Der Frieden ist das wichtigste Menschenrecht

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Zeitgeschehen im Fokus Michelle Bachelet hat ihr Mandat als Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte nicht verlängert, ein Nachfolger ist bereits bestimmt. Hat sie im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen und Vorgängern mehr bewirken können?

Prof. Alfred de Zayas Gewiss war Michelle Bachelet besser als ihr Vorgänger Zeid Raad al-Hussein, der viel Schaden bezüglich Autorität und Glaubwürdigkeit des Büros des Hochkommissars angerichtet hat. Allerdings muss man bedenken, dass die Person des Hochkommissars das Wirken seines Büros nur bedingt beeinflussen kann. Das Büro wird von Bürokraten geführt. Viele der höheren Bürokraten sind äusserst politisch bzw. ideologisch geprägt und wurden durch die mächtigen Staaten dorthin bestellt, vor allem durch die USA und die EU-Staaten. 

Was hat das für Folgen für dieses nicht unbedeutende Amt?

Über Jahre hinweg hat man dafür gesorgt, dass die Bürokraten überwiegend westlich eingestellt sind bzw. eine West-Orientierung zeigen. Man könnte sogar sagen, dass das OHCHR [das Büro des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte] im Dienste Washingtons und Brüssels steht, nicht zuletzt, weil diese Staaten das meiste Geld spenden – immer unter der stillschweigenden Bedingung, dass das Büro ihre geopolitischen Interessen fördert. Niemand im Hause wird dies öffentlich sagen. Das ist aber die Realität. Darum konnte Michelle Bachelet nicht viel ändern, genauso wie in den USA der Hausherr im Weissen Haus nicht allzu viel zu sagen hat. Ob Demokrat oder Republikaner, es regiert nicht der Präsident, sondern die Hintermänner bzw. der militärisch-industrielle-digitale-finanzielle Komplex. Wie ich in meinem ersten Bericht an den Menschenrechtsrat geschrieben habe, gibt es Demokratie-Defizite, und diejenigen, die gewählt worden sind, regieren nicht, und jene die doch regieren, wurden nicht gewählt.

Hat Michelle Bachelet dennoch Unabhängigkeit in ihrem Amt bewiesen?

Nein, nicht allzu viel. Immerhin hat sie einiges Positive erreicht, z. B. einen persönlichen Besuch in Venezuela 2020, die Einrichtung eines Büros in Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, einen persönlichen Besuch in China 2022 und ihr End-of-Mission-Statement vom 26. Mai 2022 in Guangzhou. Leider war der sogenannte «Bericht» des Büros über Xinjiang eine einzige Schande – natürlich nicht von Bachelet verfasst, sondern von den Bürokraten im OHCHR. Darum wurde der Bericht erst veröffentlicht, nachdem Bachelet ihr Mandat niedergelegt hatte – am 31. August 2022. Schnell flog Bachelet nach Chile zurück, um den Mangel an Objektivität und Professionalismus des Berichts nicht verantworten zu müssen.

Inwiefern hat sie sich für die Verbesserung der Menschenrechtslage in verschiedenen Ländern eingesetzt?

Ursprünglich hatte Bachelet mit der Bestärkung der Menschenrechte – des Rechts auf ein menschenwürdiges Leben in Frieden, des Rechts auf Nahrung, auf Wasser, auf Ausbildung, auf Gesundheit, auf Arbeit – die richtigen Prioritäten gesetzt. Immerhin ist sie von Haus aus sozialistisch geprägt. Aber sie musste täglich Real­politik spielen. Der Druck und die Erpressung durch Washington und Brüssel waren und blieben spürbar. Dennoch hat Bachelet versucht, «Advisory Services and Technical Assistance» zu betreiben, die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu fördern, die Rechte der Autochthonen bekannter zu machen. Immer wieder hat sie für eine gerechte und soziale Weltordnung plädiert.

In welchen Ländern war sie besonders aktiv?

Eigentlich war sie ziemlich in der ganzen Welt aktiv. Zu bedauern ist, dass sie es nicht wagte, mit klaren Worten die Menschenrechtsverletzungen der USA, Kanadas, Australiens, Grossbritanniens, Frankreichs und Deutschlands anzuprangern. Sie hat auch zu wenig getan, um die Ursachen des Krieges in der Ukraine beim Namen zu nennen und die Verantwortlichen zu Verhandlungen aufzufordern. Frieden ist ein Menschenrecht. Leider hat sie viele Gelegenheiten verpasst, für den Frieden Stellung zu nehmen. Auch der neue Hochkommissar Volker Türk aus Österreich wird das nicht können. 

Ich würde die Hochkommissare in der Reihenfolge der Qualität wie folgt einschätzen: Am besten war Navi Pillay aus Südafrika, gefolgt von dem «acting» Hochkommissar Bertrand Ramcharan aus Guyana, dann kommen Louise Arbour aus Kanada, Sergio Vieira de Mello aus Brasilien, der nur kurz Hochkommissar war, denn er wurde in Bagdad 2003 Opfer eines Attentats, Jose Ayala Lasso aus Ecuador, der nur 3 Jahre lang sein Amt ausübte, Mary Robinson aus Irland und schliesslich Zeid Raad al-Hussein aus Jordanien. Die letzten haben allzu oft eine doppelte Moral an den Tag gelegt.

Warum hat Michelle Bachelet nach vier Jahren das «Handtuch geworfen»?

Genau wie ihre Vorgängerin, Louise Arbour, ist Bachelet von den Mainstream-Medien und von manchen Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) regelrecht gemobbt worden. Die Menschenrechtsindustrie hat längst die Menschenrechte zu Waffen umfunktioniert, so dass sie vom Hochkommissar verlangen, sich gegenüber den Rivalen der neoliberalen Ordnung angriffslustig zu zeigen. Die Menschenrechtsindustrie erwartet, dass der Hochkommissar bzw. die Hochkommissarin gegen Belarus, China, Kuba, Nicaragua, Russland, Syrien, Venezuela etc. scharf schiesst und nur milde Kritik an Washington, Brüssel oder Tel Aviv übt. Nur jene Hochkommissare haben eine gute Presse, die sich biegen wie etwa Zeid Raad al-Hussein oder Mary Robinson – allerdings nur, bis sie es wagte, die Weltkonferenz gegen Rassismus 2001 in Durban einzuberufen. Das hat sie den Job gekostet.

Inwiefern hat der vor kurzem veröffentlichte Bericht über die Menschenrechtslage in China den persönlichen Eindrücken, die Michelle Bachelet von ihrem Besuch in China hatte, widersprochen?

Der Bericht ist ganz und gar inkompatibel mit Bachelets eigenen Erfahrungen.

Muss man nach Ihren Ausführungen konstatieren, dass das Amt des Hochkommissars oder der Hochkommissarin nicht seriös ausgeübt werden kann?

Zur Zeit kann man nicht von Objektivität und Unabhängigkeit reden. Dies gilt auch für den Menschenrechtsrat. Allein die «Treaty Bodies» wie der Menschenrechtsausschuss, dessen Sekretär ich war, wagen ab und zu, Urteile zu fällen, die als «politisch inkorrekt» gelten. Allerdings werden diese Urteile nicht umgesetzt, wenn sie nicht im Sinne der westlichen Staaten sind.

Was kann man unter diesen Umständen vom neuen Hochkommissar erwarten?

Eine Fortsetzung der politisch korrekten Politik seiner Vorgänger und Vorgängerinnen.  

Wird er dem Westen dienen unter Verwendung der Menschenrechte als Waffe, um andere Länder unter Druck setzen zu können?

Das erwarte ich. Eine viel bessere Wahl als Hochkommissar wäre der Schweizer Professor Nils Melzer gewesen, ehemaliger Uno-Sonderberichterstatter über Folter, aber er war zu unabhängig und wurde deshalb von der US- und EU-Menschenrechtsindustrie abgelehnt.

Was sind die dringendsten Aufgaben, vor denen Volker Türk jetzt steht und die er angehen müsste?

Erste Priorität muss der Frieden haben. Der Menschenrechtsrat sollte alles fallen lassen und für den Frieden und für die Mediation wirken. Er muss die USA, die Nato und Selenskij auffordern, den Krieg zu beenden und zu verhandeln. Die Alternative ist die Apokalypse der ganzen Menschheit.

Was würden Sie als ehemaliger langjähriger Uno-Beamter und Unabhängiger Experte an der Uno dem neuen Hochkommissar raten?

Einen opferorientierten «Plan of action» zu entwickeln. Die sofortige Hilfe für die Opfer in Jemen, Syrien, Palästina usw. zu fördern. Er soll eine präventive Strategie entwickeln. Prävention bedeutet zunächst, die Ursachen der Menschenrechtsverletzungen zu erforschen, dann Mechanismen zu schaffen, um die Hindernisse bei der Umsetzung und Beachtung der Menschenrechte nach und nach zu beseitigen. Es nützt nichts, hier und da mit «Band-Aids» [Pflastern] zu Hilfe zu kommen. Man muss die Quellen identifizieren und entsprechend sanieren. Der Hochkommissar muss seine Stimme gegen die Kriegstreiber, Kriegsprofiteure und die Menschenrechtsindustrie erheben. Man muss aufhören, die Menschenrechte als Waffe gegen geopolitische Rivalen einzusetzen. Die Menschenrechte müssen konstruktiv eingesetzt werden, um die grossen Ungerechtigkeiten in der Welt zu beseitigen. Dafür braucht man unter anderem auch einen «Global Compact for Education», wie ich in meinen «25 Prinzipien der Weltordnung» vorschlage.¹ Schliesslich muss Volker Türk erkennen und erklären, dass der Frieden das wichtigste Menschenrecht ist, denn Frieden bedeutet Leben, und der Mensch kann erst seine Menschrechte geniessen, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind – pax optima rerum. 

Welche Instrumente gibt es im Völkerrecht, die helfen, diese Ziele zu erreichen?

Man kann an die Wiener Vertragsrechtskonvention denken, die die Umsetzung von Verträgen im guten Glauben – bona fide – verlangt. Dies ist das Prinzip «pacta sunt servanda». Leider fühlen sich die USA über das Völkerrecht erhaben. Die USA bestimmen das Völkerrecht und betrachten sich als nicht daran gebunden. Es genügte, die Uno-Charta zu respektieren. Auch die Unesco hätte eine Rolle beim Einsetzen eines «Global Compacts for Education». Vielleicht kann die Schweiz die Idee lancieren. 

Warum denken Sie an die Schweiz? Hat sie heute noch die Glaubwürdigkeit, die sie als neutraler Staat einmal hatte?

Leider hat die Schweiz ihre internationale Glaubwürdigkeit als «honest broker» verloren. Man erinnert sich, dass am 16. Juni 2021 die Schweiz das Treffen zwischen Putin und Biden in Genf vermittelte. Man hätte diese Rolle beibehalten können. Aber seit Ende 2021 haben sich die Schweiz und die schweizerischen Mainstream-Medien «NZZ», «Basler Zeitung», «Tribune de Genève» sehr parteiisch gezeigt. Allerdings habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die Schweiz ihre Seele wiederentdeckt und ihre notwendige historisch verankerte Funktion, die sie seit dem Westfälischen Friede innehat, wieder ausübt.  

Die Macht der Medien ist massiv. Wenn sich jemand im Ukraine-Krieg öffentlich für Frieden und Verhandlungen einsetzt, wird er regelrecht fertiggemacht. Sehen Sie hier eine Möglichkeit, wie man zur freien Presse zurückfinden kann?

Die Ukraine wird kaum eine freie Presse erlauben. Bei uns in Amerika gibt es immerhin «alternative» Medien. In der Ukraine werden Journalisten und einfache Bürger nicht nur «fertiggemacht» – man würde sie als Verräter behandeln. Die Ukraine hat bereits «russische Kollaborateure» bestraft. 

Woran liegt es, dass die Menschen in der westlichen Welt den USA und der Nato sowie den Ukrainern alles glauben und eine andere Meinung, wie Sie eben erwähnten, nicht mehr zulassen?

Die Medien sind Sprachrohre der Mächtigen, vor allem des bereits erwähnten militärisch-industriellen-digitalen-finanziellen Komplexes. Hinzu kommt Wikipedia mit seinen Fake News, Fake History und Fake Law, die man so unkritisch akzeptiert. Wie Julius Caesar in De bello civili schrieb: «Quae volumus, ea credimus libenter» – was wir glauben möchten, das glauben wir eben. Auch der Heilige Augustinus erkannte:  «Mundus vult decipi» – die Welt will belogen werden.

George Orwell hat in seiner Dystopie «1984» gezeigt, wie leicht die Bevölkerung eines Landes manipuliert werden kann. Die Situation heute ist eigentlich noch schlimmer, denn die Menschen scheinen Big Brother nicht nur zu glauben, sondern manche lieben ihn sogar. Die Medien indoktrinieren uns durch schwarz-weiss Darstellungen des Krieges und unterdrücken alles, was nicht hineinpasst. Wir haben gleichzeitig eine Lügenpresse und eine Lückenpresse und wir sind selbst daran schuld, denn wir haben es erlaubt, dass es so weit kommt.

Herr Professor de Zayas, vielen Dank für das Gespräch. 

Interview Thomas Kaiser


¹ https://www.claritypress.com/product/building-a-just-world-order/

Im Original erschienen am 29.09.2022 auf zeitgeschehen-im-fokus.ch