Geburtswehen einer neuen Welt

Rüdiger Rauls, 22.11.22

Neue und alte Welten

Der Begriff der Neuen Welt steht gemeinhin für das von Columbus entdeckte Amerika. Es verdankte seine Entdeckung einem Zufall. Die neue Welt, deren Geburt wir seit einigen Jahren erleben, entsteht im Gegensatz dazu nicht aus Zufall. Sie ist das Ergebnis menschlichen Ringens um ein besseres Leben, aber nicht wie bisher für eine Minderheit, die Putin als die Goldene Milliarde bezeichnet, sondern für alle.

Mit der Entdeckung der Neuen Welt durch Columbus war auch eine neue Ära der menschlichen Entwicklung angebrochen. Der Kapitalismus wurde weltumspannend. Wenn seine herrschende Klasse, das Bürgertum, auch die politische Macht noch nicht erobert hatte, so gewann er doch als Wirtschaftssystem allmählich die Oberhand. Das Feudalsystem des Adels dagegen wurde als Wirtschaftsfaktor gesellschaftlich immer unbedeutender. Die Kolonien blieben zwar weiterhin der Landbesitz der europäischen Königshäuser, wandelten sich aber wirtschaftlich zu kapitalistischen Märkten.(1)

Diese ehemals neue Welt ist heute die alte, die überholte. Sie wurde über Jahrhunderte beherrscht von den führenden kapitalistischen Staaten Europas und deren Nachfolgestaaten in Übersee (USA, Australien, Neuseeland, Kanada u.a.). Aufgrund ihrer wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit übten sie ihre Kolonialherrschaft über die meisten Völker der Welt aus. Diese Form der Herrschaft zerbrach in den Unabhängigkeitskriegen nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber die wirtschaftliche Macht über die Welt lag noch immer in ihren Händen.

Diese alte Welt büßt aber durch das Wiedererstarken Russlands sowie den Aufstieg Chinas und anderer Nationen wie Vietnam zunehmend auch ihre wirtschaftliche Macht ein. Die militärischen Niederlagen des Westens, besonders der USA in Südostasien, machten deutlich, dass diese Entwicklung mit kriegerischen Mitteln nicht aufzuhalten war. Die westlichen Staaten wandelten sich vom Saulus des militärischen Kampfes gegen den Kommunismus zum Paulus der Werteorientierung. Als westliche Wertegemeinschaft will man nun durch Sanktionen den drohenden Machtverlust aufhalten. Diese sind zwar billiger als Kriege, schwächen aber zunehmend die eigene Wirtschaft.

Was wir derzeit miterleben, ist der Zerfall dieser westlichen Wertegemeinschaft und ihres Konzepts, durch wirtschaftlichen und moralischen Druck weiterhin die eigene Macht über die Völker der Welt aufrecht zu erhalten. Die westliche Wertegemeinschaft zerbricht nicht durch Russlands Krieg in der Ukraine. Sie zerfällt auch nicht durch Chinas Vordringen auf fast allen Kontinenten und in fast allen Bereichen von Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung. Sie zerbricht an ihren eigenen Widersprüchen.

Immer mehr Menschen, Völker und Gesellschaften erkennen den Widerspruch zwischen den moralischen Ansprüchen, die der Wertewesten wie eine Monstranz vor sich her trägt, und seinem tatsächlichen Handeln. Diese alte westliche Welt ist dem Drängen der Völker, die sich über Jahrzehnte aus der Kolonialherrschaft befreiten, nicht mehr gewachsen. Diese Völker wollen nach der schwer erkämpften nationalen Unabhängigkeit nun auch ihre wirtschaftliche verwirklichen.

Sie wollen nicht mehr abhängig sein von den Entscheidungen westlicher Investoren. Sie wollen auch nicht mehr gemaßregelt werden von den schwankenden Moralvorstellungen westlicher Politiker, die nach zweierlei Maß messen und mit Sanktionen drangsalieren, wer nicht nach ihrer Pfeife tanzt. Die Menschen dieser Gesellschaften wollen ihr Leben nach ihren Bedürfnissen, Erfahrungen und Grundsätzen gestalten. Und für dieses Drängen scheint die Zeit gekommen.

Was will der Westen?

Nun ist es das eine, den Aufstieg von Mächten zu behindern, etwas anderes aber, selbst einen hoffnungsvollen Ausblick für die Weltgemeinschaft anbieten zu können. Das ist im Handeln des Westens nicht zu erkennen. Er kann den aufstrebenden Völkern der Welt nichts mehr anbieten, was deren Drängen nach einem besseren Leben gerecht wird. Da er für die Gestaltung der Zukunft keine Vorschläge hat, geht es ihm vornehmlich darum, den derzeitigen Zustand zu erhalten. Damit verliert er aber seine gestaltende Kraft. Das unterscheidet ihn von China und jenen Staaten, die sich Chinas Ideen und Angeboten zur Gestaltung der Zukunft anschließen. Und diese werden immer mehr.

In den aktuellen globalen Konflikten ist nicht erkennbar, worum es dem Westen geht außer der Behinderung eines Fortschritts, der nicht seinen Vorstellungen entspricht. Der von ihm beschworene Kampf zwischen Demokratie und Autokratie ist fadenscheinig. Während die westliche Wertegemeinschaft Russland und China bekämpft, weil sie sie als Gesellschaften sieht, die die Menschenrechte missachten, läuft er Staaten wie Saudi-Arabien, Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Aserbaidschan hinterher, um das Öl und Gas zu bekommen, das er von Russland aus politischen Gründen nicht mehr haben will.

Worin aber der Unterschied zwischen den von ihm Bekämpften und Umworbenen bestehen soll, kann nicht mehr dargestellt werden. Noch weniger kann begründet, wieso die einen weniger menschenverachtend sein sollen als die anderen. Während man China verurteilt wegen der Alleinherrschaft seiner kommunistischen Partei über die chinesische Gesellschaft, will man andererseits Vietnam als neuen bevorzugten Partner gewinnen für deutsche Investitionen und Lieferketten, obwohl dessen Gesellschaft ebenso von einer kommunistischen Partei geführt wird.

Durch dieses widersprüchliche Verhalten entsteht der Eindruck, dass die Meinungsmacher aus Politik und Medien selbst nicht mehr wissen, worum es ihnen in den Konflikten mit Russland und China geht. Die Konfrontation hat sich inzwischen so sehr verselbständigt, dass er Teil westlicher DNA geworden zu sein scheint. Erklärbar ist das alles nicht mehr. Und je weniger man das eigne Verhalten erklären kann, um so mehr wird das Thema zum Tabu.

Eine gesellschaftliche Debatte dazu findet kaum noch statt und wenn, dann in den eigenen Echokammern der Meinungsmacher auf der Ebene der Vermutungen, der unbewiesenen Behauptungen, der intellektuell schwachen und fadenscheinigen Rückschlüsse. Eine tiefer gehende, nach Erkenntnis suchende kontroverse Diskussion wird vermieden aus Angst vor einer schrecklichen Offenbarung: Die eigenen Sichtweisen sind mit der Wirklichkeit nicht mehr vereinbar. Sie sind dürftig und haben wenig Überzeugungskraft.

Ausweglos

So hat sich der Westen, hier besonders die Europäische Union (EU), durch dieses Tabu in eine schwierige Lage hineinmanövriert. Daraus scheint es derzeit keinen anderen Ausweg zu geben als der Zusammenbruch eines der am Konflikt beteiligten Lager: Russland auf der einen Seite und die Ukraine auf der anderen als Stellvertreter des westlichen Lagers. Weil viele im Westen die Meinung von Frau von der Leyen teilen, dass die Ukraine den Krieg gewinnen muss, scheint keine andere Lösung möglich, als dass eine der beiden Seiten kapituliert.

Diese kompromisslose Haltung klingt nach Endlösung und macht Verhandlungen nahezu unmöglich. Wer soll sie betreiben? Die westlichen Führungen bestehen weitgehend aus solchen Leuten, die sich dem Untergang Russlands verschrieben haben. Die Medien haben seit Monaten kein anderes Bild gezeichnet, als dass die Ukraine siegen wird, beziehungsweise siegen muss in unser aller Interesse. Scharfmacher im Kostüm idealistischer Wertemissionare beherrschen die westliche Politik. Und für diese gilt nur der Sieg ihrer ideologischen Prinzipien, koste es, was es wolle.

Etwas anderes als die Niederlage Russlands kommt für von der Leyen, Baerbock und die anderen grünen Eiferer nicht in Frage. Dafür ist die Konfrontation schon zu weit fortgeschritten. Man hat sich bereits zu weit aus dem Fenster gelehnt mit all den Prognosen über die Schwäche Russlands und die kraftvollen Wirkungen der eigenen Sanktionen. Wie soll man da zurückrudern?

Wer soll die Botschaft übermitteln, wenn es nun doch anders kommt? Wer tritt vor das Publikum und bekennt, dass die Wirklichkeit nun doch anders ist als die Erwartungen, die man bei den Gutgläubigen geweckt hat? Wie sollen die Medien ihren Konsumenten klar machen, dass sie den Menschen lange Zeit ein falsches Bild von der Wirklichkeit vermittelt haben, egal ob dies mit Absicht geschah oder aufgrund eigener Verblendung? Wie will man es begründen, dass man Tatsachen nicht sehen wollte, die nicht ins eigene Weltbild passten?

Wer soll den Menschen eingestehen, dass alle Opfer, die sie erbracht haben für die Ukraine und den vorgeblichen Kampf für unsere Freiheit für die Katz waren? Dass man wider besseres Wissen die Menschen durch nie gekannte Preissteigerungen in Not und Verzweiflung getrieben, Arbeitsplätze vernichtet und Existenzen zu Tausenden zerstört hat. All das geschah nur, um sich nicht der Erkenntnis zu stellen, dass die Sanktionen gegen Russland nicht die erdachte Wirkung zeigen.

Wer soll es den Menschen sagen, dass diese Politik auf Illusionen und Wunschdenken aufgebaut war, auf Uneinsichtigkeit, auf ideologischer Verblendung, Rechthaberei und Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen anderer? Und vor allem will sich niemand ausmalen, wie die Getäuschten auf diese Bekenntnisse reagieren. Die westlichen Meinungsmacher aus Politik und Medien haben sich besonders in der EU in eine ausweglose Lage manövriert.

Dagegen haben in den USA die Republikaner schon früh die Frage gestellt, ob die Unterstützung der Ukraine den eigenen Interessen diene. In den EU-Staaten dagegen gibt es keine bedeutende Kraft, die für eine andere Politik stehen könnte. Alle großen Parteien in Deutschland haben wie 1914 für die Aufrüstung der Bundeswehr gestimmt und hundert Milliarden abgenickt. Wer von diesen Hurra-Rufern soll mit Russland verhandeln, wenn erkennbar wird, dass nicht Russland sondern die Ukraine zusammenbricht?

Wer ist da, der von Anfang an einen anderen Umgang mit Russland gefordert hätte, so dass jetzt andere politische Akteure mit Vorschlägen zur Beilegung der Krise an Russland herantreten könnten? Da ist keine Partei, die eine andere Regierung bilden könnte, um einen Ausgleich mit Russland zu finden. Es bleibt also nichts anderes, als den Krieg bis zum bitteren Ende zu führen. Besonders bitter dürfte dieses Ende für die einfachen Menschen hierzulande und in der Ukraine werden, auf deren Rücken Russland vernichtet werden soll, wie von westlichen Politikern zu hören war. Und welcher Ausweg bleibt für Russland außer der Fortsetzung des Krieges angesichts solcher Drohungen und Aussichten?

Neue Ordnung

Der Krieg wird nicht ewig dauern, aber was kommt danach. Dabei geht es nicht nur um die Ukraine. Sie ist nur ein Symptom, eine Bruchstelle im Ordnungssystem der Welt, wie sie nach dem Ende des Kalten Krieges entstanden ist. Welche Ordnung will der Westen anstreben anstelle der alten, der seiner eigenen Vorherrschaft, und vor allem auf welcher Weltsicht soll sie entstehen?

Russland, China, der Iran und all die anderen vom Westen Sanktionierten haben ein klares Weltbild. Sie sehen die Entwicklung hin zu einer multipolaren Welt, in der nicht mehr der Westen und die USA als dessen Führungsmacht das Sagen haben. Diese Sicht scheint auch dem Gang der Dinge in der Welt zu entsprechen.

All diese Staaten, die über Jahre vom Westen durch Sanktionen drangsaliert wurden, wollen eine unabhängige und gleichberechtigte Entwicklung ihrer Gesellschaften und Wirtschaft nach ihren eigenen Maßstäben, ihren Werten und Grundsätzen, ihrem kulturellen und historischen Erbe, ohne Bevormundung und Drohungen durch den Westen. Für diese Wünsche scheint die Zeit gekommen, und sie scheinen nicht mehr aufzuhalten zu sein.

Denn die Kräfteverhältnisse in der Welt haben sich verändert. Russland ist so sehr erstarkt, dass es einer weiteren Ausdehnung des NATO-Gebiets militärisch entgegen tritt. China hat wirtschaftlich mit dem Westen gleichgezogen. Und die Sanktionierten der Welt sind zu einer solchen Macht geworden, dass sich Russland und China auf sie stützen können.

Daher rührt die Unerbittlichkeit des Westens gegenüber Russland und China. Er sieht in dieser sich abzeichnenden neuen Ordnung für sich selbst keinen Platz mehr. Sein Selbstbild einer überlegenen, weil auf Werten gegründeten Ordnung entspricht immer weniger der Realität. Aber sich ein neues Weltbild zu schaffen auf der Grundlage dieser Veränderungen, scheint außerhalb seiner Fähigkeiten zu liegen.

Dabei geht es eigentlich um nichts weiter außer dem Abschied von alten Glaubensätzen und den Vorstellungen besonders der USA, dass sie es sind, die Ordnung des Planeten bestimmen müssen. Aber selbst wenn die USA und die sogenannte westliche Wertegemeinschaft ihre vorherrschende Stellung auf der Erde verlieren, deshalb werden sie doch nicht untergehen. Beide werden weiterbestehen. Denn es geht noch nicht einmal wie zu Zeiten der Sowjetunion um die Entmachtung des Kapitalismus.

Die Menschen werden weiterhin in ihren Häusern leben können, ihrer Arbeit nachgehen, ihre Kinder in die Schule bringen und einkaufen gehen. Sie werden zu Tisch sitzen und gemeinsam essen. Sie werden abends fernsehen, sich mit Freunden treffen und am Wochenende Picknick machen. Am Alltag und Leben der Menschen ändert sich dadurch nichts, wenn der Westen nicht mehr das Sagen hat. Die Sonne wird weiterhin morgens aufgehen und abends unter.

Wie der chinesische Präsident Xi Jinping zu seinem Amtskollegen Biden so richtig sagte: „Die Welt ist groß genug für unsere zwei Länder.“ Darin liegt die Erkenntnis, dass keiner dem anderen etwas wegnimmt. Die Vorstellung, etwas zu verlieren, wenn der andere etwas gewinnt, ist ein Bild aus einer alten Welt. Die sich abzeichnende neue Ordnung gründet auf Zusammenarbeit zum Vorteil aller.



1  Siehe dazu Rüdiger Rauls: Kolonie, Konzern, Krieg – Stationen kapitalistischer Entwicklung.