs der USA und des gleichzeitigen Niedergangs Großbritanniens für unvermeidlich hielten. Allein die neu hinzugekommene Konkurrenz des Deutschen Reiches ließ es nicht dazu kommen. (337 f.)

Da aber Demokratien angeblich keine Kriege untereinander führen, kann es entsprechend dieser Logik nur darum gehen, die Demokratie in Länder mit autokratischen Regierungen zu exportieren – notfalls mit Krieg. Losurdo zitiert den wichtigen Philosophen des Westens, Karl Popper: „'Wir dürfen hier nicht davor zurückschrecken, für den Frieden Krieg zu führen.'“ (301) Dies ist in Reinform der Kern der Kriegsideologie des Neokonservatismus bzw. Neokolonialismus!

Unter der verlogenen Losung eines Kampfes für die Demokratie wurden bereits 1914 die Soldaten auf die Schlachtfelder geschickt – und zwar von allen Seiten! „Es ist kein Zufall, dass, (…) die Entente (das Bündnis aus Frankreich und Großbritannien im ersten Weltkrieg, A.W.) den Krieg als Aufruf zum Demokratieexport nach Deutschland bejubelt, hier vor allem die Sozialdemokratische Partei vorschlug, die Demokratie in das (mit der Entente verbündete) zaristische Russland zu exportieren, so dass – wie Rosa Luxemburg ironisch bemerkte – in den Augen der inzwischen für die Sache des Krieges gewonnenen Sozialdemokraten General Paul von Hindenburg 'zum Vollstrecker des Testaments von Marx und Engels' wurde! Mit anderen Worten: Anders als 1789 funktionierten in den Jahren von 1914-1918 die Agitation und die Losung vom ewigen Frieden von Anfang an als Ideologie des Krieges, und zwar als Ideologie des Krieges, die zumindest teilweise von den Ländern geteilt wurde, die in einen tödlichen Kampf gegeneinander verwickelt waren!“ (238)

Nach Losurdo aber „waren die Protagonisten des gigantischen Konflikts, der 1914 ausbrach, allesamt Länder, die eine mehr oder weniger demokratische Regierung hatten (dies galt auch für Russland nach dem Zusammenbruch der zaristischen Autokratie).“ (250) Zur Unterstützung seiner These zitiert er Henry Kissinger, „von dem unserer Tage zu lesen war: 'Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurden in Europa die meisten Länder (einschließlich Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands) von im Wesentlichen demokratischen Institutionen regiert. Und trotzdem wurde der Erste Weltkrieg – eine Katastrophe, von der sich Europa nie ganz erholt hat – von allen (demokratisch gewählten) Parlamenten enthusiastisch befürwortet.'“ (238)

Die Feindbilder Russland und China

Die Ideologie von der notwendigen Verbreitung der Demokratie - notfalls mittels Krieg bzw. dem Embargo, dem ökonomischen Krieg - ist bestimmt heute weiterhin das Handeln des Westens: „Der weit verbreitete Gemeinplatz, der der Ausbreitung der 'Demokratie' wundersame Tugenden der Befriedung zuschreibt, ist bei näherer Betrachtung alles andere als beruhigend. (…) Die Tatsache, dass diese bewährte Kriegsideologie, trotz aller Widerlegungen durch die Geschichte, weiterhin breite Zustimmung genießt, verheißt nichts Gutes.“ (350)

Die Liste der Länder, gegen die die USA und mit ihnen im Gleichschritt die EU, Sanktionen erlassen haben, wird immer länger. Bereits seit Jahrzehnten stehen Kuba, der Iran und Nordkorea auf ihr, hinzu kamen Syrien, Venezuela und nun auch Afghanistan und Myanmar, um nur die wichtigsten Länder zu nennen. Eine völlig neue Dimension stellen die im März 2022 gegen Russland erlassenen Sanktionen dar, zielen sie doch, nach Aussage von Washington und Brüssel, auf nicht weniger als die Zerstörung seiner Volkswirtschaft.

Für Losurdo ist „nach dem Zusammenbruch des 'realen Sozialismus' das Embargo in einer unter US-Hegemonie vereinigten Welt die Massenvernichtungswaffe schlechthin.“ (352) Das Embargo ist heute „das bevorzugte Instrument, mit dem eine große koloniale oder imperiale Macht, die mehr oder weniger die Weltwirtschaft oder eine wichtige Region der Welt kontrolliert, sich den Gehorsam oder die Unterwerfung eines Landes, das sich in kolonialen oder halbkolonialen Verhältnissen befindet oder das sich endgültig aus solchen Verhältnissen befreien will, zu sichern sucht.“ (352) Es handelt sich um „ökonomische Kriegführung.“ (352)

Mehr als dreißig Jahre nach Ende des sogenannten Systemgegensatzes sind für den Westen die alten Widersacher von damals, Russland als Kernland der untergegangenen Sowjetunion und die Volksrepublik China, erneut die Hauptgegner: „Als antidemokratisch bereits gebrandmarkt, werden Russland und China nun auch als revisionistisch und aggressiv beschuldigt.“ (361)

Zur Lage Russlands zitiert Losurdo den US-amerikanischen Strategen des Kalten Krieges Zbigniew Brzezinski sowie Henry Kissinger: „Die geopolitische Fragilität Russlands wurde weiter verschärft durch die 'gemeinsamen Marine- und Landungsmanöver der NATO und der Ukraine' und die fortschreitende 'Erweiterung der NATO'. Selbst 'viele russische Demokraten' waren am Ende besorgt. Und das zu Recht: 'Eine Bedrohung für das Überleben der russischen Nation' zeichnete sich ab (um es mit den Worten Kissingers zu sagen).“ (371)

Was China angeht, so wird der Volksrepublik in erster Linie vorgeworfen, durch ihren Anspruch auf Inseln im Südchinesischen Meer die Region zu destabilisieren. Doch „die Kampagne, die den Konflikt allein auf das Konto der angeblichen Aggressivität der Volksrepublik China setzt, entbehrt jeder Grundlage. Letztere hat einfach die Ansprüche geerbt, die seinerzeit von Chiang Kai-sheks China (einem subalternen Verbündeten der Vereinigten Staaten) erhoben wurden und die auch von Taiwans Führern immer vertreten werden.“ (374)

Bei dem von den USA und der EU Moskau unterstellten Revisionismus, d.h. des Versuchs, die Sowjetunion wieder auferstehen zu lassen, verhält es sich genau umgekehrt: „Nach der Auflösung des 'sozialistischen Lagers' und der Sowjetunion sah sich Moskau, dass die Zusicherung Washingtons, dass die Vereinigten Staaten den Kommunismus und nicht Russland bekämpfen wollten, ernst genommen hatte, einem hemmungslosen Revisionismus ausgesetzt, der dazu führte, dass die Grenzen und Militärstützpunkte der NATO immer weiter vorrückten und schließlich bis in die Ukraine vordrangen. Es besteht kein Zweifel, dass Putin seit Jahren versucht, darauf zu reagieren, aber die übliche Definition des von ihm geführten Landes als revisionistische Macht ist höchst zweifelhaft.“ (363)

Die inzwischen eingetretene Zuspitzung des Konflikts um die Ukraine hatte Domenico Losurdo bereits 2016 vorausgesehen, zumindest erahnt. Und diese Auseinandersetzung sah er keineswegs als einen „zwischenimperialistischen“ an, wie es heute viele westliche Linke tun. Für ihn war Russland vielmehr „Teil des erweiterten globalen Südens“. In seinem 2014 in Italien erschienenen Buch „Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg“ schrieb er: „Zu dieser erweiterten Dritten Welt, die auch die Schwellenländer umfasst, ist in gewisser Weise auch Russland hinzugekommen. Natürlich handelt es sich um ein Land, das eine mit imperialistischem Expansionismus durchsetzte Geschichte hinter sich hat, das aber aufgrund seiner ökonomisch-sozialen Fragilität und seiner ethnischen Heterogenität schnell in eine halbabhängige Lage geraten kann.“ [9]

Wie heute für eine Welt ohne Krieg kämpfen?

Der Autor würdigt am Schluss des Buches ausdrücklich die andauernden Anstrengungen unterschiedlichster Kräfte zur Schaffung einer Welt ohne Krieg: „Die Entstehung des Ideals des ewigen Friedens als politisches Projekt (und nicht als bloßer Traum), und zwar als politisches Projekt, das die gesamte Menschheit umfassen soll, ist ein Wendepunkt in der Geschichte des Denkens und der Geschichte als solcher: Statt mit einem Naturphänomen oder einer Naturkatastrophe gleichgesetzt zu werden, wird der Krieg nun unter dem Gesichtspunkt von Machtverhältnissen untersucht, die innerhalb eines einzelnen Landes oder auf internationaler Ebene herrschen. Auf diese Weise hat das Ideal des ewigen Friedens, wie naiv, emphatisch oder messianisch die Formen auch sein mögen, auch auf wissenschaftlicher Ebene das Verdienst, zur Entnaturalisierung und zur Historisierung des Phänomens Krieg beizutragen.“ (399)

Für Losurdo steht aber zugleich fest, dass es nicht die Demokratie per se (ist), die die friedliche Entwicklung der internationalen Beziehungen hervorbringt, sondern es ist in erster Linie die Situation der geopolitischen Ruhe und der Entspannung in den internationalen Beziehungen, die die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Institutionen ermöglicht.“ (346) Ein „ewiger Friede (…) setzt die Verwirklichung von Beziehungen der Gleichheit und Freundschaft zwischen allen Völkern voraus.“ (247) An anderer Stelle wiederholt der Autor diesen Gedanken mit anderen Worten: „Tatsache ist, dass die Sache des Friedens nicht von der Demokratisierung der internationalen Beziehungen trennbar ist.“ (403) Und diese Demokratisierung setzt das „Prinzip der 'Gleichheit aller Rassen und Nationen' als Grundlage eines 'wahren Friedens'“ voraus. (403)

Dazu sind aber die heute in der NATO zusammengeschlossenen westlichen Staaten nicht bereit. Aufgrund ökonomischer Interessen nehmen sie die Haltung moralisch überlegener Demokratien ein, um ihnen missliebige Länder zu verurteilen. Immer häufiger haben diese Urteile für die betroffenen Staaten schreckliche Folgen. Sie werden mittels Sanktionen bzw. mit Waffengewalt angegriffen und zerstört. Gerechtfertigt wird all dies damit, dass es sich bei den Opfern ja nur um verachtenswerte autokratische Staaten handele. Diese Zusammenhänge in aller Klarheit dargestellt zu haben, ist das große Verdienst des Buchs von Domenico Losurdo.

Das Buch wurde vorzüglich von Christel Buchinger übersetzt. Besonders hervorzuheben ist, dass sie die vielen vom Autor im Text enthaltenen Rückbezüge auf frühere Arbeiten von ihm präzise beschrieben und sie so für den Leser leicht auffindbar gemacht hat.


Im Original erschienen am 19.09.2022 auf Andreas-Wehr.eu

[1] Manfred Buhr/Domenico Losurdo, Fichte – die Französische Revolution und das Ideal vom ewigen Frieden, Berlin 1991

[2] Manfred Buhr/Domenico Losurdo, Fichte, a. a. O., S. 86

[3] Domenico Losurdo, Hegel und das deutsche Erbe, Köln 1989, S. 377

[4] Rosa Luxemburg, Was will der Spartakusbund? In: Politische Schriften II, Frankfurt/M., 1972, S. 168

[5] Arthur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus, Frankfurt/M., 1965, S. 206

[6] Arthur Rosenberg, a.a.O., S. 224

[7] Luciano Canfora, Von Stalin zu Gorbatschow: Wie ein Imperium zu Ende geht, in: Domenico Losurdo, Stalin – Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende, Köln 2012, S. 422 f.

[8] Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt, Berlin und Weimar 1985, S. 72

[9] Domenico Losurdo, Wenn die Linke fehlt…Gesellschaft des Spektakels, Krise, Krieg, Köln 2017, S. 343