„Stärker als alles bisher Dagewesene“ *

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Es spielt schon keine Rolle mehr, welche Seite eine Rakete auf das im israelisch besetzen Golan liegende drusische Dorf Madschad Schams abschoss, die am 28. Juli während eines Fußballspiels 12 Jugendliche tötete und 30 verletzte. Möglicherweise handelte es sich um einen Irrläufer. Jedenfalls diente der Vorfall zum Anlass für den nach Benjamin Netanjahus USA-Besuch vorhergesagten massiven Schlagabtausch zwischen Israel und den libanesischen Hisbollah-Milizen. Umgehend autorisierte Netanjahus Kriegskabinett die Israel Defense Forces (IDF) zu einem Vorgehen gegen die Hisbollah, das „stärker ist als alles bisher Dagewesene“. Noch ist unklar, ob es zum Krieg an der Nordfront kommt oder nur zum kalkulierten Hochfahren des ständigen Schlagabtauschs, der seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 stattfindet. Ist in der Nacht zum 31. Juli mit der Tötung des Hisbollah-Kommandeurs Fuad Schukr in einem Vorort von Beirut dem Vergeltungsdrang Genüge getan? Oder war das nur ein Anfang?

Ein größerer Krieg hätte eine ungleich stärkere Intensität als der Feldzug in Gaza. Die Hisbollah verfügt über eine viel höher entwickelte Waffentechnik als die Hamas. Sie soll 100 000 Kämpfer mobilisieren können und an die 150 000 Raketen horten, mit denen Ziele in ganz Israel erreichbar sind.

Auf beiden Seiten müsste nicht nur mit vielen toten und verletzten Zivilisten gerechnet werden, sondern auch mit etlichen Unwägbarkeiten. Neben Beschuss aus dem Libanon müsste Israel mit mehr Angriffen aus dem Jemen rechnen, womöglich sogar aus dem Irak und schlimmstenfalls auch aus dem Iran. Und das besonders seit der Tötung des Hamas-Führers Ismail Haniyeh in Teheran.

Basierend auf jahrhundertealten Verbindungen zwischen den schiitischen Bevölkerungen hat sich in diesen Ländern eine antiwestliche ´Achse des Widerstands` als Netzwerk formiert, das aus vielen einzelnen Zellen besteht, die sowohl autonom als auch koordiniert agieren können. Sie wurden nicht direkt vom Iran ausgerüstet, haben sich aber mit iranischem Know-how selbst eine effiziente moderne Bewaffnung geschaffen. Die Kampfkraft dieses Netzwerks ist nicht zu unterschätzen. Militärexperten meinen, dass die überlegene israelische Feuerkraft nur Teile der ´Achse des Widerstands` auslöschen kann, wegen der Asymmetrie der militärischen Formationen aber schwerlich einen entscheidenden Sieg erringen werde.

Einseitig verkürzt ist eine Sicht auf die Hisbollah, in ihr nur eine islamistische antisemitische Kraft zu sehen. Als politische Partei hat sie eine große Wählerschaft und ihre Milizen werden von vielen Libanesen als konsequentere Kraft der Verteidigung angesehen als die daneben existierende staatliche Armee. Nicht vergessen ist der israelische Feldzug gegen die im Libanon lebenden Palästinenser, der 1982 begann. Er gipfelte in den von christlichen Milizen – unter Billigung von Ariel Scharons IDF – vollführten Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila. Als sich die israelische Armee schließlich im Jahr 2000 aus dem Libanon zurückzog, hatte sie die politischen Verhältnisse nicht im gewünschten Sinne verändert. Die ehemals den Libanon regierenden Christen, die sich dem Westen zugehörig fühlten, verloren ihre Prioritäten, was die Position der bislang von den Machtpositionen ferngehaltenen Muslimen stärkte. Deshalb griff Israel den Libanon 2006 erneut mit schweren Bombardierungen an. Dass es zu keiner längeren Besetzung kam, wurde als Niederlage gewertet, verursacht durch die bereits unerwartet hohe Kampfkraft der Hisbollah.

Die USA als entscheidender Partner Israels haben sich klar gegen die drohende Eskalation positioniert. Aber Netanjahu steht unter dem Druck von mehr als 250 000 Menschen, die wegen der mit Beginn des Gazakriegs auch im Norden einsetzenden Kämpfe aus den grenznahen Gebieten evakuiert wurden. Viele mussten ihre berufliche Tätigkeit aufgeben, die meisten sind privat untergebracht und klagen über mangelnde staatliche Unterstützung. Aber eine sichere Rückkehr können sich die meisten, wenn überhaupt, nur nach einem kapitalen Schlag gegen die Hisbollah vorstellen.

Auch auf libanesischer Seite wurden zahlreiche Menschen evakuiert, die ebenfalls nichts mehr ersehnen, als in ihre Häuser zurückzukehren. Und die bislang noch nicht direkt von den Kämpfen betroffenen Libanesen leiden unter einer seit Jahren andauernden Wirtschaftskrise, die in das einst blühende Land viel Not gebracht hat.

Der Konflikt an Israels Nordfront erscheint ebenso schwer lösbar wie der mit der Hamas, aber bei weitem gefährlicher. Denn nie hat man etwas von Kontakten oder gar ´indirekten` Verhandlungen der Kampfparteien gehört. Und offenbar haben sich auch internationale Partner beider Seiten nicht als effiziente Vermittler betätigt. Sowohl amerikanische als auch französische Diplomaten dringen bislang nur bis zu einem lediglich ´designierten` libanesischen Ministerpräsidenten namens Najjib Miqati vor, der offensichtlich machtlos ist und kaum Einfluss auf die Hisbollah haben dürfte. Sichtbar wird, wie die westliche Gewalt- und Sanktionspolitik im Nahen Osten versagt hat. Es führt kein Weg daran vorbei, Israels Interessen auch mit dem Iran zu verhandeln. Da sich Netanjahu dazu nicht durchringen wird, wären hier westliche diplomatische Vorstöße von Nutzen. Aber auch die sind nicht in Sicht. Inzwischen ließen die USA Kriegsschiffe vor der libanesischen Küste auffahren.

Dieser Artikel erschien unter dem Titel Es wäre Wahnsinn. Israel. Ein Angriff auf die Hisbollah im Libanon würde den Gegenschlag der schiitischen Achse des Widerstandes auslösen in: Der Freitag no. 31 v. 31. Juli, S. 1.