Buchvorstellung - „Die Niederlage des Siegers“

Buchvorstellung - „Die Niederlage des Siegers“
Personen: 

Jacques Baud ist ein ehemaliger Analyst des Schweizer Strategischen Nachrichtendienstes für die Warschauer-Pakt-Staaten und später war er leitend mit OSZE- UNO- und NATO-Missionen betraut. Auf Grund seiner Erfahrungen und Kontakte filtert und interpretiert er Informationen aus dem globalen Nachrichtendschungel, die den gängigen militärpolitischen Narrativen widersprechen. Deshalb taucht er in den öffentlich-rechtlichen und den Mainstream-Medien Europas nicht auf. Auf mehreren digitalen Plattformen im französischen und englischen Sprachraum, kommentiert Baud dagegen wöchentlich die aktuelle Lage in der Ukraine und im Konflikt Israels mit den Palästinensern, mit dem Libanon, Syrien und dem Iran. Seine Einschätzungen verbindet er mit ihren historischen und politischen Kontexten, deren Bewertungsrahmen das Primat der Politik und das Völkerrecht ist. Auf deutsch ist er hin und wieder auf den Plattformen des Westend Verlags in Frankfurt am Main zu sehen, der zwei seiner Bücher edierte.

Als Militärexperte fordert Baud, dass der Westen zur Haltung während des Kalten Krieges zurückfindet. Damals sei die Politik nicht von medial in Ungeheuerliche gesteigerten Wunschvorstellungen ausgegangen, sondern von fachlichen Einschätzungen der eigenen und der gegnerischen Kräfte, weshalb es zu respektvollem Umgang der Kontrahenten kam und Schlimmstes verhindert wurde. Das habe sich geändert, führte zu militärisch und politisch gleichermaßen desaströsen Misserfolgen und schuf eine immer bedrohlichere Sicherheitslage. Auch in der Schweiz hätte dieser Wandel vom sachlichen zum Wunschdenken stattgefunden, weshalb das Land seine einst hochgeschätzte Vermittlerfunktion in internationalen Konflikten verlieren könne. Nicht von ungefähr polemisiert er gegen den von Politikern gebrauchten Begriff der „regelbasierten Ordnung“, der – das kann man sogar in Wikipedia nachlesen – keine globalen Prinzipien, sondern selbst innerhalb der westlichen Welt unterschiedliche Bedeutungen hat. Die Mehrheit der Staaten fordere eine „rechtebasierte Ordnung“, die auf nichts anderem als dem niedergelegten Völkerrecht fußt.

Hier soll es um weitgehend unbekannte, aber wichtige Motive in Bauds 2024 erschienenem Buch ´Die Niederlage des Siegers. Der Hamas-Angriff – Hintergründe und Folgen` gehen. Der Titel spricht eine trotz militärischer Überlegenheit unausweichliche moralische Niederlage Israels an. Zu verantworten haben das seine politischen Klassen, weil sie Israels Existenzrecht seit der Staatsgründung nur mit militärischen Mitteln durchsetzen wollten und nie versuchten, die „Nachbarn vom Mehrwert zu überzeugen, den es für die Region haben könnte“. Auch spreche „der offizielle israelische Diskurs eher von der biblischen Tradition als vom internationalen Recht“, was ihn „unvermeidlich angreifbar“ mache. (15) In der historischen Einleitung erfährt man, dass die als Folge des Holocaust 1947 zustande gekommene UNO-Resolution 181 einen Teilungsplan nur vorschlagen konnte. Denn laut Charta muss jede Grenz- und Hoheitsveränderung eines Territoriums das Selbstbestimmungsrecht der Völker wahren; weshalb im englischen Mandatsgebiet Palästina Volksbefragungen geboten waren. Während die arabische Seite eher einen Staat für Araber und Juden bevorzugte, wollte die jüdische Seite zwei Staaten. Da Juden damals aber stark in der Minderheit waren, wären Volksbefragungen in beiden Varianten wohl „zum Vorteil der Araber ausgegangen. Deshalb verwirft die jüdische Bevölkerung diese Lösung zugunsten einer Militäraktion, um Gebiete zu besetzen“. (27)

Das 1948 mit der Vertreibung von 750 000 Palästinensern Erreichte entsprach noch lange nicht den Zielen der radikalsten Zionisten und ihrer Terrororganisationen, die seit den dreißiger Jahren sowohl aufständische Araber als auch die Mandatsmacht bekämpft hatten. Das – auch auf Wikipedia einsehbare – damalige Emblem der aus der Hagana hervorgegangenen Terrororganisation Irgun zeigt ein Groß-Israel, das nicht nur den heutigen Staat mit den 1967 besetzten Gebieten umfasst, sondern auch Jordanien. Das erkläre, weshalb Israel als einziger Staat der UNO bislang seine Grenzen nicht definiere und weshalb palästinensische Bewegungen Israel bislang nicht anerkannten, weil das de facto einen Verzicht auf palästinensische Gebiete bedeute. (17) Medien stellen den Konflikt oft als religiösen und daher nicht verhandelbar hin, insbesondere nicht mit der als extrem islamistisch erklärten Hamas. Deren wichtigste Dokumente erklären ihn jedoch zum Territorialkonflikt. Im Jahr 2000 sagte der 2004 von einer israelischen Rakete gezielt ermordete Hamas-Gründer Scheich Yasin einer Schweizer Journalistin: „Der Konflikt ist nicht religiös. Wir respektieren alle Religionen und haben gute Beziehungen zu allen Religionen. Die Frage, um die es geht, ist ein Angriff. Es gibt einen Angreifer, der uns angegriffen und ins Exil getrieben hat, der unsere Häuser und unser Land weggenommen hat. Wir müssen Widerstand leisten, und wir müssen unsere Rechte zurückgewinnen.“ (125)

Artikel 16 der medial kaum zitierten Charta der Hamas von 2017 bekräftigt, dass ihr Kampf „das zionistische Projekt betrifft und nicht die Juden aufgrund ihrer Religion. Die Hamas führt keinen Krieg gegen die Juden, weil sie Juden sind, sondern sie führt einen Krieg gegen die Zionisten, die Palästina besetzen. Es sind vielmehr die Zionisten, die ständig Juden und Judentum mit ihrem eigenen kolonialen Projekt und ihrem illegalen Staatsgebilde gleichsetzen.“ (123) Hier verwahrt man sich also gegen die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus, die, so Baud, derselben falschen Logik folge wie die Gleichsetzung von Islam und Islamismus.(ebd.)

Mit anderem Akzent als Israel, nämlich ausgehend von dem für das ehemalige Mandatsgebiet gefassten Selbstbestimmungsbeschluss der UNO, fordert die Hamas die Souveränität über das gesamte Gebiet zwischen Mittelmeer und Jordan. Baud behauptet, ihre Führer hätten jedoch oft deutlich gemacht, „dass eine palästinensische Unabhängigkeit in den Grenzen von 1967 (im Grunde die Waffenstillstandslinie von 1949 oder die ´Grüne Linie`) als Grundlage für Verhandlungen hinnehmbar sei. Dies legt nahe, dass die Hamas keine Vernichtung Israels anstrebt“. Khaled Maschal, der 1996 bis 2017 das Politbüro der Hamas leitete, sagte am 3. Mai 2006 der Agentur Reuters: „Wenn Israel sich auf die Grenzen von 1967 zurückzieht, einschließlich Jerusalem, wenn es das Rückkehrrecht anerkennt, seine Blockade aufhebt, die Siedlungen in den besetzten Gebieten räumt und die Häftlinge freilässt, dann ist es für uns Palästinenser und Araber möglich, einen ernsthaften Schritt auf die Zionisten zuzugehen.“ (125) Maschal, der 1997 einen israelischen Attentatsversuch überlebte, soll nach dem Tod von Yahia Sinwar zum aktuellen Interimsführer der Hamas ernannt worden sein. (Wikipedia 28. 11. 2024)

Dass israelische Regierungen versuchten, auch moderate palästinensische Politiker zu liquidieren, deutet darauf, dass sie es sind, die keinen Ausgleich wollen. Das gehöre, so Baud, zur Vorgeschichte des 7. Oktober 2023. Terrorismus entstehe, wenn alle Wege zu politischen Lösungen verbaut werden. Um Terror zu beseitigen, reiche Gewalt nicht aus. Es brauche auch neue politische Perspektiven für alle am Konflikt Beteiligten. Medial wird gern unter den Tisch gekehrt, dass Benjamin Netanjahu, der lange kaum Bindung an die Religion zeigte, sie neuerdings instrumentalisiert. Den Namen der aktuellen Militäroperation in Gaza wandelte er von „Eiserne Schwerter“ in den biblischen Namen „Genesis“ um. Und am 29. Oktober 2023 beschwor er seine Verteidigungskräfte: „Ihr müsst euch in Erinnerung rufen, was Amalek euch angetan hat, sagt unsere Heilige Bibel im ersten Buch Samuel, Kapitel 15,3: ´Darum zieh jetzt in den Kampf und schlag Amalek! Weihe alles, was ihm gehört, dem Untergang! Schone es nicht, sondern töte Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge, Kinder und Schafe, Kamele und Esel!`“(124)

Wie Amerikaner und Europäer, die die eigenen Kräfte auf dem Weg in den Ukraine-Krieg stark überschätzten, sei Israel mit falschem Sicherheitsgefühl in den Konflikt mit der Hamas hineingeschlittert. Obwohl es den Gazastreifen angeblich komplett überwachte, seien die militärischen Fähigkeiten der Hamas stark unterschätzt worden. 2018 konnte ihr Nachrichtendienst die Verschlüsselungsalgorithmen von Übertragungsgeräten knacken, die einem bis Chan Yunis vorgedrungenen israelischen Spezialkommando abgenommen worden waren. So bekam die Hamas Informationen über die Arbeitsweise der Einheiten, die den Gazastreifen überwachten. Die Kenntnis der israelischen Kommunikationscodes ermöglichte es ihr, eigene Übertragungswege zu wählen, die die Israelis nicht entschlüsseln konnten, was ihnen offenbar bis heute nicht vollständig gelingt. Die 2018 von der Hamas erlangten Informationen betrafen auch die Militärbasen im Gürtel um Gaza, die sie überrumpeln konnte und wo sie sich weitere Informationsträger beschaffte. (107f) Baud liefert auch Erkenntnisse über das multifunktionale Tunnelsystem der Hamas, das Kampfformen ermöglicht, auf die sich die israelische Armee nicht vorbereitet hatte. Das System hat mehrere Etagen, viele Verzweigungen und ist in hermetisch verschließbare Abschnitte unterteilt, weshalb es nicht geflutet werden kann. Es gibt auch Tunnel mit unter den Häusern liegenden Einstiegen, durch die die Zivilbevölkerung in Deckung gehen oder fliehen kann. (268f, 283, 326) Auch sei die mit Panzern vorrückende israelische Armee nicht auf einen Guerillakampf in engen Straßen oder zwischen Trümmerbergen vorbereitet worden. Ausgehend von der relativ leichten Bewaffnung der Hamaskämpfer und medial unbeachtet gebliebenen Kommuniqués israelischer Militär- und Polizeikräfte, vermittelt das Buch etliche Aspekte des Terrorangriffs vom 7. Oktober und der darauf folgenden Geschehnisse, die von gängigen Narrativen abweichen.

Hier konnte nur auf einige wenige Aspekte des Buchs eingegangen werden. Es gibt auch einen umfassend belegten aktuellen und historischen Überblick über den Konflikt Israels mit den Palästinensern und den Nachbarstaaten Jordanien, Syrien, Libanon, Iran. Darüber hinaus behandelt Baud auch viele aus dem Nahostkonflikt entspringende völkerrechtliche Fragen.

Jacques Baud: Die Niederlage des Siegers. Der Hamas-Angriff – Hintergründe und Folgen, Westend Verlag 2024.