Berlin und der Antisemitismus

Berlin und der Antisemitismus

BERLIN (Eigener Bericht) – Der Deutsche Bundestag plant eine Resolution gegen Antisemitismus und instrumentalisiert sie für repressive Maßnahmen gegen deutliche Kritik an der Politik der israelischen Regierung. Die Resolution, die noch in dieser Woche verabschiedet werden soll, gründet auf der wissenschaftlich umstrittenen IHRA-Definition, deren deutsche, bereits vor Jahren von der Bundesregierung verabschiedete Fassung in der Praxis die Diffamierung von Kritik an der Politik Israels als antisemitisch erlaubt. Wer Äußerungen tätigt, die nach dieser Definition als antisemitisch gewertet werden können, soll künftig keine staatlichen Fördermittel mehr erhalten, vom Schulunterricht ausgeschlossen und von Hochschulen exmatrikuliert werden können. Der Bundestag spricht sich zudem für Organisationsverbote aus, die nach Lage der Dinge auch jüdische Organisationen treffen könnten. Staatliche Stellen müssten die Kooperation mit Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International einstellen, die die israelische Regierungspolitik scharf attackieren. Gleichzeitig verweigert Berlin, das sich als Vorkämpfer gegen Antisemitismus in Szene zu setzen sucht, Nachfahren jüdischer NS-Opfer Entschädigung – bis heute.

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Antisemitische Kontinuitäten

Die Resolution des Deutschen Bundestags, die in dieser Woche im Schnelldurchlauf durchs Parlament gepeitscht werden soll, zielt, so heißt es, darauf ab, „den Antisemitismus in unserem Land wirksam und nachhaltig zu bekämpfen“.[1] Antisemitismus ist in der deutschen Mehrheitsgesellschaft in der Tat nach wie vor verbreitet. Das wäre womöglich in geringerem Maße der Fall, hätte die Bundesrepublik jemals einen klaren Trennstrich zu den alten NS-Antisemiten gezogen, die stattdessen in Westdeutschland auch nach 1945 in Amt und Würden blieben. „Die Funktionseliten der Hitler-Zeit“ hätten „das Projekt Bundesrepublik bis in die siebziger Jahre hinein entscheidend gestaltet“, hielt schon im Jahr 2001 der Historiker Norbert Frei im Resümee einer umfassenden Studie zu personellen Kontinuitäten in den bundesdeutschen Führungspositionen fest.[2] Das galt sogar auf den obersten staatlichen Ebenen; so brachte es etwa das NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger in den Jahren vor 1945 bis zum Posten des Leiters der Rundfunkpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt, im Jahr 1966 dann – inzwischen CDU-Mitglied –bis zum Bundeskanzler. Ein ehrendes Porträt Kiesingers hängt bis heute vollkommen selbstverständlich in der Kanzlergalerie im ersten Stock des Berliner Kanzleramts.[3]

Kritik unter Verdacht

Wurden Gelegenheiten, auf politischer und auf gesellschaftlicher Ebene konsequent gegen Antisemitismus vorzugehen, in der Bundesrepublik jahrzehntelang ignoriert, wenn nicht gar offen konterkariert, so dringt der Deutsche Bundestag nun auf ein Vorgehen gegen Antisemitismus in hohem Maße mit Mitteln der Repression. Dabei bezieht er sich exklusiv auf die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA).[4] Diese ist wissenschaftlich umstritten; unter anderem wird ihr eine fehlende Trennschärfe attestiert. Dennoch hat die Bundesregierung sie im September 2017 offiziell anerkannt [5] und damit zur Arbeitsgrundlage nicht zuletzt für Bundesbehörden, speziell auch für die Bundeszentrale für politische Bildung und insbesondere für Gedenkstätten und Geschichtsmuseen gemacht. Dies ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil damit staatliche Stellen abweichende wissenschaftliche Positionen ausgrenzen – ein Vorgang, der mit der Wissenschaftsfreiheit kaum zu vereinbaren ist –, sondern auch, weil die Bundesregierung der Definition den Satz angefügt hat: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“[6] Im gelebten politischen Alltag wird mit der Formulierung zur Zeit fast jede kritische Äußerung gegenüber Israel tendenziell des Antisemitismus verdächtigt.

Ausschluss und Verbot

Insofern wiegen die Forderungen, die der Bundestag in seinem Resolutionsentwurf erhebt, schwer. So heißt es etwa, es dürften „keine Organisationen und Projekte finanziell gefördert werden, die Antisemitismus verbreiten“.[7] In der konkreten Praxis kann damit jeder Zusammenschluss, der scharfe Kritik an der Politik des Staates Israel übt, von der Vergabe staatlicher Mittel ausgeschlossen werden; dies gilt auch für wissenschaftliche Vorhaben und Projekte aus dem weiten Feld von Kunst und Kultur. Schulen und Hochschulen sollen hart gegen antisemitische Vorfälle vorgehen und dazu nicht nur das Hausrecht anwenden, sondern auch zum prinzipiellen Ausschluss vom Unterricht beziehungsweise – an Hochschulen – zur Exmatrikulation greifen. Auch dazu kann – auf der Basis der IHRA-Definition und vor allem ihrer erweiterten deutschen Fassung – entschiedene Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung ausreichen. Dies gilt ebenso für die Ankündigung, das Verbot von Organisationen zu erwägen; so soll insbesondere „ein Betätigungsverbot oder ein Organisationsverbot von BDS in Deutschland geprüft“ werden.[8] BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) ist eine internationale Kampagne, die zu Boykotten gegen Israel aufruft, um dessen Regierung zur Einhaltung internationalen Rechts zu veranlassen.

Besondere Diskriminierung von Migranten

Nicht zuletzt sollen repressive Maßnahmen in Sachen Antisemitismus künftig auch in das Aufenthalts-, das Asyl- sowie das Staatsangehörigkeitsrecht integriert werden. Dies sei nötig, befindet der Bundestag, weil in jüngster Zeit „das erschreckende Ausmaß eines Antisemitismus deutlich geworden“ sei, „der auf Zuwanderung aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens basiert“.[9] Wieso es nicht genügen soll, Personen arabischer Herkunft – auf sie zielt die Formulierung faktisch – nach denselben Kriterien des in Deutschland gültigen Rechts zu behandeln wie Personen deutscher Abstammung, erläutert der Bundestag nicht. Die Drohung mit aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen gegen Personen aus der arabischen Welt, die gegen die IHRA-Definition mit ihrer deutschen Ergänzung verstoßen, läuft auf eine zusätzliche Diskriminierung von Migranten hinaus.

Die Folgen

Die Folgen reichen weit. So müsste die Bundesrepublik bei einer Umsetzung der Resolution des Bundestags in konkrete Gesetze etwa den Verleger der israelischen Tageszeitung Haaretz, Amos Schocken, boykottieren. Schocken hat kürzlich auf einer Konferenz in London erklärt, er halte die Politik der israelischen Regierung für so fatal, dass er kein anderes Mittel mehr gegen sie sehe als die Verhängung internationaler Sanktionen, ähnlich wie im Fall Südafrikas während der Apartheid.[10] Sollten Bürger Israels, die in Deutschland leben, dem Haaretz-Herausgeber öffentlich zustimmen, dann machten sie sich womöglich eines Verstoßes gegen die erweiterte deutsche Version der IHRA-Definition schuldig und wären gegebenenfalls von aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen, sprich: Abschiebung, bedroht. Sollten in Deutschland ansässige jüdische Vereinigungen sich der BDS-Kampagne anschließen – es gibt solche, die die Kampagne in der Vergangenheit unterstützten –, dann könnte es in der Bundesrepublik zum ersten Mal seit 1945 zum Verbot einer jüdischen Organisation kommen. Jegliche Kooperation staatlicher Stellen mit Amnesty International oder Human Rights Watch verböte sich: Die Menschenrechtsorganisationen stufen die Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung in Israel und im Westjordanland als Apartheid ein.[11]

Nur Deutschland entschädigt nicht

All dies droht, während Berlin den überlebenden Nachfahren jüdischer NS-Opfer nach wie vor jede Entschädigung verweigert. Ein aktuelles Beispiel ist die Weigerung der Deutschen Bahn, Entschädigung für die Deportation von Jüdinnen und Juden in die NS-Vernichtungslager zu leisten. Die Nederlandse Spoorwegen (NS) und die Société nationale des chemins de fer français (SNCF) haben für ihre Beteiligung an den Deportationen inzwischen wenigstens symbolische Beträge an die Nachkommen der Opfer gezahlt. Die Deutsche Bahn, deren Alleineigentümer – die Bundesrepublik – sich nun als Vorkämpferin gegen Antisemitismus in Szene setzt, zahlt für die antisemitischen Massenverbrechen ihrer Rechtsvorgängerin, der Reichsbahn, bis heute: Nichts.[12]

„Die Macht der Juden“

Dass der Bundestag mit seiner neuen Resolution faktisch die israelische Regierungspolitik gegen Kritik immunisieren wird, stärkt das geostrategisch motivierte Bündnis mit Israel [13], für das in den 1950er Jahren der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer die Grundlagen schuf (german-foreign-policy.com berichtete [14]). Adenauer äußerte am 4. Januar 1965 in einer Fernsehsendung: „Die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen.“ Dies sei der Grund dafür, dass er „sehr bewusst“ seine „ganze Kraft daran gesetzt“ habe, „eine Versöhnung herbeizuführen zwischen dem jüdischen Volk und dem deutschen Volk“.[15] Der Verweis auf eine diffuse „Macht der Juden“ gilt nicht nur nach der IHRA-Definition als antisemitischer Code. Adenauer wird in Deutschland bis heute als prägender Gründungskanzler der Bundesrepublik geehrt.

 

[1] Christoph Schult: Ampel und Union einigen sich auf Resolution gegen Antisemitismus. spiegel.de 01.11.2024.

[2] Norbert Frei: Hitlers Eliten nach 1945 – eine Bilanz. In: Norbert Frei (Hg.): Hitlers Eliten nach 1945. Frankfurt am Main 2001.

[3] Kanzlergalerie. bundeskanzler.de.

[4] Die Definition lautet in deutscher Übersetzung: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Die Bundesregierung hat angefügt: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“ Zitiert nach: IHRA-Definition. antisemitismusbeauftragter.de.

[5] Bundesregierung billigt neue Antisemitismus-Definition. faz.net 20.09.2017.

[6] IHRA-Definition. antisemitismusbeauftragter.de.

[7], [8], [9] Christoph Schult: Ampel und Union einigen sich auf Resolution gegen Antisemitismus. spiegel.de 01.11.2024.

[10] Patrick Wintour: London conference hears UK and Israeli criticism of conduct of Gaza war. theguardian.com 28.10.2024.

[11] Vgl. etwa: Human Rights Watch: A Threshold Crossed. Israeli Autorities and the Crimes of Apartheid and Persecution. hrw.org 27.04.2021. Amnesty International: Israel’s apartheid against Palestinians: a cruel system of domination and a crime against humanity. amnesty.org 01.02.2022.

[12] S. dazu Nur Deutschland entschädigt nicht.

[13] S. dazu „Im nationalen Interesse Deutschlands“.

[14] S. dazu „Im nationalen Interesse Deutschlands“ (II).

[15] Günter Gaus im Gespräch mit Konrad Adenauer. Sendung vom 04.01.1966 (ZDF). rbb-online.de.


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